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Tristan Leoni - Kalifat und Barbarei

Dienstag 24. Mai 2016

Erster Teil: Vom Staat

Zweiter Teil: Von der Utopie

Dritter Teil: Warten auf Raqqa

Vierter Teil: Der Endkampf?

Die Araber waren als Söldner oder als Hilfstruppen die unerläßliche Stütze der großen Reiche. Man kaufte ihre Mitwirkung, man fürchtete ihre Erhebungen, man spielte ihre Stämme gegeneinander aus. Warum sollten sie ihren Wert nicht zu ihrem eigenen Vorteil nutzen? Um dies zu erreichen, bedurfte es eines mächtigen Staates, der Arabien zu einen vermochte. Ein solcher Staat konnte die erworbenen Reichtümer und den Handel in Schutz nehmen und die Habgier der besonders mittellosen Beduinen nach außen ablenken, anstatt sie die Handelstätigkeit der Araber selber hindern zu lassen. Die südarabischen Staaten, die den Nomaden gegenüber zu kolonialistisch waren und sich trotz ihrer fernen Verwandtschaft zu wenig um die Beduinen kümmerten, hatten in dieser Mission versagt.
Das große Bedürfnis der Epoche bestand in einem arabischen Staate, der von einer arabischen Ideologie geleitet und den neuen Verhältnissen angepaßt war, der jedoch dem Milieu der Beduinen, denen er ihren Platz einräumen mußte, noch nahe genug stand, einem Staate, der eine mit den großen Reichen gleichrangige und gleichermaßen geachtete Macht bildete. Die Wege waren für den genialen Mann geebnet, der es besser als irgendein anderer verstand, diesem Bedürfnis zu entsprechen. Bald sollte dieser Mann zur Welt kommen.
 
Maxime Rodinson, Mohammed, 1975 (1961), S. 44-45.

Anmerkung: Dieser Artikel war daran, geschrieben zu werden, als es zu den Angriffen am 13. November 2015 in Paris kam. Er ist also kein Positionsbezug von DDT21 zu diesen Ereignissen. Doch er könnte es sein.

Die Geburt eines Staates ist weder gängig, noch rührend. Und der Frühgeborene, der Proto-Staat ist, obwohl sehr zerbrechlich, schon schädlich.
Mit der gegenwärtigen Restrukturierung des Nahen Ostens erleben wir die Konstitution von neuen Einheiten, die bekanntesten davon sind der Islamische Staat (IS) und Rojava (Westkurdistan). Letztere sei als Musterbeispiel der Demokratie und des Feminismus ein Schutzwall gegen die Barbarei ersterer. Denn der Islamische Staat ist ein Monster, die Bilder beweisen es. Alles beweist es. Man müsste ihn übrigens Daesch [1] nennen, denn er habe die „noble“ Bezeichnung Staat nicht verdient und habe „nichts“ mit dem Islam „zu tun“. Die Erklärung sollte reichen. Sie genügt jedoch nicht, um zu verstehen, wieso und wie 8 bis 10 Millionen Leute seit Monaten in einem Territorium leben, das mit dem Rest des Planeten im Krieg steht. Die Tage des Kalifats sind wahrscheinlich gezählt, doch die Frage bleibt: Wieso funktioniert es?

Alle Blicke sind auf den IS gerichtet, doch sein Bild ist vernebelt. Der Abglanz, welcher uns via Medien erreicht, ist jener eines Jahrmarkts der Grausamkeiten, die sorgfältig in Szene gesetzt werden, oder Episoden des Krieges, die von obskuren politisch-militärischen Interessen abhängen, z.B. die Schlacht von Kobanê. Aber unter den „Rebellengruppen“, die während dem irakisch-syrischen Konflikt entstanden sind, ist der IS die einzige, welche versucht, eine Art staatliche Struktur aufzubauen und sich auf ein strukturiertes und ambitiöses politisches Projekt stützt [2]: den Wiederaufbau des 1258 verschwunden Kalifats, der eine Kritik der Welt, ihrer Funktionsweise, des Westens, der Demokratie, des Nationalismus usw. impliziert. Bedeutet das, dass es eine Kritik des Kapitalismus ist? Sicher nicht, eher jene einiger seiner Übel und Exzesse, jene, welche das freie und harmonische Funktionieren einer erträumten Kalifatsgesellschaft beeinträchtigen – und v.a. ihrer Wirtschaft.

Erster Teil: Vom Staat

„Das beste wär so’n autoritärer Herrscher, der ganz gut ist und ganz lieb und ordentlich.“
Lilo Pempeit zu ihrem Sohn Rainer Werner, 1977.

Wir werden nicht auf die jahrhundertealten Ursprünge und die Künstlichkeit der Staaten und Grenzen der Region zurückkommen und auch nicht auf die Aufstände 2011, die in Syrien und Irak einem Bürgerkrieg und dann, ziemlich schnell, einer militärischen Konfrontation Platz gemacht haben, die mehrere Lager hat und eine Unzahl an lokalen und internationalen Akteuren mit allerseits wechselnden Strategien und Bündnissen zusammenbringt.

Die Genealogie des IS, der anfangs die irakische Sektion der Al Qaida war und nun autonom geworden ist, ist ebenfalls höchst komplex [3], doch bevor seine Truppen eine Reihe an überraschenden Siegen während dem Sommer 2014 feiern konnten, interessierte sie kaum jemanden.

Die militärische Frage

Der IS war am Anfang nur eine der Widerstandsgruppen gegen die amerikanische Besatzung im Irak (und somit eine terroristische Gruppe); doch ab 2009 profitiert er vom Anschluss von Tausenden sunnitischer Kämpfer von Milizen und von Hunderten ehemaligen Offizieren der irakischen Armee [4].

Der militärisch sehr effiziente IS ist von einem beträchtlichen Teil der sunnitischen Bevölkerung des Iraks als „Befreiungsarmee“ wahrgenommen und als solche gefeiert worden [5] und viele Stammesführer haben sich entschieden, ihm Treue zu schwören. Das erklärt, weshalb etliche Orte so leicht in seine Hände gefallen sind (z.B. Mosul) und weshalb die (schiitischen) Truppen Bagdads in diesen Regionen nur wenig Widerstand geleistet haben.

Der IS hat sich auch ein bedeutendes Arsenal angeeignet, das ihm ab 2013 dazu dient, sich in Syrien auszubreiten; in diesem Land werden die Orte dank heftigen Kämpfen gegen andere islamistische Gruppen oder dank dem Anschluss derselben erobert. Im allgemeinen Chaos bringen ihm seine logistischen und Herrschaftskompetenzen eine gewisse Popularität in der Bevölkerung. Erst in einer zweiten Phase lanciert er Offensiven gegen Rojava und das Regime von Damaskus.

Es ist bemerkenswert, dass der IS sehr um das Überleben seiner Kämpfer besorgt scheint und nicht zögert, falls notwendig Positionen aufzugeben (die Frage der Selbstmordattentate ist etwas anderes). Diese Armee zähle gemäss Schätzungen zwischen 30’000 und 100’000 Männer: viele ehemalige irakische Kämpfer von Milizen, Araber und Kurden und mindestens 20’000 ausländische Freiwillige. Ihr Sold wird regelmässig ausgezahlt, was Plünderungen, Diebstähle und Erpressungen beschränkt, die andere Rebellengruppen gewohnheitsmässig betreiben.

Der blutrünstige und gnadenlose Ruf seiner Truppen wird bewusst gepflegt; da er die Genfer Konvention nicht unterzeichnet hat, respektiert der IS überhaupt keine „Regel“ des Krieges, allen voran gegen jene, welche er als ungläubig oder abtrünnig betrachtet. Seine Gegner erlangen, unabhängig von ihren Machenschaften, eine Aura der Achtbarkeit.

Die Verwaltung eines Territoriums

Die Wiederherstellung des Kalifats unter dem Namen Islamischer Staat ist am 29. Juni 2014 in der Nuri-Grossmoschee von Mosul verkündet worden. Die Debatte über den Begriff „Staat“ hat seither nie aufgehört [6].

Wenn das Wort ein begrenztes Territorium beschreibt, innerhalb welchem eine souveräne Autorität ihre Gesetze gegen eine fixe Bevölkerung durchsetzt, über eine Armee und eine Wirtschaft verfügt, so ähnelt der IS eher einem Staat, denn gewisse heute (mehr oder weniger) international anerkannte Einheiten (Liberia, Somalia, Jemen, Vatikan, Luxemburg, Libyen, Südsudan usw.), und nur beschränkt einer terroristischen Gruppe.

Nur die Instabilität seiner Grenzen widerspricht dem westlichen Staatsmodell, doch der Krieg ist nicht der einzige Grund dafür:

„Kann das Wort ’Dawla’, das gewöhnlich auf Arabisch für ’Staat’ benutzt wird und Teil der Abkürzung ’Daesch’ ist, präzis mit ’Staat’ übersetzt werden? In der Geschichte der arabischen und muslimischen Welt beschreibt dieses Wort in der Tat Regierungsformen, die nicht viel mit der westlichen Geschichte des Wortes Staat zu tun haben. Es verweist auf die Ideen von ’Statik’, Territorialität, Grenze, Souveränität, Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen, kurz auf ganz andere Dinge als das, was in der Geschichte der muslimischen Welt geschehen ist.“ (Bernard Badie) [7]

Zur Frage der Form hat der IS schon Stellung bezogen:

„Jene, welche Pässe, Grenzen, Botschaften und Diplomatie wollen, haben nicht verstanden, dass die Anhänger der Religion von Ibrâhîm […] nicht an diese heidnischen Götzen glauben und sie als Feinde betrachten. […] Wir wollen den Staat des Propheten wieder aufbauen und jenen der vier rechtgeleiteten Kalifen; und nicht den Nationalstaat von Robespierre, Napoleon oder Ernest Renan.“ (Dar al-Islam) [8]

Der IS verwaltet ein Territorium von 300’000 km², das von 8 bis 10 Millionen Einwohnern bevölkert ist. Er hat sofort Institutionen im kontrollierten Territorium aufgebaut (oder sie verändert). Sie sind rund um eine reduzierte Zentralverwaltung (sieben Ministerien neben dem Kalifen), einem Kriegsrat und sieben von einer Schura assistierten Provinzgouverneuren strukturiert.

Die beiden grossen Zonen (Syrien und Irak) verfügen über eine konsultative Versammlung, die aus Imamen, Predigern, den Notabeln der Städte und den Anführern der Stämme bestehen, wo nicht alle Stimmen das gleiche Gewicht haben, jedoch der Konsens gesucht wird. Die Demokratie als westliche und „götzendienerische“ Erfindung wird abgelehnt und legislative Gewalt ist nutzlos: Die Scharia reicht.

Raqqa (200’000 Einwohner) ist de facto die Verwaltungshauptstadt, Mosul (2.5 Millionen Einwohner) die religiöse Hauptstadt.

Wenn er ein Territorium erobert, gibt der IS die Macht lokalen Akteuren zurück (oder lässt sie ihm Amt, wenn er ihnen vertraut): Stammesführer, Quartierchefs, unter der Bedingung, dass sie dem IS ausschliessliche Treue schwören, keine anderen Embleme als jenes des IS tolerieren und seine sittlichen Benimmregeln respektieren.

Die Tatsache, dass die Regierung des Kalifats sich brutal durch Gewalt und Willkür durchsetzt, ist gewiss kein Grund, ihr den Namen Staat abzusprechen, ganz im Gegenteil.

Aussergewöhnliche Repression – und gewöhnliche

In einer Region, die in dieser Hinsicht ziemlich gut bedient ist [9], ist der IS eines der repressivsten Regime, doch es ist v.a. das einzige, das eine derartige Schaufensterauslage seiner „Grausamkeiten“ macht. Für westliche Gesellschaften, die eine Entbrutalisierung [10] erlebt haben, kann das nur das Werk von „Barbaren“ sein, d.h. sie sprechen nicht „unsere“ Sprache.

In den Gebieten, die er kontrolliert, baut der IS jedoch eine Art Rechtsstaat wieder auf und „erfüllt“ somit „die Erwartungen der lokalen Akteure“ [11]. Im Irak hat er die schiitischen Truppen verjagt, die von der Bevölkerung als verabscheuenswerte Besatzungsarmee betrachtet wurden, eine check point army, deren Präsenz nur Übergriffe, Gewalt, Vergewaltigungen, Erpressung, verallgemeinerte Korruption und Unsicherheit zur Folge hatte [12]. In einer Stadt wie Mosul, wo das Schmiergeld und der Klientelismus regierten, waren die ersten, höchst symbolischen, wenig aufwändigen und sehr mediatisierten Massnahmen des neuen Regimes die Entlassung und öffentliche Hinrichtung der Korrupten. Die Einwohner stellen fest, dass „die Lage eindeutig besser ist als vorher, als es nicht mehr auszuhalten war“ [13].

Wenn in Mosul die Ordnung herrscht, so ist das auch wegen einer gnadenlosen Repression. Aber sie ist weit davon entfernt, von einem tödlichen, unkontrollierten Wahnsinn diktiert zu sein, sie richtet sich nach kalten Staats- und Verwaltungslogiken und findet in einer wörtlichen Interpretation des Korans und der Hadithe (Handlungen und Worte des Propheten) ihre Legitimität. Diese scheussliche, übermediatisierte Repression lässt sich in drei Kategorien einteilen:

1) Politisch-medial

Es handelt sich um Hinrichtungen von Geiseln, die von den Medien des Kalifats in Szene gesetzt werden, um die Abendländer zu schockieren. Sie nehmen einen prominenten Platz in den westlichen Medien ein [14].

2) „Kriegsverbrechen“

Es handelt sich um ebenfalls sehr mediatisierte Massaker, die vom IS in den Stunden und Tagen nach der Eroberung einer Stadt oder eines neuen Territoriums begangen werden. Neben den Hinrichtungen von Anhängern oder Schergen von anderen Regimen, oder sogar von demokratischen Aktivisten, die allen vorhergehenden Gruppen entkommen sind, kann die neue Kalifatsverwaltung die noch präsenten religiösen Minderheiten nicht übersehen [15]:

Die Leute des Buches (die Christen) haben drei Möglichkeiten: Bekehrung, Status als dhimmi (Bürger zweiter Klasse, aber geschützt) oder Exil. Viele haben schon vor dem Ankommen des IS letzteres gewählt [16].

Die „Heiden“ (die Jesiden z.B.) werden nicht einmal als Menschen betrachtet und haben somit überhaupt kein Recht. Sie müssen getötet oder versklavt werden.

Die Apostaten (Atheisten oder Bekehrte) verdienen schlicht und einfach den Tod. Der IS benutzt häufig den takfir, ein Verfahren, das es erlaubt, einem Gegner abzusprechen, Muslim zu sein, und aus ihm einen Apostaten zu machen (das gilt für die Schiiten, aber auch für praktisch alle Sunniten, die Gegner des IS sind).

Obwohl sich der IS zum Ziel gemacht hat, strikt anzuwenden, was gemäss ihm Teil der koranischen Vorschriften ist, handelt es sich hier nur um Theorie. In der Praxis, während den Kämpfen, sind die Betreuung und die Disziplin noch nicht auf höchstem Niveau, „Fehlverhalten“ und „Übergriffe“ sind gang und gäbe.

Die Wiedereinführung der Sklaverei ist eine Folge der militärischen Erfolge. Die gefangengenommenen Frauen und Kinder („Ungläubige“) werden als Teil der Beute betrachtet, die gerecht verteilt werden muss (oder zumindest der Ertrag ihres Verkaufs). Die Opfer werde somit in Bedienstete und/oder „Kebsen“ [17] verwandelt (einige sollen von türkischen Zuhältern gekauft worden sein). Auch hier ist der IS überzeugt, die Angaben im Koran hinsichtlich dieser Praxis buchstabengetreu anzuwenden [18].

3) Gewöhnliche Justiz

Für viele Kommentatoren ist die alltägliche Justiz und das Strafrecht jener Dienst, welcher im Kalifat am effizientesten funktioniert. Religiöse Richter, die qadis, sind über das ganze Territorium nominiert worden und haben sich im Justizpalast eingerichtet.

Es gibt verschiedene Strafen: Busse, Beschlagnahmung, öffentliche oder nicht-öffentliche Auspeitschung (z.B. weil man eine Zigarette geraucht hat [19]), Gefängnis, Amputation (für einen Dieb), verschiedene Hinrichtungstechniken (wegen Ehebruch, Homosexualität, Vergewaltigung, Korruption usw.). Es geht um Abschreckung und die Statuierung eines Exempels, die Hinrichtungen sind öffentlich und die Leichen werden vorgeführt. Der Rückgang der Kriminalität sei beträchtlich.
Man findet Aspekte dieser Praktiken in anderen muslimischen Ländern, allen voran in Saudi-Arabien.

Die Justiz geniesse bei der Bevölkerung einen „Ruf der Unbefangenheit“ [20]. Die Medien des IS heben natürlich Beispiele hervor, die zeigen, dass die Jihadisten nicht über dem Recht stehen: Hie und da wird ein Verantwortlicher wegen Korruption gekreuzigt oder ein Kämpfer wegen einer Vergewaltigung hingerichtet.

Die qadis verfügen über eine Polizei, die beauftragt ist, ihre Entscheide durchzusetzen. Eine andere Einheit, die muhtasibîn, setzt die hisbah (was sich gemäss dem Koran gehört oder nicht) durch. Diese Sittenpolizei, welche durch die angestellten europäischen Jihadistinnen bekannt geworden ist, überwacht auch die Märkte.

Schliesslich gibt es auch eine politische Geheimpolizei, die Anni, und Demonstrationen sind verboten. Die Kontrolle und die Überwachung der Bevölkerung scheinen besonders furchtbar und Experten sehen darin die „Handschrift“ irakischer Offiziere, die in den Techniken des Ostblocks ausgebildet worden waren [21]. Die aufgestöberten Oppositionellen werden als abschreckendes Beispiel hingerichtet und, man ahnt es, „wenn man ihre Regeln ohne mit der Wimper zu zucken akzeptiert, wird einem niemand etwas zuleide tun“ [22]. Eine repressive Politik, so effizient sie auch sein mag, reicht jedoch nicht, um den Fortbestand eines Regimes zu garantieren.

Das alltägliche Leben

Die verfügbaren Informationen sind bruchstückhaft, häufig anekdotenhaft und betreffen in den meisten Fällen Raqqa oder Mosul. Die Realität ist vermutlich auf dem Land oder von einer Stadt zur anderen ziemlich unterschiedlich, je nach dem, wie lange der IS schon dort ist, wie viel Unterstützung oder Widerstand es seitens der Bevölkerung gibt, wie weit die Front entfernt ist. Die Reglementierungen können z.B. schrittweise angewendet werden [23].

Was in den Strassen auffällt, sind gewiss die Frauen in Schwarz. Die neuen Sitten- und Religionsgesetze (Tabak-, Alkohol- und Drogenverbot [24]), v.a. jene, welche die Lage der Frauen betreffen, sind allseits bekannt.

In Tat und Wahrheit hat sich die Lage der Frauen im Irak seit dem ersten Embargo 1990 und v.a. nach 2003 schrittweise verschlechtert. Das gleiche gilt wahrscheinlich für Syrien, wo die meisten von Assad „befreiten“ Gebiete in den Händen von bewaffneten islamistischen Gruppen sind.

Neben einer sehr strikten Kleiderordnung, die schon im zartesten Alter gilt (Schleierpflicht für die Mädchen ab dem dritten Schuljahr), können sich die Frauen in den Städten des Kalifats nur in Anwesenheit eines männlichen Vormundes bewegen. Die einzigen Arbeitsstellen für Frauen, die es erlauben, nicht zu Hause zu bleiben, scheinen jene des Medizin- oder Bildungssektors zu sein. Man kann anmerken, dass die Frauen im Gegensatz zu Saudi-Arabien das Recht haben, Fahrzeuge zu lenken.

Auch von den Männern wird gute Kleidung erwartet, allen voran, dass sie als zu westlich beurteilte Kleidung oder gewisse Markenkleider meiden.

Die Strassen der grossen Städte, in welchen die Polizei die Kleider prüft, scheinen allerdings verstopft und lärmig, die Stände und Läden gut ausgestattet, die Geschäftstätigkeit ist in vollem Gange [25]. Der IS will nicht das business erschüttern, nur den Schein und die Oberfläche, damit sie dem göttlichen Willen entsprechen. Der Rhythmus der Tage wird durch die fünf täglichen Gebete bestimmt (oder durcheinandergebracht, gemäss einigen Geschäftsmännern), es hat endlich Beamte, welche den Verkehr an den Kreuzungen regeln, neue Nummernschilder, einen Mondkalender usw.

Der IS schenkt auch der Sicherung und Verbesserung der Versorgung eine besondere Beachtung, sowie der Senkung der Lebensmittelpreise; daher kommt die Kontrolle über die Mühlen und Bäckereien, die früher in Syrien öffentliches Eigentum waren. Während eine noch junge „Konsumentenschutzbehörde“ die Hygiene und Qualität der Produkte überwacht, ist die Aufmerksamkeit der muhtasibîn auf die Preise in den Strassen und den Märkten gerichtet: Man sollte nicht vergessen, dass man wegen „Spekulation und Hortung“ hingerichtet werden kann [26].

Wenn eine Stadt erobert wird, ist eine der Prioritäten des IS, genau wie von jeder konsequenten Besatzungsarmee, die Funktion der öffentlichen Dienste wiederherzustellen. Die Angestellten der öffentlichen Unternehmer und die Funktionäre werden angeregt, zu bleiben, und die Bezahlung der Löhne ist garantiert, falls nötig (und sie ist regelmässiger als unter der Herrschaft von Nouri al-Maliki) [27]. Das Standesamt funktioniert wieder, es passt sich einfach den gesetzlichen Modifikationen an (wie die Heiratsberechtigung für Mädchen ab neun Jahren).

Der IS bemüht sich, die vom Krieg beschädigte Infrastruktur wieder aufzubauen, doch lanciert auch neue Projekte, die in seiner Presse gepriesen werden: Reparatur von Brücken und Stromkreisen, Eröffnung von verbilligten Linien des öffentlichen Verkehrs, Wiederherstellung eines Postdienstes usw. Während der Eroberung von Palmyra, als die Hinrichtungen noch kaum vorbei waren, hat der IS eiligst Techniker vor Ort geschickt, damit es wieder Elektrizität und Internetverbindungen gibt. Die Funktionäre der Stadt haben eine Lohnvorauszahlung bekommen und neues medizinisches Gerät ist im Spital installiert worden [28]. In Raqqa ist sinnbildhaft der Palast des Gouverneurs in ein Spital verwandelt worden [29]. In den peripheren Gebieten, die manchmal vom vorherigen Regime vernachlässigt worden waren, hat der IS „von bedeutenden Kontrasteffekten in seinem Verhältnis zur Bevölkerung profitieren“ [30] können, indem er Impfkampagnen, den Bau von Krankenstationen, Brunnen und Schulen finanziert hat.

Die Bildung ist eine weitere der angezeigten Prioritäten. Das Regime besteht auf der Notwendigkeit, die Schulen und Universitäten wieder zu öffnen, allen voran die wissenschaftlichen und technischen Studiengänge. Es hat eine Medizinfakultät in Raqqa eröffnet, wo eine wissenschaftliche Universität für die Frauen reserviert ist. Die Schulprogramme haben eine brutale Reform hinnehmen müssen, die vom saudischen Modell inspiriert ist.
Es zirkulieren Bilder von Kindern und jungen Teenagern, die eine militärische Ausbildung erhalten, ohne dass man näheres zum Kontext sagen könnte: kompletter Schulabbruch oder (wahrscheinlicher) einwöchige Weiterbildung?

Doch die Propaganda des Regimes zeigt auch Jihadisten, die ihre lächelnden Kinder ins öffentliche Bad begleiten, mit ihnen spielen, andere Kinder am Steuer von Putschiautos oder auf gigantischen aufblasbaren Spielzeugen in Parks. Man weiss auch, dass in Mosul ein „Unterhaltungstag“ mit Verteilung von Ballons (sic!) und ein Koranrezitierwettbewerb in Raqqa organisiert worden ist... [31]

Ein soziales Programm

Die Hinrichtungsvideos sind nur ein Teil der Propaganda des IS auf dem Internet: Es kommt ein sozialer und karitativer Teil hinzu.

Es gehört zum klassischen Repertoire islamistischer (Oppositions-)Bewegungen, Hilfsprogramme für die Ärmsten auf die Beine zu stellen. Jenes des IS ist von einem grossen Ausmass und die angekündigten Massnahmen variieren: Zuschüsse für die ärmsten Familien (in Raqqa, eine von Damaskus vernachlässigte Stadt, 10 $ pro Kind, dann 250 $ am Winteranfang) [32], Eröffnung von Kantinen, Verteilung von Lebensmitteln, Kontrolle oder Senkung der Preise der lebensnotwendigen Produkte, Begrenzung der Mieten, Familienzuschüsse, Prämien bei Heirat und für jede Geburt [33], Zuschüsse für die Familien von im Kampf gefallenen Soldaten usw.

So kauft der IS den sozialen Frieden und die Unterstützung der Bevölkerung, doch es ist auch Teil seines politischen Projekts. Obwohl die Jihadisten, welche ein Territorium verwalten müssen, die Gegner kreuzigen, müssen sie auch zur immensen Mehrheit Sorge tragen, die ihre Interpretation der Scharia respektiert und die bis zu einem gewissen Grad auch von den militärischen Eroberungen profitieren kann [34].

Es gibt zwingend einen Unterschied zwischen einem Programm und seiner Realität [35]. Umso mehr, weil der IS aufgrund seiner religiösen Legitimation die (von Gott) erschaffene Ordnung durch Interventionen bezüglich der Einkommensunterschiede, der Klassen, der Hierarchien (manchmal Stammeshierarchien), Treuepflichten usw. nicht durcheinanderbringen darf. Er kann sich nur die Begrenzung der deutlichsten Exzesse und Missbräuche zum Ziel machen, ohne jedoch selbst der Korruption zu erliegen, was nicht einfach ist [36].

Die Kalifatswirtschaft

Die Informationen in diesem Bereich sind im allgemeinen fragmentarisch und unkontrollierbar (man erfährt z.B., dass die Zementindustrie 10% der Einnahmen des IS repräsentiere, ohne nähere Präzisierung [37]); es werden viele Zahlen zitiert, doch man erfährt sehr wenig Details über die konkrete Funktionsweise der Unternehmen.

Der IS verfüge über ein Vermögen von 2’260 Milliarden Dollar, seine berühmte „Kriegskasse“, doch in Tat und Wahrheit umfasst diese Zahl auch den Wert der Öl- und Gasinstallationen, der Phosphatminen, der Anbauflächen und der auf seinem Territorium gelegenen kulturellen Sehenswürdigkeiten (davon Hunderte von Millionen Dollar, die er sich aus den Safes der Zentralbank von Mosul verschafft hat) [38]. Das Vermögen ist im Vergleich zu 2014 steigend. Das Staatsbudget 2015, ungefähr 2.5 Millionen Euros, sei kleiner geworden, besonders aufgrund der Öleinkommen (geringerer Ölpreis und vermehrte Bombenangriffe), obwohl die Einnahmen aus Steuern und Beschlagnahmungen steigen.

Wir haben es allen voran mit einer Kriegswirtschaft zu tun, in Gebieten, die manchmal wegen den Kämpfen verwüstet sind und einen grossen Teil ihrer Bevölkerung verloren haben. Das gilt v.a. für Syrien, wo von 22 Millionen Einwohnern 4 Millionen ins Ausland geflüchtet sind und 8 bis 10 Millionen ihr Zuhause verlassen haben müssen; einige Städte sind unbeschädigt in die Hände des IS „gefallen“, doch andere sind von langen Kämpfen verwüstet worden. Etliche Fabriken sind in andere Regionen oder in die Türkei umgezogen [39].

Die Situation ist anders im irakischen Teil des Kalifats, wo sich die Wirtschaft und die Bevölkerung seit langem einer solchen Situation angepasst haben.

Die Wirtschaft des IS ist durch die Türkei (und in geringerem Ausmass durch Jordanien) mit dem Rest der Welt verbunden, doch der türkische Kriegseintritt im Sommer 2015, sowie die kurdischen Offensiven bedrohen diesen Zugang.

Im Rahmen einer Kriegswirtschaft scheint der IS pragmatisch zu sein, um jene Produktionseinheiten so schnell wie möglich wieder zu beleben, welche für seine militärischen Anstrengungen und für die Versorgung der von ihm verwalteten Bevölkerungen (und für die Eintreibung der Steuern) notwendig sind, je nach Dringlichkeit, Art des Eigentums (die zahlreichen Staatsunternehmen oder private), Art des Unternehmens, lokalen Besonderheiten. Diese Anpassungsfähigkeit wird durch die grosse Autonomie der lokalen Behörden erleichtert.

Es ist dieser Realismus, und nicht ein Streben nach wirtschaftlichem Liberalismus, der die Privatisierung gewisser Staatsunternehmen (ohne dass ein finanzieller Profit ausgeschlossen werden kann) oder die Lancierung eines Unterstützungsprogramms für kleine Unternehmen und die lokale Wirtschaft [40] erklärt. Die von den Eigentümern verlassenen Fabriken sind wahrscheinlich vom IS wieder zum Funktionieren gebracht worden. Die Verwaltung gewisser Ölbetriebe wurde z.B. eine gewisse Zeit den schon vorhandenen Unternehmen oder in anderen Fällen lokalen Stämmen überlassen.

Auf jeden Fall scheint der IS mehr Programme, Broschüren, Dekrete, Fatwas usw. zu Sittenfragen denn zu Wirtschaftsfragen zu erlassen.

Abgaben und Steuerwesen

Ein neues Steuersystem, das auf regelmässigen Abgaben und formalisierten Prozeduren und Tabellen basiert, ist eingeführt worden, um einen funktionierenden Staat zu garantieren. Diese Steuern, die von den westlichen Medien als „Erpressung“ und „Schutzgeld“ bezeichnet werden, repräsentieren weniger als einen Drittel der Einnahmen des IS. Die Zakât ist Teil davon, es handelt sich um gesetzliche Almosen und die dritte Säule des Islams, aber auch diverse andere Formen, für die Bauern manchmal als Naturalsteuer; die Sadaqa, eine freiwillige Spende an die Bedürftigen, und die Djizya, die Steuer der dhimmis, sie ist hoch, doch progressiv je nach Einkommen (man spricht von 60 bis 250 Dollar pro Monat in Mosul).

Sehr viele Abgaben existieren (einige als Formen der Zakât), z.B. auf: Unternehmen, Einkommen neu gegründeter Unternehmen, Telekommunikation, Schutz der Geschäfte, Bargeldbezug, Löhne (5% für den „sozialen Schutz“), die von Damaskus und Bagdad bezahlten Löhne (50%), Produkte an den Grenzen, Kamele, Mautstellen usw. Dieses Steuerwesen ersetzt jenes der vorhergehenden Regime, doch auch die damals obligatorischen Schmiergelder.

Die „Erpressungen“ bestehen aus zahlreichen Fällen von Beschlagnahmungen: von Geld im Falle von Regelverletzungen (Alkohol oder Zigaretten), von Häusern, Land, Fahrzeugen oder Vieh, nachdem diese von ihrem Eigentümer zurückgelassen worden sind.

Die Vermehrung der Einnahmen 2015 hat zwei Ursachen: die Schwierigkeiten des Regimes, das gezwungen ist, die bestehenden Abgaben zu erhöhen, und eine Verbesserung der Verwaltung und der Steuereintreibung.

Aussergewöhnliche und „kriminelle“ Ressourcen

Es handelt sich um Beträge, die von privaten Spendern aus dem Golf (die Verbindungen zwischen Stämmen spielen hier eine wichtige Rolle) überwiesen werden, Lösegeld von Geiseln, Verkauf/Rückkauf von Sklaven und den Handel mit Antiquitäten (oder eher dessen Einbettung). Da sie häufig mit militärischen Eroberungen verbunden sind, tendieren diese Einkünfte dazu, zu versiegen.

Es zirkulieren zahlreiche Gerüchte über diverse Schwarzmärkte (Zigaretten, Drogen, Organe) und mafiöse Aktivitäten, die der vom Regime verteidigten Ideologie widersprechen. Was gewisser scheint, ist die Besteuerung einiger vorher schon existierender Sektoren (z.B. jener des Captagons).

Banken [41]

Der IS hat sich mit einer Staatsbank und einer offiziellen Währung ausgestattet: Dinare, Dirhams und Fulus des Kalifats in Form von Geldstücken aus Gold, Silber und Kupfer (der Wert des Geldstücks entspreche dem eigentlichen Wert des Metalls, aus dem es gemacht ist). Abgesehen davon, dass er wenig wahrscheinlich ist, weiss man wenig über ihren wirklichen Gebrauch.

Der IS kontrolliert auf seinem Territorium mehrere Dutzend Finanzinstitute, einige davon machen nach wie vor Geschäfte und auch internationale Überweisungen. Die Banken von Mosul, die Filialen von Finanzinstituten, deren Hauptquartier im Golf oder Bagdad liegt, haben weiterhin normal funktioniert (und tun das vielleicht immer noch).

Dennoch ist das Regime mit Schwierigkeiten in Bezug auf die Wechselkurse konfrontiert: Obwohl die Einnahmen in Form von Dollars, Euros, türkischen oder syrischen Liren einkassiert werden, regelt es seine Rechnungen in Dollar.

Landwirtschaft

Sie repräsentiere zwischen 7 und 20% der Einnahmen des Kalifats, das die fruchtbaren Tigris- und Euphrattäler kontrolliert, wo 50% des syrischen Getreides, ein Drittel des irakischen Getreides (achtgrösste Getreideproduktion weltweit) und ungefähr 40% der irakischen Gerste produziert worden waren.

Auch hier ist der Krieg ein wichtiger Faktor in Regionen, die stark von der Landwirtschaft geprägt sind (im Bezirk Raqqa arbeitet 50% der aktiven Bevölkerung in diesem Sektor). Viele Bauern sind geflohen (besonders die Christen und die Kurden) und haben ihre Höfe und ihr Land zurückgelassen. Der IS hat sie sich angeeignet, doch es liegen Felder brach [42]. Die Kontrolle über diese Produktion ist vital, denn sie erlaubt dem Regime, den Preis des Mehls und somit des Brotes als Grundlage der Ernährung festzulegen.

Der IS kontrolliert auch einen grossen Teil der syrischen Baumwollfelder, deren Erträge 1% seiner Einnahmen repräsentiere. Der Export dieser Faser ist weniger leicht als jener des Öls, doch die Hauptdestination ist die gleiche: 6% der türkischen Importe sollen aus den Feldern des Kalifats kommen. Das reicht, um einen Fünftel der T-Shirts made in Turkey zu produzieren (was 1.2% der in Frankreich verkauften T-Shirts repräsentiert) [43].

Sonstiges

Obwohl sich der IS die Mehrheit der syrischen Phosphatminen (die zur Düngerproduktion nötig sind) angeeignet hat, hat er nicht die Mittel, um die Gesamtheit der Produktion neu zu lancieren und er hat Schwierigkeiten, sie zu verkaufen. Sie repräsentiere trotzdem 10% seiner Einkünfte [44]. Er kontrolliert auch Schwefelminen in Syrien und Irak, sowie zahlreiche Zementfabriken.

Mineralöle

Obwohl die amerikanischen Firmen 2003 alle irakischen Verträge an sich gerafft haben, sind sie seither mit der Konkurrenz von BP, Lukoil und v.a. China konfrontiert worden, China hat seit 2008 Dutzende Milliarden ins irakische Öl investiert und ist zum ersten Kunden und Investor im Land geworden. Heutzutage werden 50% der Produktion nach China exportiert (und 2035 vermutlich bis zu 80%) und es gibt Pläne, die beiden Länder mit zwei Pipelines miteinander zu verbinden. Mehr als 10’000 chinesische Arbeiter waren vor der Entstehung des IS im Land.

Während die USA versuchten, sich militärisch aus der Region zurückzuziehen, störte die Vergrösserung des irakischen Chaos allen voran die chinesischen Investoren (die durch den Krieg schon aus Syrien vertrieben worden sind). Erst im August 2014, als der IS jene Ölfelder, die einen Vertrag mit amerikanischen Firmen haben (Kurdistan und Südirak), und Bagdad (dessen Fall für die ganze Region katastrophal gewesen wäre) bedrohte, musste die amerikanische Luftwaffe intervenieren.

Der IS kontrolliert 60% des syrischen und 10 bis 15% des irakischen Öls (letztere Zahl ist seit dem Rückzug der Truppen des IS im Herbst 2015 gewiss geringer). Die Produktion wird 2015 auf zwischen 20’000 und 50’000 Ölfässer täglich geschätzt, gegen mindestens 70’000 das Jahr zuvor: Das ist nichts verglichen mit der regionalen Produktion (Syrien produzierte 2010 385’000 Fässer täglich) [45]. Das Öl, das 50 bis 60% unter dem Marktpreis verkauft wird, trägt 1 bis 1.5 Millionen Dollar pro Tag ein, d.h. zwischen 350 und 600 Millionen Dollar jährlich. Es ist die Haupteinnahmequelle des IS (je nach Quellen zwischen 25 und 40%), doch die Erträge gehen aufgrund des tieferen Marktpreises und der westlichen Bombenangriffe zurück.

Daesch rekrutiert übrigens kompetentes Personal mit guten Löhnen (Techniker, Ingenieure, Trader...) in Syrien und im Irak, doch auch im Ausland, um die Produktivität seiner alternden Installationen zu verbessern [46]. Der Islamische Staat hat sich zum Ziel gesetzt, den Ertrag der Ölfelder, im Vergleich zu jenem bevor er sie sich angeeignet hat, zu verdoppeln [47].

Der IS begnügt sich fast ausschliesslich damit, Rohöl zu extrahieren, das gleich neben den Ölfeldern an unabhängige Händler, Schmuggler oder einfache Eigentümer von Lastwagen verkauft wird, die das Öl zur Raffinerie, zum lokalen Konsum (60 bis 70%) oder in den Export bringen. Im Oktober und November 2015 sollen amerikanische Bombenangriffe Hunderte von Lastwagen zerstört haben. Auch grosse Raffinerien, sowie viele selbst gemachte (mobile) Raffinerien sind von der Koalition zerstört worden, deshalb wendet sich der IS an private Raffinerien, deren Produktion er darauf mit Abgaben belastet. In Syrien konnten private Ölfirmen weiterhin in den vom IS eroberten Gebieten arbeiten, falls sie eine Steuer bezahlen [48]. Der Export funktioniert über Schmuggelwege in Richtung Jordanien, Türkei oder von verfeindeten Gruppen gehaltene Gebiete mithilfe einer Unzahl von Lastwagen, manchmal auf dem Rücken von Eseln oder Pferden oder durch selbst gemachte Mini-Pipelines. Im Irak ist der Schwarzmarkt für Öl eine Praxis die auf die Zeiten des Embargos oder gar noch weiter zurückgeht.

In Syrien ist die Kontrolle über die Extraktion eine wichtige Ursache zahlreicher Konflikte zwischen Rebellengruppen um die Verteilung dieser wichtigen Einkommensquelle. Das gleiche gilt für die Gasfelder, die es erlauben, den Bevölkerungen Gas und Strom zu liefern.

Das führt auch zu verblüffenden Geschäften. Das auf dem Territorium des IS extrahierte Öl kann seinen Feinden verkauft werden: an andere Gruppen, an das Regime von Damaskus oder nach Rojava [49]. Die Eroberung eines Gaskraftwerks in der Nähe von Palmyra hat Raqqa und Damaskus zum Feilschen gezwungen, denn niemand kontrolliert die Gesamtheit der Kette von der Produktion bis zur Verteilung [50]. In der Region Deir ez-Zor hat der IS die Öl- und Gasextraktion lokalen Stämmen anvertraut, die einen Teil des Profits für sich behalten, doch auch einen Teil der Produktion dem Regime von Assad verkaufen, um sich gegen Luftschläge zu schützen [51]. Man achte auf Sabotagen von Pipelines von Stämmen, die nicht mitspielen dürfen!

Lediglich ein Staat?

Einen Staat aufzubauen, während man mit fast allen Mächten des Planeten im Krieg steht, ist alles andere als einfach. Was wir oben beschrieben haben, ist weniger eine sozioökonomische Übersicht zu einem Zeitpunkt Z und eher die Skizzierung eines Prozesses zwischen dem Sommer 2014 und 2015. Während dieser Periode, die vielleicht eines Tages als „Blütezeit“ des Kalifats, als die Periode seiner grössten Expansion betrachtet werden wird, versucht sich der IS im Aufbau eines Staats und seiner Verwaltung, während er versucht, die Wirtschaft wieder anzukurbeln und seiner Bevölkerung einen erträglichen Lebensstandard zu ermöglichen.

Diese Periode ist wahrscheinlich abgeschlossen und der Prozess geht nun in die andere Richtung. Wenn es zu keiner beträchtlichen Überraschung kommt, dürfte das Problem der territorialen Existenz des IS in Irak und Syrien durch die schrittweise Involvierung der Türkei in den Konflikt, die russische militärische Intervention (Oktober 2015) und die Verstärkung jener des Westens (Sommer und Herbst 2015) in einigen Monaten geregelt sein. Es sind jetzt schon alle Indikatoren rot und die oben zitierten Produktionstabellen und Statistiken werden Ende 2016 sehr geringe Werte angeben.

Wir fragten uns am Anfang, wieso es funktioniert. Und wir haben gesehen, dass das Überleben und die Expansion dieses Regimes nicht nur durch seine militärischen und polizeilichen Fähigkeiten erklärt werden können. Einige sprechen sogar von einem „Wohlfahrtsstaat“.

Doch das Kalifat ist auch mehr als lediglich ein banaler Staat. Er begnügt sich nicht mit Verwaltung, sondern beabsichtigt, die Welt zu verändern, ein neues Zeitalter einzuleiten oder es vorzubereiten... Ein Zeitalter, in welchem es für den IS natürlich nicht darum ginge, die Lohnarbeit oder die Warengesellschaft abzuschaffen, nur darum, sie nach seiner Weise umzubauen. „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass sich alles verändert“ […], die Oberfläche, die Sitten, Gebräuche usw. Natürlich, doch heutzutage heisst die Hoffnung für Millionen von Einwohnern des Iraks und Syriens und darüber hinweg Kalifat. Und Zehntausende Jugendliche, besonders viele Proletarier, überqueren den Planeten, um dort zu leben oder zu sterben, und viele andere träumen davon. Diese Hoffnung ist trostlos. Oder nicht?

Tristan Leoni, November 2015.

Einige Literaturverweise:

1) Zum Islamischen Staat (nach Relevanz)

Pierre-Jean Luizard, Le Piège Daech. L’État islamique ou le retour de l’histoire, Paris, La Découverte, 2015.

Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, L’État islamique. Anatomie du nouveau Califat, Paris, Bernard Giovanangeli Editeur, 2015.

Philippe-Joseph Salazar, Paroles armées. Comprendre et combattre la propagande terroriste, Paris, Lemieux Editeur, 2015.

Myriam Benraad, Irak, la revanche de l’histoire. De l’occupation étrangère à l’État islamique, Paris, Vendémiaire, 2015.

2 / Zur Religion

Troploin, "Le Présent d’une illusion", Lettre de Troploin, n° 7, Juni 2006.

Maxime Rodinson, Mohammed, München, C.J. Bucher, 1975 [1961].

Maxime Rodinson, Islam und Kapitalismus, Berlin, Suhrkamp, 1986 [1966].

Emmanuel Carrère, Das Reich Gottes, Berlin, Matthes & Seitz, 2016 [2014].

Gilbert Achcar, Marxisme, orientalisme, cosmopolitisme, Arles, Sinbad, Actes Sud, 2015.

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net.

Quelle

Zweiter Teil: Von der Utopie

Sofern man allerdings ein gesundes Urteil über die Dinge fällt, warten die Revolutionen dieser Zeit überall nur mit einem Krieg unvorsichtiger Sklaven auf, die mit ihren Fussfesseln kämpfen und berauscht marschieren.
 
Saint-Just, Der Geist der Revolution und der Verfassung in Frankreich, 1791.

Die Repression gegen jegliche Opposition erklärt nicht alles. Allen voran erklärt sie nicht den „Erfolg“ des Islamischen Staates (IS), d.h. den Rückhalt, den er im Volk hat. Der Grund dafür ist, dass es sich eher um einen Prozess des Staatsaufbaus handelt, denn um die Besatzung eines Territoriums durch eine „terroristische Gruppe“.

Nach mehreren Jahren eines unerbittlichen Bürgerkrieges ist das Eintreffen der Truppen des IS nicht nur gleichbedeutend mit der Ersetzung eines Terrorregimes durch ein anderes, sondern auch [siehe den ersten Teil] mit der Rückkehr eines Rechtsstaates, einer relativen Ruhe, einer Verbesserung der Versorgung, der Reparatur von Infrastrukturen, der Wiedereinführung von öffentlichen Diensten, dem schnellen Aufbau einer Verwaltung – freilich im besten oder im schlimmsten der Fälle, doch die Einwohner können die Ordnung dem Chaos vorziehen [52]. Die Tatsache, dass der IS mit seinen Herrschafts-, Verwaltungs-, logistischen und finanziellen Fähigkeiten spielt, erklärt, dass er in verschiedenen Städten als Befreier empfangen werden konnte, er für einige „als absolut respektables Regime“ [53] erscheinen kann oder Stämme ihm die Treue schwören [54].

Doch das ist nicht alles. Es wird noch mehr in Betracht gezogen werden müssen, allen voran die „trostlose Hoffnung“. Ein Teil dieser Bevölkerung steht jenseits von Pragmatismus hinter dem Diskurs und dem Projekt des Kalifats. Denn der IS kann auf die aktive Beteiligung von Zehntausenden von Kämpfern, Soldaten und Funktionären zählen, aber auch auf die passive Unterstützung eines gewissen Teils der Einwohner des Iraks und Syriens (und auf die vorsichtige oder gleichgültige Passivität von vielen anderen).

Und dann gibt es Zehntausende Jugendliche, besonders viele Proletarier, die den Planeten überqueren, um im Kalifat zu leben oder zu sterben, während so viele andere davon träumen.

Sunnistan...

Global denken, lokal handeln.
 
Jacques Ellul

Ist die Zeit für den Aufbau eines islamischen Staates gekommen? Die Zeit eines neuen Staates? Weniger künstlich als die bestehenden? Man weiss, dass der IS faktisch und symbolisch die mit der Richtschnur gezogene Grenze zwischen Syrien und dem Irak aufgehoben hat. Ist es dieser berühmte grosse Staat, der die sunnitischen Araber zwischen den Ruinen von zwei anderen zusammenbringt?

Ein Teil der lokalen Bourgeoisie kann sich von einem Projekt vom Stile Sunnistan durchaus etwas erhoffen [55]. Der Irak hatte keine Chance mehr und gleiches scheint für Syrien zu gelten. Im Fall eines Auseinanderfallens des Iraks, so wie es vor dem Auftauchen des IS in Betracht gezogen worden war, hätte der sunnitische Teil einen Platz am Rande und als Enklave gehabt, was einiges weniger attraktiv ist als jener Platz, den er in einem zukünftigen grossen sunnitischen Staat hätte.

Seine Form mag überraschend erscheinen, doch der IS spielt seine Rolle als Staat, indem er die Interessen der lokalen kapitalistischen Klasse schützt und eine Vision für die Zukunft hat. Von einem wirtschaftlichen Standpunkt aus hat unser erster Teil den Willen gezeigt, den der IS hat, ein Territorium (jenseits künstlicher, nationaler, ethnischer Differenzen) zu vereinigen und zu befrieden und dort die Wirtschaft wieder anzukurbeln, zu rationalisieren und zu modernisieren, besonders die Ölextraktion [56]. Und er ruft zur Hijra auf, er lädt nicht nur die Muslime mit einer militärischen Erfahrung in seine Territorien ein, sondern auch die Lehrer, Juristen, Ärzte und Ingenieure [57], das dient der Vorbereitung der Zukunft und der Kompensierung für die Auswanderung vieler Angehörigen der Mittelklassen und der Eliten. Er ist zwar heute geächtet, könnte jedoch schon morgen die Bedürfnisse der grossen Mächte befriedigen (Wiederaufbau des Landes, Neuverteilung der Karten für die Ölproduktion, Waffenverkäufe usw.) oder zumindest das Terrain für solche Projekte bereiten.

Die Erschaffung eines faktischen Sunnistans ist Teil einer unvermeidlichen Umgestaltung einer Karte des Mittleren Ostens, die vor einem Jahrhundert gezeichnet worden war. Der IS kümmert sich um die Drecksarbeit: Massaker und Umsiedlungen von Bevölkerungen, welche das Abstecken der zukünftigen Grenzen erleichtern werden, was diese Gebiete von einem ethnischen und religiösen Standpunkt aus homogen macht und eine Konfessionalisierung vollendet, die schon lange begonnen hatte. Um dies zu tun, stützt er sich auf die traditionellste Form der Macht: die Stämme. Al-Baghdadi vergisst nie, zu erwähnen, dass er Mitglied des Stammes der Quraisch ist, jener der Nachfahren Mohammeds: Modernisierung und Archaismus sind durchaus kompatibel.

Sein Projekt beruht auf einer flexiblen, dezentralisierten staatlichen Struktur, die den lokalen Notabeln die von Bagdad und Damaskus beschlagnahmte Macht zurückgibt. Er garantiert die innere gesellschaftliche Stabilität, indem er seine Aufmerksamkeit auf das „Gesellschaftliche“ (Sitten, alltägliches Leben) richtet und indem er die Revolte der Ärmsten und eine endemische Gewalt nach aussen kanalisiert.

Im irakischen Gebiet des Kalifats akzeptiert eine Mehrheit der sunnitischen Araber das neue Regime, passiv oder aktiv. Nach Jahren der Erniedrigung ist es ihre Rache (gegen die Schiiten und die Amerikaner), die Wiedereroberung der Macht, der Ehre und einer politischen Sichtbarkeit. Die Stammesführer haben sich aus Opportunismus oder soweit es ihren Interessen entspricht dem transnationalen Projekt des IS angeschlossen [58]. Auf sie folgten ehemalige Kader der Baath-Partei, ehemalige Offiziere der irakischen Armee und zahlreiche Proletarier der benachteiligten Quartiere und Gebiete in der Region.

Doch der IS, womöglich durch die amerikanische Intervention im Sommer 2014 in eine Strategie der „Bewältigung“ gedrängt, hat sich nicht in einem ethnisch-religiösen Kommunitarismus des Typs Sunnistan eingeschlossen. Obwohl das Projekt des IS eine „Rache der Geschichte“ darstellt, beschränkt es sich nicht darauf, nur eine einzige Grenze niederzureissen.

… oder Kalifat?

Die aus dem Westen importierten Ideologien (Nationalismus, Sozialismus und, als jüngste davon, die Demokratie) haben kaum Befriedigung gebracht, sie überzeugen nicht mal mehr in den Ländern, wo sie herkommen, und die Unangepasstheit des nationalen Rahmens an die Situation im Mittleren Osten muss nicht mehr gezeigt werden. Die grossen politischen Ideologien existieren nicht mehr:

Wenn das Kalifat den gesellschaftlich genannten Reformen (Alltag, Lebensweise) eine derartige Bedeutung gibt, so ist das nicht aus Pedanterie. Das Gesellschaftliche macht den Unterschied, langfristig den einzigen Unterschied; es ist die beste Rechtfertigung des IS, sein politisches Markenzeichen, seine Erlangung von Autonomie gegenüber dem Westen, ein Bruch mit einem Jahrhundert der Kolonialisierung, der Bücklinge, der ideologischen Anleihen und der wirkungslosen Verkleidung.

Der IS, der den Nationalismus als „Dreck aus dem Westen“ denunziert, hat die Grenze zwischen Syrien und dem Irak abgeschafft, was ihm erlaubt hat, die Verbindung zwischen den Stämmen neu zu beleben [59]. Der Nationalismus, der in Europa seit 1945 als tot betrachtet wird, kommt dort in einer regionalistischen Form wieder auf (Norditalien, Flandern, Katalonien, Schottland...), doch seine Wiedergeburt am Rande des Kontinents (Ex-Jugoslawien, Ukraine) ist von mörderischen Konflikten begleitet. Was eigentlich verbinden sollte, trennt. Im Mittleren Osten hat ein „syrischer“ oder „irakischer“ Nationalstaat nur so viel Kraft wie der Diktator, der fähig ist, ihn zusammenzuhalten. Es ist also nicht erstaunlich, dass die ideologische „Vereinnahmung“ des Internationalismus und des Universalismus durch den IS einer seiner verführendsten Aspekte ist.

Sein offizielles Programm ist die Restauration des 1258 verschwundenen abbasidischen Kalifats und, in einer ersten Phase, die Wiedereroberung des muslimischen Bodens, von Indien bis nach Spanien. Wir können darüber lachen, aber einige nehmen die Sache sehr ernst, besonders jene, welche bereit sind, dafür zu sterben und zu töten. Der „mittelalterliche“ Charakter täuscht, denn obwohl dieser in Frankreich ungerechtfertigterweise als archaisch, derb und primitiv betrachtet wird, evoziert er in der arabisch-muslimischen Welt ein Goldenes Zeitalter, einen Bezugswert. Die Übernahme dieser Thematik ist gleichbedeutend mit der Wiederbelebung „ein[es] arabische[n] Traum[s]“. Gewiss, „[e]in wahrgewordener Traum, der Tod verbreitet“, trotzdem ist es auch „die letzte glaubwürdige totalitäre Ideologie, idealistisch und realistisch zugleich“ [60], und sie ist fähig, die Massen zu mobilisieren. Dieser arabische Traum der huldvollen Rückeroberung der verlorenen Ehre nach Jahrhunderten der Erniedrigung mag mit dem universalistischen muslimischen Ideal im Widerspruch erscheinen, doch dieser Widerspruch ist nicht neu und artikuliert sich ziemlich deutlich – besonders wenn Araber das Projekt leiten. Egal ob Sieger oder besiegt wird das Kalifat versucht haben, mit Symbolen eine Mythologie zu erschaffen, die fähig ist, sein Verschwinden zu überleben und auch in Zukunft noch Leute träumen zu lassen.

Das versteckte Kind des Frühlings?

Ist der IS der Repräsentant dieses islamischen Winters, der auf den Arabischen Frühling gefolgt ist, oder ihn gar erstickt hat? Oder sein uneheliches Kind, das an die Türe klopfen kommt?

Der Irak ist ein bisschen ein Sonderfall, denn das Land hat seit 2003 eine ausländische Besatzung und einen ersten Konfessionskrieg erlebt. Trotzdem bietet dem Regime von Nuri al-Maliki zwischen 2011 und 2012 eine breite soziale, mehrheitlich sunnitische Protestbewegung die Stirn, die er mit heftiger Repression beantwortet. Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten beginnt also erneut, doch er nimmt dieses Mal die Form eines offenen Krieges zwischen der Regierung von Bagdad und dem IS an.

Die syrische Situation 2011 ist eine eher klassische Ausgangssituation. Jene eines Landes, wo die korrupten Kader von alten Diktaturen ein Hindernis für liberale Reformen sind, sogar wenn sie selber die Initiative dafür ergriffen hatten. Ein Kompromiss, der die widersprüchlichen Interessen der betroffenen Klassen hätte befriedigen können, hatte nicht weniger als eine autonome und befriedete kapitalistische Entwicklung in der Region zur Voraussetzung – eine Möglichkeit, die total ausgeschlossen werden konnte.

In Syrien profitiert selbstverständlich die alawitische Herrschaft von der Politik der infitâh (wirtschaftliche Öffnung und Liberalisierung) der 2000er Jahre, doch auch ein bedeutender Teil der städtischen sunnitischen Bourgeoisie, mit der sie sich verbündet hat. Die Opfer dieser Reformen sind – man wird es erraten haben – die Arbeiter, die Arbeitslosen und die Bauern. Der Aufstand im März-April 2011 bricht in jenen Quartieren aus, wo sie leben, die Mobilisierung der Intellektuellen und aufstrebenden Mittelklassen, die mit den Grenzen der gesellschaftlichen Veränderung und des demokratischen Fortschrittes unzufrieden sind, schliesst sich ihm schnell an.

In Anbetracht der Entschlossenheit des Regimes und der Armee [61], der heftigen Repression, aber auch der Fortsetzung der Demonstrationen hat sich ein Teil der syrischen Bourgeoisie dafür entschieden, mit dem Regime zu brechen und alles auf seinen Sturz zu setzen. Dank der Unterstützung der in den westlichen Hauptstädten lebenden Oppositionellen und diverser Staaten (besonders der Golfstaaten) wird die Revolte eine militärische Wendung nehmen [62]. Man weiss, dass „der Krieg die Revolution frisst“, doch hier gab es sehr wenig zu essen und die Involution war schnell. Zwischen einem Regime, das die Karte der Glaubensspaltung spielt, äusseren Einflüssen und einem fruchtbaren Boden wird der Konflikt die Erscheinungsform einer Opposition zwischen Sunniten und Schiiten annehmen. Militarisierung und Rebellion gehen für Hunderte von bewaffneten Gruppen immer mehr mit Islamismus oder Salafismus und Jihadismus einher. Doch nach 2012 „ist die Mehrheit der jungen Syrer, welche sich aus demokratischem Geist gegen das Regime aufgelehnt hatten, tot, im Exil oder nun Teil des Jihadismus. Es gibt keine gemässigten Kräfte mehr“ [63].

Der bewaffnete und konfessionelle Aspekt des Konflikts radiert jedoch noch lange nicht jeglichen Klassenaspekt aus und überschneidet sich mit zuvor bestehenden Gegensätzen zwischen nützlichen und peripheren Regionen, Stadt und Land, Innenstädten und armen Quartieren. In letzteren ist die Revolte entstanden, besonders in diesen „informellen Quartieren“ [64], welche die grossen syrischen Städte umgeben, z.B. Aleppo, wo eine mehrheitlich sunnitische Bevölkerung lebte, die aus den ländlichen Gebieten nach der Dürre 2008 geflohen war. Die Kämpfe nehmen häufig die Form von Konfrontationen zwischen den Peripherien mit mehrheitlich rebellischen Quartieren und einem regimetreuen Stadtzentrum an. Scheinbar kommen auch viele jihadistische Rebellen aus den ärmsten ländlichen Gebieten, aus jenen, welche Damaskus als erstes aufgibt. Ihr Eindringen in die Herzen der Städte war für die Bewohner häufig kein Grund zur Freude, sie nehmen sie als „eine Art ländliches Lumpenproletariat“ wahr, „das sich an den Städten rächen will“. In Deir ez-Zor und Aleppo z.B., wo die Bevölkerung „auf das Eindringen dieser Rebellen vom Land in die Stadt mit Kälte reagiert hat“ [65].

Viele dieser Rebellen schwören dem IS den Treueeid, als dieser 2013 in Syrien eindringt. Sie sind somit die materielle Verbindung zwischen den Revolten 2011 und dem Kalifat, das sich als der „einzige wahre Erbe“ des Arabischen Frühlings betrachtet [66]. Es ist auf jeden Fall die Konsequenz, oder gar die Antwort auf sein Scheitern. Der Kampf gegen Korruption, der für den IS zentral scheint, ist gewiss ein Echo auf die Anprangerung der Korruption durch die Demonstranten 2011. Durch seinen Respekt der Traditionen und seiner Ablehnung des Westens und seiner Demokratie, aber auch der Diktaturen, bringt der IS einen ethischen Faktor mit, der den laizistischen Demokraten fehlt. Und gegen die islamistischen Demokraten verurteilt er die Demokratie als Schöpfung des Westens und somit den Westen an und für sich, womit er implizit den Theorien eines Kampfes der Kulturen zustimmt.

Der IS tut dies, der IS tut das, doch es ist die lokale Bourgeoisie, welche die Register zieht. Man kann tatsächlich sagen, dass die wahrhaftige Bedeutung von dawla nur Beiwerk ist und den IS als Staat wie jeden anderen sehen, nämlich als einen einfachen Ausdruck der lokalen Bourgeoisie, die ihre Interessen verteidigt und das Proletariat im Zaum hält. Wie man das auch vom Ungarn des Admirals Horthy, vom Ecuador von Rafael Correa oder vom Frankreich von François Hollande sagen kann. Man kann anfügen, dass die Proletarier von rivalisierenden Bourgeoisien stets als Kanonenfutter benutzt werden. Das ist wahr, doch damit ist die Debatte noch lange nicht beendet. Die starke Involvierung von Proletariern im IS verdient es, hinterfragt zu werden (genau wie ihre Präsenz in der NSDAP oder in der Rotkappen-Bewegung).

Klassengesellschaft in Syrien, in Irak, wie überall, freilich, doch wie steht es mit dem Klassenkampf? In Syrien stellt sich die Frage manchmal fast nicht mehr, da die Abwanderung der Bevölkerungen so massiv gewesen ist (4 Millionen Auswanderer, 8 bis 10 Millionen intern Vertriebene): Die ersten Auswanderer waren die Reichsten (viele Kader und liberale Berufe), jene, welche noch dort sind, sind v.a. die Ärmsten. Eine Stadt wie Deir ez-Zor, die vorher zwischen 600‘000 und 800‘000 Einwohner zählte, hat jetzt nur noch einige Zehntausende, was den Alltag des Klassenkampfes in der Fabrik oder im Büro ein bisschen durcheinanderbringt.

Im irakischen Teil hat sich, wie wir gesehen haben, die Gesellschaft seit mehr als zehn Jahren angepasst, um im Krieg und dann im Bürgerkrieg zu überleben, doch die Tätigkeit des Kalifats stellt trotzdem einen Teil der kapitalistischen Klasse (Geschäftsmänner, Händler, Stammesführer) zufrieden. Umso mehr, weil die Hinrichtungen von Funktionären und Notabeln jenen Plätze offeriert, die es zuvor nicht sein konnten, und weil die neue Bürokratie (bis jetzt) weniger parasitär scheint als die vorhergehende.

Der IS offeriert den Ärmsten einen Ausweg, denn er ist, abgesehen von seinem karitativen Aspekt, ein potenzieller Arbeitgeber für das überschüssige Proletariat, das nicht ausgewandert ist. Die religiöse Mobilisierung und der Eroberungskrieg (gegen aussen) verschaffen in erster Linie Zehntausenden von Proletariern und somit Familien ein Einkommen (der Sold wird pünktlich überwiesen). Der gesellschaftliche Aufstieg innerhalb der Bewegung kann schnell gehen (im Gegensatz zu Al Qaida, wo die Anführer in der Regel den gesellschaftlichen Eliten entstammen). Doch es kommen noch die Infrastrukturprojekte und die vom Regime eingeleiteten Wiederaufbauarbeiten dazu, eine Art „keynesianische“ Ankurbelung finanziert durch die Kriegskasse des IS. Da er Steppen und Wüsten kontrolliert, unterstützt er auch die armen Bauern und Beduinen dieser peripheren Regionen, die von den anderen Regierungen vernachlässigt worden sind, oder verspricht, dies zu tun.

In den Gebieten im Irak und Syrien, die der IS kontrolliert, scheint er eine Verbindung zwischen den Interessen eines Teils der kapitalistischen Klasse, doch auch eines Teils des Proletariats herzustellen, womit er die Errichtung einer Gemeinschaft erzwingt, die Träger des sozialen Friedens ist. Obwohl die gesellschaftliche Herkunft der Anführer nichts beweist, sollten wir nicht vergessen, dass die Schuras und beratenden Räte, welche dem Kalifen in seiner Aufgabe zur Seite stehen [siehe den ersten Teil], aus Imamen, Notabeln der Städte und Stammesführern bestehen. Wir sind also weit entfernt von Arbeiterräten.

Der Islam als Verstärkung?

Inmittten dieser Zerfallserscheinungen hat der Islam die bemerkenswerte Eigenschaft, eine unmittelbare Gemeinschaft anzubieten (die sich in der tatsächlich von ihm organisierten Solidarität manifestiert) und sich gegen das Geld und die Grenzen zu behaupten. Dieser letzte Aspekt ist nicht zweitrangig. Für einen (muslimischen, katholischen oder nicht gläubigen) Franzosen zählt die Grenze wenig, denn er ist frei, zu reisen, obwohl er gleichzeitig die Garantie eines nationalen Rahmens hat, innerhalb welchem er, solange er den Gesetzen gehorcht, in den Genuss eines minimalen Schutzes und einer minimalen Unterstützung kommt: In einem Wort, er hat einen Staat. Die Hälfte der Afrikaner und etliche Orientale kennen das Glück dieses ‚grossen, bequemen Gefängnisses‘ (Max Weber) nicht. Das Territorium, wo sie leben, ist dem Risiko ausgesetzt, von unkontrollierten Banden durchstreift und verwüstet, ihre kärgliche Habseligkeiten jenem, zerstreut, und ihre Familie jenem, umgesiedelt oder dezimiert zu werden. Sie leiden gleichzeitig unter einem diktatorischen Staatsapparat und seiner Auslöschung. Sie privilegieren somit umso eher eine transnationale Gemeinschaft, weil der Nationalstaat für sie ein Betrug ist: Die Umma der Gläubigen erscheint als Ausweg und die Scharia als Stabilitätsfaktor.
 

Scheinbar ist keine religiöse Autorität fähig, zu beurteilen, wie islamisch oder nicht der IS ist [67]. Einige behaupten zwar, er habe „nichts mit dem Islam zu tun“. Wir sind noch viel ungeeigneter, die Sache zu beurteilen, weil für uns der Glaube an Gott natürlich ein Synonym für Entfremdung ist. Wir begnügen uns also damit, zu bemerken, dass der IS selbst die Gesamtheit seiner Handlungen, Schriften und Aussagen durch eine sehr wörtliche Lektüre des Korans und eine sehr strenge der Hadithe erklärt und rechtfertigt.

Das Problem liegt nicht im Exzess der Gläubigkeit, genauso wenig wie die Lösung in seiner Mässigung liegt. Es ist nicht irrationaler ans Paradies (und somit an die geringe Bedeutung des irdischen Lebens), an das Bevorstehen der Apokalypse, an die Rückkehr des Kalifats zu glauben, als an die „schlichte“ Existenz eines Gottes. Und wenn man die Realität eines Paradieses anerkennt, reicht manchmal ein (grosser) Schritt, um es auf Erden für umsetzbar zu halten.

Gemäss gewissen muslimischen Theologen beweisen etliche Zeichen, allen voran der Krieg in Syrien, dass das Ende der Zeit, die Stunde des Endkampfes gegen Satan nahe ist. Der Wiederaufbau des 1258 durch die Eroberung Bagdads durch die Mongolen verschwundenen Kalifats ist Teil dieses Rahmens und stellt die „Erfüllung eines alten Traumes“ [68] dar.

In sehr stark säkularisierten Regionen wie Frankreich scheint das verrückt und man ist versucht, darauf mit Sarkasmus zu antworten. Da wir an tolerierte, da lauwarme, gemässigte und dialogbereite Religionen gewöhnt sind, ist es für uns schwierig, das Märtyrertum oder die Eschatologie und noch schwieriger, das Zusammenspiel einer politischen (der Anspruch auf die Hegemonie des Kalifats) und einer religiösen Dimension (die angebliche eschatologische Verwirklichung des Islams) zu verstehen. Wir denken sofort an eine Scheinhandlung oder eine Instrumentalisierung. Die Religion ist jedoch nie ausschliesslich, ja nicht einmal besonders spirituell: Sie ist auch politisch, kulturell, wirtschaftlich und militärisch, ein sozialer Rahmen, der in gewissen Ländern sehr konkrete Formen annehmen kann (Aufteilung der Quartiere einer Stadt nach Konfessionen, wie z.B. in Beirut oder Belfast).

Das gilt umso mehr für den Islam, weil er auf einer Orthopraxie basiert: Muslim sein bedeutet, Praktiken zu respektieren (besonders die fünf Säulen). Der Respekt dieser Praktiken ist also mit einer Identität, mit einer Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einer Gemeinschaft verbunden, die im Mittleren Osten über den begrenzten Stammesrahmen hinausgeht und diesen umfasst. Künstlich? Nicht minder als die Nation oder die Baath-Partei, die ihre Ineffizienz als ideologischen Zement einer Gesellschaft bewiesen haben, die Proletarier und Bourgeois vereinen soll. Daher kommt die Bedeutung, welche die Aktivisten des Kalifats dem Respekt der Praktiken beimessen, der Teil der Erzeugung einer kulturellen und religiösen Homogenität ist (die nach Jahren des Bürgerkrieges schon fast „beruhigend“ ist); daher kommt die Tatsache, dass sie zuerst die schlechten Gläubigen (lasterhafte Sunniten, Korrupte usw.) angreifen. Die Aufgabe ist umso dringlicher, wenn sich die Apokalypse nähert, denn, „das Land des Islams muss von ungerechten Anführern, korrupten Ulemas, pervertierten Gläubigen und unzüchtigen Frauen gesäubert werden, um die Konfrontation des Glaubens und der Gottlosigkeit vorzubereiten. Das Schwert der Rache wird zuerst die Heuchler, dann die Ungläubigen treffen“ [69]. Doch es geht nicht nur um zu vergiessendes Blut, sondern darum, einen Staat aufzubauen, wo die Muslime, die Unterdrückten ein Refugium finden und ihre Religion vollständig leben können werden, während sie sich materiell und spirituell auf den Endkampf vorbereiten. Eine Praxis begründet die Existenz eines Territoriums.

Wenn die Religion die Massen mobilisiert, schliesst das Aufrichtigkeit aus? Ein Frage, die häufig bezüglich der Anführer des Kalifats und der ehemaligen baathistischen Offiziere gestellt wird, weniger häufig bezüglich der einfachen Aktivisten (immer diese Dichotomie zwischen den Manipulatoren und den Dummköpfen). Man äussert in der Regel Zweifel darüber, wie echt Sympathien für Werte oder Ideen sein können, die uns empören.

In der Politik (genau wie im Leben) ist der totale Zynismus oder die totale Naivität selten. Es ist egal, ob Al Baghdadi an Gott glaubt oder nur an Geld [70]. Für die ehemaligen irakischen Offiziere war die Mitgliedschaft in der Baath-Partei noch lange nicht gleichbedeutend mit dem Eintreten für die baathistische Ideologie. Man weiss hingegen, dass Saddam Hussein ab 1991 den Islam wieder aus den Schachteln der Geschichte ausgepackt hat und dass der Marxismus kein Impfstoff gegen die Religion ist (siehe seinen Einfluss bei den Gründern der Hezbollah oder dem Islamischen Jihad in Palästina).

Was wichtig ist, ist die irgendwann entstehende Anschlussmöglichkeit zwischen einem Glauben und einer Situation. Die islamische Geschichte ist reich an revolutionären Bewegungen, welche die millenaristische Dynamik mehr oder weniger geschickt instrumentalisiert haben und apokalyptische Texte erleben seit den 1970er Jahren einen zweiten Frühling, der sich ab 2001 noch verstärkt hat (im Internet oder als Broschüren). Jean-Pierre Filiu, der nicht vom französischen Politikbetrieb sprach, schrieb 2008, dass „eine subversive Gruppe, die verzweifelt den ‚Weg der Massen‘ wiederfinden oder sich von rivalisierenden Formationen unterscheiden will, in starke Versuchung kommen kann, sich der messianischen Thematik zu bedienen: Sie kann als Anschlussdiskurs, als Interpretationswerkzeug oder als Gründungsgeschichte dienen, mit einer beträchtlichen Wirkung“ [71].

Das trifft in Bezug auf den IS sehr wohl zu, diese Diskurse erhalten heute in der muslimischen Welt einen direkt politischen Sinn und konkretisieren sich im Krieg im Mittleren Osten. Es ist freilich absurd, zu glauben, dass es im 21. Jahrhundert in Syrien zu grossen Schlachten zwischen den Römern und den vom Mahdî (dem „rechtgeleiteten Imam“) angeführten muslimischen Truppen kommt und dass Jesus auf dem weissen Minarett der Moschee von Damaskus erscheinen wird, um an der Endschlacht gegen Satan teilzunehmen [72]. Aber wenn diese Idee Zehntausende von Kämpfern antreibt, die überzeugt sind, dass sie an einem historischen revolutionären Bruch teilnehmen, der eine neue Ära einleitet, dann wird die Idee zu einer „materiellen Kraft“. Sie zu verstehen bedeutet, ihre gesellschaftlichen Grundlagen zu erfassen, doch auch „die kulturelle, zeitlich-räumliche Distanz“ (Salazar) zu messen, welche uns vom Jihadismus des Kalifats trennt. Als Engels die Bauernkriege im 16. Jahrhundert untersuchte, nahm er die Ideen (die Reformation, die millenaristischen Glaubensformen) als historischen Faktor ernst, ohne zu glauben, dass sie die Welt antreiben. Wir haben Mühe, dem IS die Stirn zu bieten, weil wir die Religion fälschlicherweise für einen Sterbenden halten, der nur noch knapp überlebt.

Prolos, Utopisten und Reaktionäre?

Die Wirklichkeit der Demokratie ist mir dann klar erschienen: Es geht darum, im Geist der Leute die Idee der Freiheit zu unterhalten und sie davon zu überzeugen, dass sie ein freies Volk sind, gleichzeitig stehen die people und eine falsche Realität im Vordergrund, um sie davon abzulenken, was wirklich geschieht, wodurch unter den Abendländern eine haarsträubende politische Ignoranz genährt wird.
 
Jake Bilardi, australischer Jihadist [73].

Die ausländischen Jihadisten sind auf den Titelseiten der Zeitungen im Westen und im Kalifat. Wie viele sind es? Man weiss es nicht, mehrere Tausende auf jeden Fall, vielleicht zwischen 15‘000 und 30‘000, die aus fast hundert Ländern gekommen sind, um sich dem IS anzuschliessen [74]. Die Hälfte kommt aus dem Mittleren Osten (Saudis, Türken, Jordanier usw.) und aus dem Maghreb (hauptsächlich Tunesier), mehrere Tausend aus der EU (davon 60% aus Frankreich, Grossbritannien und Deutschland). Davon sind 1‘500 bis 2‘000 Franzosen, wovon viele schon zurückgekommen sind.

Nicht alle, die sich dem Kalifat anschliessen, tun dies, um sich in seiner Armee zu engagieren (30‘000 bis 100‘000 Mann). Die Frauen in erster Linie (10% aller Freiwilligen, siehe weiter unten), sie sind von der Front ausgeschlossen. Doch der IS hat alle Muslime zur hijra (Einwanderung, Hedschra) aufgerufen, besonders die Kader, Ingenieure, Lehrer usw. Wenn sie ankommen, bekommen die Freiwilligen eine Aufgabe, die ihren Kompetenzen und den Notwendigkeiten des Moments entspricht. Einige begnügen sich jedoch damit, dem Aufruf zu folgen, im Land des Islams zu leben: Franzosen haben z.B. in Raqqa zwei Restaurants eröffnet.

Wir werden das Ausmass des Phänomens nicht mit Abenteuerlust oder Faszination für Gewalt erklären: Diese Motive existieren, betreffen allerdings nicht spezifisch den IS. Wir werden nicht mehr davon verstehen, indem wir es der Unwissenheit, der Pathologie, der Kindheit, den Familienproblemen oder der mentalen Manipulation via Internet zuschreiben, Erklärungen, die v.a. den Spezialisten für „Entradikalisierung“ von jihadistischen Teenagern als Broterwerb dienen [75]. Es gibt kein typisches Profil des Jihadisten, doch man kann sie in zwei Gruppen aufteilen:

Die erste besteht aus jungen Proletariern, die hauptsächlich der Einwanderung aus dem Maghreb entstammen und in den Vorstädten aufgewachsen sind. Es handelt sich v.a. um Männer, die älter als 20 Jahre sind. Es ist ein Profil des Jihadisten, das die „Spezialisten“ als klassisch betrachten, ähnlich jenem, das in den 1990er Jahren existierte. Die Figur des kleinen Gangsterbosses, der mit Shit dealte und sich im Gefängnis radikalisiert hat, existiert, ist jedoch nicht die Regel.

Die zweite (wachsende) Gruppe bringt Jugendliche aus den (gar höheren) Mittelklassen zusammen, davon viele Teenager und Jugendliche (30 bis 40%) und Mädchen (30%). Dieses Phänomen ist scheinbar sehr fühlbar in Europa seit 2013, jene Periode, wo sich die Situation in Syrien stark verschlechtert und u.a. der IS auftaucht.

Obwohl sie voller Hass für die Gesellschaft, orientierungslos oder auf der Sinnsuche sind, versteht man kaum, wieso diese Jugendlichen von einem Land angezogen sind, wo man seine Zeit damit verbringt, armen Leuten die Kehle durchzuschneiden und sie zu köpfen. Vielleicht weil die Hinrichtungen und die Grausamkeiten, die von den Mainstream-Medien reichlich verbreitet werden, nur 2% der vom Kommunikationssektor des Kalifats im Internet verbreiteten Bildern repräsentieren [76].

Suche nach Gerechtigkeit

Das, was die soziale Kontrolle und die Polizei „Radikalisierung“ nennen, entsteht in der Regel aus einem tiefen Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit und einer Bewusstwerdung: z.B. der Machtverhältnisse „Herrscher/Beherrschte“ in dieser Gesellschaft (aber nicht ihres Klassencharakters), des „Systems“, der Gewalt, welche die syrischen und palästinensischen Bevölkerungen unter dem passiven Blick der Abendländer erdulden müssen usw.

Zu diesem Zeitpunkt muss man sich fragen, warum die Antworten der Anarchistischen Föderation (einfaches Beispiel) sich nicht aufdrängen. Die schwache Verbreitung des Monde libertaire ist wahrscheinlich nicht der einzige Grund dafür.

Die Antworten des IS sind nicht nur radikal bezüglich ihrer Stigmatisierung des dekadenten Westens, der korrupten Golfstaaten und des Zionismus, sie stützen sich auch auf eine konkrete Praxis und die Möglichkeit unmittelbarer Lösungen: Das Kalifat präsentiert sich als militärische Festung gegen die Grausamkeiten des Assad-Regimes, als Beistand für die Bevölkerungen (soziale Verbesserungen, Spitäler, Waisenhäuser usw.) und als ein Werkzeug des göttlichen Willens, dem man sich nur anschliessen muss, um die Welt zu verändern. Und falls nötig wird das Flugticket bezahlt.

Religion des Bruches

Die Konversion zum Islam ist eine obligatorische Etappe, die alle Jihadisten aus dem Westen charakterisiert. Unter ihnen sind viele „Biofranzosen“ (25 bis 30%), die nicht in der muslimischen „Kultur“ aufgewachsen sind. Jene, welche darin aufgewachsen sind, betrachten sich in der Regel auch als Konvertiten: Es sind die born again, jene, welche zurück zum Islam finden [77].

Der Islam füllt, wie man sagt, die „metaphysische Leere“, die typisch ist für unsere Gesellschaften, jene einer Jugend auf der Suche nach einer Identität und Rückhalt und es ist in allen Fällen ein Bruch. In erster Linie mit dem dekadenten Westen; einige Autoren sprechen sogar von einer Jugend, welche „die Ideale vom Anti-Mai-68 verkörpert“ [78], phasengleich mit den angesagten reaktionären Autoren und sie sind, wie die jungen Demonstranten der Demonstration für alle, gegen die Lockerung der Normen, die Auflösung der Autorität, die Patchworkfamilie usw. Es ist jedoch auch ein Bruch mit dem ursprünglichen Milieu und der Familie, denn der marokkanische, genau wie der algerische oder der französische Islam ist nicht „der richtige“, während jener des Kalifats als am nächsten bei den Schriften präsentiert wird.

Man versucht in der Regel, die Jihadisten lächerlich zu machen, indem man sich über die Schnelligkeit ihrer Konversion und ihre geringen religiösen Kenntnisse lustig macht (aber wie viele Katholiken könnten die heilige Dreieinigkeit erklären?) Der Islam ist allerdings eine Religion, in welcher die Konversion besonders leicht ist; um Muslim zu werden, genügt es, die chahada auszusprechen und dann die fünf Säulen zu respektieren. Danach steht es dem Gläubigen frei, sein ganzes Leben dem Studium der Schriften zu widmen.

Antirassismus

Der IS trägt einen antirassistischen Diskurs zur Schau (auch hier mit einer Verurteilung des Westens): Seine Kämpfer sind Teil einer „multiethnischen Armee“ und seine Medien legen Wert darauf, Bilder von Jihadisten mit verschiedenen Hautfarben zu zeigen. Das Kalifat fühlt sich berufen, die Gemeinschaft der Gläubigen zusammenzubringen, auch Ethnien, die bis anhin seine Gegner waren oder sich anderswo gegenseitig bekämpfen. So kämpfen etliche Kurden in seiner Armee: Sie sollen während der Schlacht von Kobanê 50% seiner Truppen ausgemacht haben [79]. Mindestens einer der sieben Anführer des IS ist ein irakischer Turkmene.

Populismus

Die Freiwilligen sind auch empfänglich für den Aufruf des Kalifats zur Revolte. Jene der Guten (die Ausgeschlossenen, die Opfer, jene von unten, welche Widerstand leisten und sich engagieren) gegen die Bösen (die Reichen, die Korrupten, die „Verdorbenen“, die Eliten, die Intellektuellen, die Presse). Die Klassenspaltungen sind hier ziemlich egal, alles ist eine Frage der zu treffenden Entscheidung, sich dem Lager des Guten, jenem des IS anzuschliessen.

„Der Jihadismus des Kalifats enthält alle Attribute eines starken Populismus, der Revolutionen herbeiführt. […] Die Tatsache, dass dieses ‚Volk‘ religiös normiert wird, ändert nichts am Prozess. Es wird Zeit, dass man dies erkennt, denn es zeichnet sich eine Bewegung der populistischen Wiederverzauberung der Welt ab. Eine Häufung von spontanen und Gruppenhandlungen verursacht langsam eine Bewegung des kollektiven Bewusstseins. Und diese wachsende Bewegung wird zur konstitutiven Logik des ‚wahren, guten Volkes‘, ein brutales Auftauchen des ‚Volkes‘, das eine unwiderstehliche politische Form annimmt und sich gegen die designierten Feinde durch eine radikale Feindschaft manifestiert.“ [80]

Die Figur des „negativen Helden“

Man hat das jihadistische Engagement mit anderen bewaffneten Mobilisierungen von Aktivisten verglichen [81]. Der Vergleich ist nicht nur falsch, weil eine Sache gut wäre (gegen den Faschismus und für die Revolution zu kämpfen) und eine andere schlecht (eine Religion durch Zwang in der Welt zu verbreiten). Die vom Jihad gebotene „romantische Exotik“ unterscheidet sich stark von ihren linken und auf die Dritte Welt bezogenen Präzedenzfällen. Das 21. Jahrhundert fällt zeitlich mit der Entstehung einer der ersten Generationen zusammen, die glaubt, dass die Zukunft nicht besser sein wird als die Gegenwart, wahrscheinlich eher schlimmer, und dass die Politik daran nichts ändern kann. Wenn sich jegliches kollektives politisches Projekt verflüchtigt, das Träger von Hoffnung ist, ist die Bühne frei für den schwarzen Helden (die Farbe der Piraten, der Anarchisten, der Faschisten und der Jihadisten), den Extremisten, der die Gesellschaft in Angst und Schrecken versetzt, eine absolut hassenswerte Figur. Und somit besonders faszinierend.

Ein Kalifatsfeminismus?

Wenn man sich im absoluten Gegensatz zur westlichen Kultur platzieren will, ist die Hausfrau eine alternative Figur. [82]

Es gibt keine kompetente feministische Autorität, um zu beurteilen, ob der Islamische Staat feministisch ist oder nicht. Das mag überraschend erscheinen, doch die Frage quält zweifelsohne die Spezialisten und Journalisten, die sich für die Frage der jihadistischen Frauen interessieren und das Wort Feminismus ist stets präsent in ihren Texten, er wird verschieden charakterisiert: „Kalifats-“, „Pseudo-“, „fehlgeleitet“, „verdreht“, „Post-“, „Anti-“ usw. Die jüngsten sprechen gar von einem Jihad Version girl power.

Der „islamische Feminismus“ ist in den 1990er Jahren entstanden. Die Aktivistinnen, die sich auf ihn berufen, entnehmen ihre Inspiration und ihre Rechtfertigungen den Suren des Korans, die gemäss ihnen eine Botschaft der Gleichheit und der Gerechtigkeit offenbaren. Die vorislamische Periode, die Jahiliya, eine Ära der Unordnung und der Ignoranz, sei in Arabien durch Laxheit, Promiskuität und eine unkontrollierte Sexualität charakterisiert gewesen. Der Islam bereitet dem ein Ende, indem er im Koran die Fragen der Heirat, der Abstammung, des Erbes usw. genau kodifiziert oder indem er gebräuchliche Praktiken (wie die Polygamie) juristisch umrahmt und begrenzt. Die Kontrolle über die Frauen und ihre Sexualität, die sich daraus ergeben hat, wird also historisch als Synonym für Ordnung, Ausgeglichenheit und Frieden wahrgenommen [83]. Es handle sich hier um einen grossen Fortschritt für die Frauen, der erklärt, warum Mohammed als „eine der grössten universellen Figuren des Feminismus“ [84] betrachtet werden kann.

Der IS charakterisiert sich nicht auf diese Art und Weise und beruft sich nicht auf den „islamischen Feminismus“, doch auch er sucht die Antworten auf die „Frauenfrage“ im Koran und in den Hadithe. Das Kalifat kann gegen die Frauen agieren und gleichzeitig so tun, als ob er sie im Zentrum der Gesellschaft platzierte und sie beschützte.

Sie beschützen? Und die ermordeten, vergewaltigten und versklavten schiitischen, christlichen und jesidischen Frauen? [Siehe den ersten Teil.] Sie verdienen dieses Schicksal, weil sie in der Logik des IS juristisch nicht in die Kategorie „Frauen“ gehören, dazu gehören nur muslimische Frauen. Diese Sichtweise wird natürlich von den Aktivisten und Aktivistinnen des Kalifats geteilt, die motiviertesten letzterer sind die ausländischen Jihadistinnen [85].

„Aktivistinnen“ und „motiviert“, weil ihr Engagement eine ernste Sache ist. Auch hier tendiert der westliche Diskurs eher dazu, sie als Opfer einer niederträchtigen Einreihung, der Manipulation oder der Geisteskrankheit zu betrachten; viel mehr als die Männer, da viel weniger fähig, diese Art von Entscheidung zu treffen. Und zudem kann sich, gemäss einer immer noch sehr verbreiteten, essentialistischen Sichtweise, „die Frau“, die das Leben schenkt, nicht dem Lager des Bösen und des Todes anschliessen. Doch man kann sich beruhigen, der IS hat ähnliche Standpunkte.

Die Frauen repräsentieren 10% der ausländischen Freiwilligen. Unter ihnen sind mehrere Hundert Abendländerinnen, wovon viele Französinnen oder Britinnen sind, die meisten davon jung (häufig zwischen 15 und 25 Jahren), in der Regel gebildeter als ihre männlichen Kollegen und entstammen häufiger den Mittelklassen. Für einige ist diese Entscheidung eine Art Emanzipation (oder zumindest eine Flucht) gegenüber dem familiären und kulturellen Herkunftsmilieu, zumindest ein Akt der Autonomie und der Übernahme von Verantwortung, der „flagrant mit der ‚kulturellen Strategie‘ eines in Europa eingebürgerten Islams kontrastiert, der allen voran den Mann privilegiert“ [86].

Ihre Motivationen ähneln jenen der Männer: ein Gefühl der Ungerechtigkeit in Anbetracht des Leides des syrischen Volkes, eine Revolte gegen die von den Musliminnen im Westen erduldeten Diskriminierungen, der Wunsch, konkret zu helfen (eher humanitär als militärisch), aber auch die Lust, ihre Religion frei zu leben (Ganzkörperschleier, komplette Geschlechtertrennung usw.).

Obwohl eine sehr mediatisierte Handvoll von ihnen für die Polizei von Raqqa arbeitet, ist die Hauptfunktion der Frauen im Kalifat alles andere als sekundär: Ehefrauen und Mütter zu sein. Für diese Frauen, die nicht mit der AK47 an der Front stehen können, ist das eine Form des Jihad: „Es gibt für sie keine grössere Verantwortung als jene, die Frau ihres Mannes zu sein“ und „die Grösse ihrer Stellung, das Ziel ihrer Existenz ist die göttliche Aufgabe der Mutterschaft“ [87].

Die in unseren Gesellschaften eher abgewertete traditionelle Rolle der Mutter/Hausfrau wird vom Kalifat als jene „einer revolutionären Akteurin einer radikal alternativen Gesellschaft“ [88] präsentiert.

Hinzu kommt diese merkwürdige „Verlockung der Abhängigkeit“ [89], diese beruhigende Unterwerfung. Doch jene der Ehefrau unter den Mann sei nur relativ, formell, denn beide sind direkt Gott unterworfen (Colette Guillaumin würde vielleicht von „göttlicher Aneignung“ sprechen). Die Wahl des Ehemannes ist jedoch nicht bedeutungslos, man überquert Kontinente, um ihn zu finden. Wir sprechen nicht von einem besonderen Individuum, sondern vom idealen Mann. Er existiert, er riskiert sein Leben im Namen Gottes auf dem Schlachtfeld, es ist der Jihadist: ein frommer, ehrlicher, aufrichtiger, treuer, mutiger, starker, viriler und beschützender Mann, der an die Ehe und die Familie glaubt [90]. Ein Mann der, das wissen die Leser von Soral und Zemmour sehr gut, in Frankreich nicht mehr existiert. Hunderte von jungen Frauen gehen nach Syrien, um einen solchen Mann zu heiraten und mit ihm eine Familie zu gründen. Das ist ihre Hauptaufgabe [91]. In den Städten des Kalifats sind gar Ehevermittlungsagenturen eröffnet worden, um die Eheschliessungen zwischen Jihadisten, aber auch zwischen Einheimischen zu erleichtern.

Die Schreiberlinge des IS stimmen mit den reaktionären Autoren in Frankreich [92] überein in ihrer Proklamation des „Scheiterns des westlichen Frauenmodells“ [93], dem sie vorwerfen, dass es weder die Frauen (die dazu gezwungen werden, mit Männern in Kontakt zu kommen, denen erlaubt wird, nackt zu sein, aber nicht, einen Nikab zu tragen) noch die Familie (Ehe für Homosexuelle, Abtreibung) respektiert. Ausgehend von einer Feststellung, die von radikalen Feministinnen geteilt werden könnte, nämlich jene einer falschen Gleichheit, die umso perverser ist, weil sie den Frauen einreden will, dass sie frei sind, geht der IS zu einem Diskurs über, der eine Logik der Unterscheidung und eine wirkliche Komplementarität der Geschlechter unterstützt.

Es ist nicht einfach, die in sozialen Netzwerken zum Vorschein kommende „Subkultur der jihadistischen girl power“ oder „das empowerment auf jihadistisch“ [94] vom Tisch zu wischen. Der Feminismus hat im Westen einen Teil seines Programms verwirklicht, er wird häufig verzerrt dargestellt, ist jedoch konsensuell geworden, seine Errungenschaften sind selbstverständlich, die Gleichheit zwischen Männern und Frauen wird überall verkündet, die „Gender-Theorie“ wird in der Schule gelehrt – die Ungleichheiten bestehen allerdings fort. Diese Widersprüche sind ein gefundenes Fressen für den extremen Islam und geben ihm ein nonkonformistisches Flair.

Indem es der Ehe seiner Aktivisten und ihrer Familie (wir haben im ersten Teil gesehen, dass es verschiedene Prämien und Zuschüsse eingeführt hat) eine derartig grosse Bedeutung beimisst, verankert das Kalifat sein Projekt entschlossen in der Zukunft. Es geht darum, die Hervorbringung von künftigen Kämpfern und Proletariern zu garantieren (die Pille ist auf seinem Territorium natürlich verboten). Die jihadistischen Frauen, eine Art Avantgarde, spielen also eine gewürdigte Rolle und sind besonders respektiert und beschützt.

„Besonders kontrolliert, wollt ihr sagen! Das ist alles nur patriarchalischer Diskurs und Heuchelei!“ Zweifellos, doch die Ideologie des Kalifats ist so und, egal, was man davon hält, funktioniert.

Die zunehmende Beteiligung der jihadistischen Frauen ist dennoch eine Quelle der Besorgnis für die jihadistischen Männer, denn die weibliche Initiative frischt in ihren Gedächtnissen stets die Konflikte der Jahiliya [95] auf. Olivier Roy spricht diesbezüglich in Bezug auf den syrischen Jihad von einer „widersprüchlichen Modernisierung“.

Ein Kalifat gegen die Globalisierung?

Im Gegensatz zur „alten“, pyramidalen, geheimen, autoritären, transnationalen Al Qaida sieht sich Daesch als modern, offen, verwurzelt und urban. [96]

Was sofort auffällt, wenn man sich mit dem Kalifat befasst, sind die Zentralität der Religion, die übertriebene Gewalt und die offene Intoleranz. All das verbunden mit der totalitären Absicht einer gesellschaftlichen Harmonie und der Suche nach einem inneren Ausgleich [97].

Ausserhalb ihres Zusammenhangs erzeugen einige Projekte und Praktiken des Kalifats allerdings ein unerwartetes Echo. Sein Programm enthält nämlich den Kampf gegen die Korruption und die Finanzspekulation (Verbot des Wuchers), die Schaffung einer alternativen Währung (Geldstücke aus Gold, Silber und Kupfer, eine Anspielung auf die abbasidischen Dinaren und Dirhams, d.h. eine „echte“ Währung, um sich dem herrschenden Währungssystem zu entziehen), die Aufwertung des öffentlichen Dienstes, die Dezentralisierung der Macht durch die regionale Autonomie, die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie (und der Demokratie „an und für sich“, der IS verteidigt eine Art „organischen Zentralismus“ unter göttlicher Herrschaft), die Abschaffung der Grenzen, der Kampf gegen den Rassismus, ohne die Ablehnung des ungezügelten Konsums und der Unterwerfung unter die Marken zu vergessen.

Ein Diskurs, der von den Globalisierungsgegnern kommen könnte, wenn er sich auf Le Monde diplomatique und den Subcommandante Marcos, statt auf den Koran und den Kalifen Ibrahim beziehen würde. Ja, der IS sieht sich als mittelalterlich, aber modern, „egalitär, universell und multiethnisch“ [98].

Haben die Worte hier noch einen Sinn? Nicht mehr oder weniger als anderswo. Der IS verfolgt offensichtlich weder praktisch noch theoretisch eine Kritik des Kapitalismus, er (und durch ihn ein Teil der lokalen Bourgeoisie) versucht, gewisse, ihm am wenigsten erlaubt, am störendsten scheinende Aspekte zu verändern, andere werden angepasst. Obwohl gewisse Praktiken extrem sind, tönen die Diskurse häufig sehr inhaltslos. Und obwohl man darin vertrautere Reime entdeckt, handelt es sich nicht dermassen um eine „Vereinnahmung“, sondern um eine Nivellierung nach unten, was nicht neu ist: Die extreme Rechte verurteilt auch schon lange die Auswüchse und Exzesse des Kapitalismus. Finanzkapitalismus, versteht sich [99]. Er ist die Quelle allen Übels, umso mehr als man leicht einige Dosen Verschwörungstheorien und Antisemitismus beifügen kann. Klassenverhältnisse, Ausbeutung, Mehrwert und andere alte Zöpfe verschwinden also in der Versenkung, was das Vokabular einfacher macht und alle sind einverstanden. Doch um zu existieren, muss der IS das „Gesellschaftliche“ in den Mittelpunkt seiner Rede stellen.

Dem westlich inspirierten, liberalen Mondialismus, der den Planeten beherrscht, setzt der IS eine weltweite Alternative entgegen, einen anderen Mondialismus, der offen die Zerstörung der lokalen Besonderheiten auf seine Fahnen schreibt, allen voran innerhalb des Islams, wo er die mystischen (Sufismus) oder magisch-medizinischen (Marabutismus) Praktiken bekämpft.

Auf diesem Terrain steht er in Konkurrenz mit der wahhabitischen Ideologie, die weltweit von der saudischen Monarchie verbreitet wird. Der salafistische Universalismus des Kalifats ist dennoch anders, subversiv, zwar nicht links, doch zumindest populistisch (er verträgt sich ziemlich gut mit der ehemaligen sozialistischen Färbung der Baath-Partei) und es ist für ihn ein leichtes Spiel, die Saudis als Apostaten, Korrupte und Verbündete der USA zu qualifizieren.

Um seinen anderen Konkurrenten, die nebulöse Al Qaida mit ihren Versprechen einer strahlenden Zukunft zu überholen, hat der IS den Vorteil der durch den Aufbau einer konkreten „Utopie“ auf dem Terrain repräsentierten Anziehungskraft. Denn, obwohl die Aktivisten an ein Jenseits glauben, möchten sie nicht bis morgen warten, um eine bessere Welt aufzubauen, und ziehen es vor, schon heute in Übereinstimmung mit ihrem Glauben zu leben. Indem sie das Kalifat aufbauen, beweisen sie, dass es möglich ist, hier und jetzt zu handeln, um die Welt zu verändern.

Welche Veränderung? Die Versprechen einer leuchtenden Zukunft haben keinen grossen Erfolg mehr, die Parole des Kalifats ist „Rückwärts immer, vorwärts nimmer!“ Im Islamischen Staat sind die neuen Reaktionäre genau wie in Frankreich nicht (nur) Intellektuelle, sondern auch entpolitisierte Aktivisten, die Werte, eine Ethik verteidigen: born again Salafisten, Demonstration für alle, Verteidigung der Familie, der Traditionen, eines Territoriums, des Bodens usw. Wenn der Einbruch des Kapitalismus die Wurzel aller Übel, aber zum Ende der Geschichte geworden ist, was tun, wenn nicht in die Zeit „davor“ zurückkehren und in diesem Fall, weshalb nicht ins Mittelalter? Wenn schon, dann ein Goldenes Zeitalter.

Für seine Aktivisten ist das Kalifat die Dawla. Der Begriff wird gemeinhin mit Staat übersetzt, doch er bedeutet auch „die Idee der Revolution, d.h. die Umwälzung der Welt hin zur Frömmigkeit und zum Gesetz Gottes“ [100]. Revolution oder Wiederaufbau einer alten Ordnung? Im ersten Teil übernahmen wir die berühmte Formel aus dem Gattopardo „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass sich alles verändert“ […]. Der IS bietet eine präkapitalistische Identität an, das Ideal des Arabiens des 7. Jahrhunderts, ein Händler- und Kriegerideal, eine magische Formel, um dem Leben einer verlorenen, unter die Werte der Modernität unterworfenen Jugend neuen Sinn zu geben: Individualismus, Materialismus, Konsum und Hedonismus [101].

Trotz seinem Separatismus und seiner Masslosigkeit ist der Diskurs des Kalifats allerdings, genau wie der vernünftigere Alternativismus, an den wir uns gewöhnt sind, ein Diskurs, der vom herrschenden System hervorgebracht wird, und sein Projekt eine Alternative innerhalb des Bestehenden. Das Kalifat kann nur überleben, wenn es wirtschaftlich mit dem Rest der kapitalistischen Welt verbunden ist. Die Vorliebe der Jihadisten für Sklaven bringt sie trotzdem nicht dazu, eine „auf der Sklaverei basierende Produktionsweise“ (wieder)aufzubauen, und die Lohnarbeit herrscht in Mosul genau wie in Mailand. Als Tagtraum und neue Phase eines Albtraums kann diese gigantische, reaktionäre ZAD rund um den Tigris und den Euphrat nur als monströse Variante einer kapitalistischen Weltordnung verstanden und bekämpft werden, dessen Feind sie vorgibt zu sein.

Angesichts der Ungewissheit

Im Islam gibt es keinen Kommunismus.
 
Fatwa der Universität Al-Azhar, 1948.

Als Hoffnung für einige, Schrecken für viele andere ist der IS nicht Russland 1919 und das Spiel hat sowieso schlecht begonnen für einen Staat, der nicht den Vorteil der unendlichen Weite oder der Entfernung eines Territoriums hat, wo er seine „Utopie“ aufbauen kann. Der relative Eintritt der Türkei in die internationale Koalition gegen Daesch verändert die Ausgangslage, indem er die vitalen Warenflüsse stört oder blockiert. Die Zeit läuft in diesen letzten Jahren besonders schnell und das Kalifat steht wohl nicht vor seinen sieben fetten Jahren. Falls es nicht zu einer grossen historischen Überraschung wie dem Zusammenbruch der syrischen Armee, gefolgt vom Fall von Damaskus und der Destabilisierung Libanons, Jordaniens oder Saudi-Arabiens [102] kommt, ist das mittelfristige Überleben dieses Staats nicht sehr wahrscheinlich.

Tatsächlich hat der IS seine Macht, sein Prestige und seine Finanzen seinen kriegerischen Eroberungen zu verdanken. Die Stagnierung an den Fronten, die taktischen Rückzüge und die unaufhörlichen Bombenangriffe werden gleichbedeutend mit seiner Niederlage sein.

Nach einer langen Phase des containment haben die Abendländer scheinbar entschieden, zum rollback des IS überzugehen. Ihre Strategie war bis anhin vorsichtig, sie bestand darin, das Leben für die lokale Bevölkerung schwieriger zu machen: Ab dem Sommer 2014 befanden sich Kraftwerke, Mühlen und Getreidesilos unter den ersten Zielen der amerikanischen Luftwaffe. Die Vervielfachung dieser Luftangriffe ab dem Herbst 2015 und das Vorrücken der kurdischen und schiitischen Truppen haben zu einer Abwanderung der Bevölkerung innerhalb des Territoriums des Kalifats geführt, seine Verwaltung muss sich mit dem Verlust von Einnahmen und der Verwaltung der Flüchtlinge abfinden. Das medizinische Material wird immer seltener (der IS hat einen Operationstrakt als Lösegeld für eine Geisel verlangt [103]), der Nachschub immer schwieriger, die Steuern steigen und müssen im Voraus bezahlt werden usw. [104]. Die Schwierigkeiten an der Front zwingt die Behörden dazu, in gewissen Gebieten auf den Militärdienst zurückzugreifen, was Desertionen von Einberufenen zur Folge hat.

In Tat und Wahrheit ist es der Prozess der Normalisierung und der Staatsbildung, den wir im ersten Teil zu skizzieren versucht haben, der gefährdet ist. Das Kalifat wird somit eine Verminderung seiner „sozialen“ Fähigkeiten erdulden müssen, welche seine Stärke ausmachen; es wird sie nur mit Steuererhöhungen und vermehrter Repression kompensieren können, was zu einer Meinungsänderung eines Teils der Bevölkerung und gewisser Stammesführer führen wird. Es besteht dann das Risiko, dass die Meinungsverschiedenheiten wieder zutage treten (z.B. zwischen lokalen Notabeln und ausländischen Jihadisten).

Die westliche Strategie ist nicht sehr rücksichtsvoll, aber sie zahlt sich wahrscheinlich aus. Ausser sie hat, zusammen mit den zivilen Opfern der Bombenangriffe und dem Vorrücken der kurdischen und schiitischen Truppen, das Gegenteil zur Folge und schweisst die Einwohner hinter dem Kalifat zusammen. Die Chancen, dass sie von den Vorteilen der Demokratie und der Laizität überzeugt werden, sind hingegen ziemlich gering. Genau wie jene eines erneuten dauerhaften Friedens in der Region. Obwohl zum Tode verurteilt, wird das Kalifat wahrscheinlich langsam sterben (und vielleicht in wahrscheinlich anderer Gestalt auf anderen Kontinenten fortbestehen). Was die ausländischen Freiwilligen betrifft, scheinen sie durch das Spektakel nicht entradikalisiert zu werden...

Als utopisches Projekt zum Aufbau eines Staates auf komplett neuen Grundlagen bedeutet der IS weniger eine Radikalisierung als die Islamisierung einer Revolte, als Echo auf eine aktive Konfessionalisierung mehr oder weniger überall, von der konservativen amerikanischen Rechten bis in die französischen Vorstädte. Seine Gewalt hat nicht viel mit einem dem Islam eigenen Extremismus zu tun, sondern eher mit der Tatsache, dass sich der religiöse Fanatismus in einem Kontext des Bürgerkrieges und der ausländischen Interventionen entfesselt.

Es wäre sehr schade – und schädlich – wenn der soziale Protest in nächster Zeit jene Formen annähme, welche der IS heute skizziert. Hoffen wir, dass das nur ein schlechter Entwurf ist, der im Papierkorb landet. Jede Epoche sondert eine Art der Konterrevolution ab, die ihr eigen ist. In der Regel zerquetscht sie die Revolte der proletarischen Massen und leitet sie um, ausser sie drückt die Grenzen der Bewegung selbst aus. Am Anfang dieses 21. Jahrhunderts muss man anerkennen, das die konterrevolutionären Formen auf dramatische Art und Weise präventiv sind.

Was wird dabei herauskommen? Vergeltungsmassnahmen, neue Massaker, neue autoritäre Regime, Hass, Groll usw.

Unter dem Vorwand, dass wir uns dem Ende des Artikels nähern, werden wir nicht einem zweckmässigen Optimismus nachgeben, der uns auferlegen würde, zum Schluss zu kommen, dass die Revolution trotz allem unvermeidlich ist. Einige Gewissheiten, freilich. Der Zusammenbruch des Kalifats wird keine der Ursachen beseitigen, welche sein Auftauchen und seinen Erfolg begünstigt haben. Die Lösung wird nicht nur im Mittleren Osten skizziert werden. Eine Kriegsperiode ist abscheulich, umso mehr, wenn es ein konfessioneller Bürgerkrieg ist, und in der Regel kaum vorteilhaft für das Proletariat. Doch es ist auch eine Periode grosser Ungewissheit, die manchmal die tiefen, die Gesellschaft strukturierenden Verhältnisse nur sehr schlecht kaschiert…

Tristan Leoni, Dezember 2015.

Erster Teil

Einige Literaturverweise:

1) Zum Islamischen Staat (nach Relevanz)

Pierre-Jean Luizard, Le Piège Daech. L’État islamique ou le retour de l’histoire, Paris, La Découverte, 2015.
Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, L’État islamique. Anatomie du nouveau Califat, Paris, Bernard Giovanangeli Editeur, 2015.
Philippe-Joseph Salazar, Paroles armées. Comprendre et combattre la propagande terroriste, Paris, Lemieux Editeur, 2015.
Myriam Benraad, Irak, la revanche de l’histoire. De l’occupation étrangère à l’État islamique, Paris, Vendémiaire, 2015.

2 / Zur Religion

Troploin, "Le Présent d’une illusion", Lettre de Troploin, Nr. 7, Juni 2006.
Maxime Rodinson, Mohammed, München, C.J. Bucher, 1975 [1961].
Maxime Rodinson, Islam und Kapitalismus, Berlin, Suhrkamp, 1986 [1966].
Emmanuel Carrère, Das Reich Gottes, Berlin, Matthes & Seitz, 2016 [2014].
Gilbert Achcar, Marxisme, orientalisme, cosmopolitisme, Arles, Sinbad, Actes Sud, 2015.

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net.

Quelle

Dritter Teil: Warten auf Raqqa

Dieser Text folgt auf den Text „Kalifat und Barbarei“ und verlängert ihn, einen Text, der in zwei Teilen im November und Dezember 2015 auf dem Blog DDT21 [und in Buchform bei bahoe books 2016] veröffentlicht worden ist, es geht dieses Mal weniger um den Islamischen Staat selbst und mehr um das Schicksal seiner unmittelbaren Nachbarn, die syrischen Rebellen, die kurdischen Kräfte oder Bewohner, die aus dieser Zone des Chaos fliehen wollen.

Kalifat und Barbarei: Warten auf Raqqa

Werden wir besiegt und ihr siegreich sein, wenn ihr Mosul, Raqqa oder Sirte erobert? Selbstverständlich nicht. Die wahre Niederlage wäre der Verlust des Kampfeswillens.“
Abu Mohammed al-Adnani, Sprecher des IS, Mai 2016.
 
Ich bräuchte Leihproletarier, doch ich weiss nicht, wo ich sie finden kann.
Nikolai Erdman, 1925.

Der Islamische Staat befindet sich an allen Fronten im Rückzug und Raqqa, seine politische Hauptstadt, scheint im Begriff zu sein, in die Hände der vereinigten bewaffneten Kräfte der Freiheit, der Demokratie, der Laizität und vielleicht sogar des Feminismus zu fallen. Das war Ende 2015, doch acht Monate später hat sich daran nichts geändert. Aber obwohl das Kalifat immerzu stirbt, hat sich die Situation entwickelt und ein neues Kapitel beginnt.

1) Si vis pacem…

Es war stets eine Frage des Willens. Jener der an der irakisch-syrischen Krise beteiligten Länder, mit dem IS abzuschliessen oder nicht. Das ist heute der Fall, die Politik des containment wurde durch jene des roll-back ersetzt. Jeder hat gute Gründe gefunden, um aus dem IS den Hauptfeind zu machen: zu störend gewordenen Machenschaften ein Ende setzen; politische Notwendigkeit, auf Attentate zu reagieren (Libanon, Sinai, Frankreich) [105]; das Feld nicht den anderen Mächten überlassen usw. Das Schicksal der lokalen Bevölkerungen, man wird es erahnt haben, zählt hier kaum.

Baschar al-Assad hofft, von diesem Glücksfall profitieren zu können. Seine Armee, die Armee der arabischen Republik Syrien (AAS), ist wieder in der Offensive und kontrolliert den grössten Teil des „nützlichen“ Syriens. Sie hat die Unterstützung von diversen konfessionellen und politischen Milizen, vom libanesischen Hizbollah und v.a. die massive und direkte Unterstützung Russlands. Der andere gewichtige Bündnispartner Iran ist nach der Aufhebung der Sanktionen im Januar 2016 (die auf das Abkommen bezüglich seines Atomprogramms im Juli 2015 folgte) offiziell als Regionalmacht zurück in der Gemeinschaft der Nationen.

Obwohl sie allen voran einen Krieg mithilfe Stellvertretern wie den YPG und den schiitischen Milizen führen, beteiligen sich die USA immer mehr mit Bodentruppen im Irak und in Syrien. Eine Stationierung, die von den lokalen Bevölkerungen nicht immer geschätzt wird.

Jene Länder (Türkei und die Golfstaaten), welche eine Zeitlang versucht haben, den IS zu instrumentalisieren, haben schon lange auf andere Gruppen gesetzt und die syrische Opposition, das sollten wir nicht vergessen, wurde höflich gebeten, das Abtreten Assads nicht mehr als Vorbedingung für Verhandlungen zu verlangen.

Das liegt daran, dass sich die politische, diplomatische und militärische Lösung der syrisch-irakischen Krise abzeichnet. Aber das gemeinsame Ziel, dem Kalifat ein Ende zu setzen, ist keine Strategie und noch weniger ein Projekt für die Nachkriegszeit. Hier sind die Interessen verschieden oder einander entgegengesetzt und die Lösung eines Problems kann durchaus zum Auftauchen eines anderen führen. Vor Ort sind, wenn der IS einmal verjagt ist, nur schon die Spannungen zwischen selbsternannten Repräsentanten der Gemeinschaften spürbar. Die Übergriffe gegen die sunnitischen arabischen Bevölkerungen würden in diesem Chaos schon fast als nebensächlich gelten, wenn sie nicht Vorzeichen für eine düstere Zukunft wären. Es wird folglich nicht an Glut unter der Asche mangeln.

Der Irak ist auf dem Weg Richtung Status quo ante, d.h. die politisch-militärische Herrschaft der Schiiten und Kurden über das Land und die Erniedrigung der sunnitischen Bevölkerungen.

In Syrien zeichnet sich eine letzte Verhandlungsrunde ab, die womöglich zu einem kompletten Waffenstillstand, einer Regierung der nationalen Einheit und, in einigen Jahren, nach den Wahlen, zur Pension Assads in Russland führen werden. Jeder nimmt also grösstmögliche Happen, um gestärkt an diesen Tisch zu gelangen, wo das Land in Einflussbereiche unterteilt werden wird. Man versucht besonders, die kontrollierten Gebiete geographisch kohärent zu machen, damit die militärische Situation und die politischen Projekte endlich in Übereinstimmung sind. Z.B. indem eine autonome Region unter türkischem Einfluss im Norden des Landes erschaffen wird, daher die Konfrontationen um die Kontrolle von Aleppo, die davon die Hauptstadt sein könnte. Die Karte der Gefechte, die bis anhin eher einem Leopardenfell glich, tendiert dazu, sich zu vereinfachen.

Der Waffenruhe zwischen dem Regime und den Rebellen, die im Februar 2016 in gewissen Regionen in Kraft getreten ist, wird teilweise respektiert und erlaubt es den loyalistischen Truppen, sich auf den IS und die radikalsten Islamisten wie Al Nusra (der syrische Arm der Al Qaida) zu konzentrieren. Aus einer Position der Stärke heraus hat das Regime einen Prozess der „Versöhnung“ neu lanciert, der aus lokalen Abkommen mit kleinen Rebellengebieten besteht, die seit Monaten oder gar Jahren umzingelt und am Ende sind: Waffenstillstand, Niederlegung der Waffen, dann Amnestie für die Rebellen. Eine Rückkehr zur baathistischen Normalität, die von der UNO und Russland überwacht wird.

Es ist wahrscheinlich Zeit, sich ein letztes Mal für das richtige Lager zu entscheiden: Das erklärt die Brüche von Bündnissen, die Wenden und die Änderungen der Etiketten, Namen und Fahnen etlicher bewaffneter Gruppen. Denn in Syrien geben sich die beteiligten Parteien einer chaotischen Jagd auf die Beute des zusammenschrumpfenden Kalifats hin.

2) Unruhe im Kalifat

Sie bleiben alle ihrem Ruf treu: Die Russen bombardieren mit ausserordentlicher Brutalität (sic!), so dass man glauben könnte, sie zielten nur auf Spitäler und Bäckereien; auf Seiten des Westens hingegen nur Vorsicht, Präzision und Feinfühligkeit [106]. Seit mehreren Monaten sind die Truppen des IS also unter den Bomben der amerikanischen und russischen Luftwaffen mit einer eher merkwürdigen Koalition konfrontiert: die AAS (und ihre Verbündeten), die YPG-SDF, Al Nusra (und andere islamistische Gruppen), die (sich im Wiederaufbau befindende) irakische Armee, etliche schiitische Milizen und die Spezialeinheiten von zehn bis 15 verschiedenen Ländern! Die Partie ist militärisch verloren, doch das Kalifat hat sich dazu entschieden, eine Verlängerung zu provozieren. Es hat die kaum bevölkerten ländlichen Gebiete aufgegeben und hat sich dorthin zurückgezogen, wo der Widerstand leichter ist (Bergmassive) oder in Gebiete, die von wirklichem strategischem Wert sind, wie gewisse Städte, deren Eroberung es teuer zu stehen kommen lässt. Bis heute erlauben ihm seine militärischen Fähigkeiten, dort Gegenoffensiven zu lancieren, wo man es nicht erwartet, und seine terroristischen Operationen zu intensivieren.

Im Irak folgt die Rückeroberung der sunnitischen Städte immer dem gleichen Schema: Bombenangriffe, Umzingelung, regelrechte Belagerung (auch wenn dabei die Bevölkerung verhungert) [107], Aufhetzung der Stämme gegen den IS, vorsichtiger Angriff mit dem massiven Einsatz von Spezialkräften (Armee, Polizei) und schiitischen Milizen und schliesslich eine grosse Polizeioperation. Ramadi wird im Februar 2016 auf diese Art und Weise nach zwei Monaten Strassenkämpfen erobert, Falludscha innerhalb eines Monats. Das Schema ist nur schwer anwendbar auf Mosul, eine Stadt mit mehr als zwei Millionen Einwohnern, welche die Truppen des IS vor zwei Jahren als Befreier empfangen hat. Es ist wahrscheinlich, dass die Stadtväter und Stammesführer, statt ihre Stadt (und ihren Handel) der Zerstörung auszuliefern, die Soldaten des IS, wie sie es 2014 mit dem schiitischen Militär getan haben, auffordern, sich zurückzuziehen – und dass diese sich weigern werden, da sie kaum noch Orte haben, wo sie sich zurückziehen könnten.

Ein Staat kann nicht durch Repression allein zusammengehalten werden. Wie wir geschrieben haben, der IS hat es geschafft, die Unterstützung eines Teils der Bevölkerung, der Stammesführer und lokalen Notabeln zu erlangen, indem er ihnen jene Sicherheit und Ordnung zur Verfügung gestellt, welche für einen Neubeginn der wirtschaftlichen Aktivität notwendig sind, und die Versorgung verbessert hat [108]. Die Bombenangriffe sind also darauf angelegt, seine Wirtschafts- und Verwaltungstätigkeiten (logistische Infrastrukturen, Kraftwerke usw.) zu zerstören, was ihm fortschreitend einen Teil der Unterstützung des Volkes kostet und dazu beiträgt, seinen Niedergang zu beschleunigen. Von diesem Standpunkt aus befindet sich die Staatsstruktur des IS heute wohl in kompletter Auflösung. „Der Islamische ‚Staat‘ hat sowohl in Syrien als auch im Irak Gebiete verloren und kontrolliert somit weniger Bevölkerungen. Die erhobene ‚Steuer‘ bringt weniger ein, weil es weniger ‚Steuerzahler‘ gibt. Was die kolossalen in den Finanzinstituten während den verschiedenen Eroberungen besonders im Irak beschlagnahmten Summen betrifft, so verhält es sich wie mit einem Erbe, es wird nach und nach aufgezehrt. Man muss anmerken, dass die Verwaltung eines ‚Staates‘ ziemlich teuer ist.“ [109] Die Löhne der Funktionäre und die Zuschüsse sind reduziert, die Abgaben erhöht worden. Die Zeiten einer auf Krieg und Plünderung basierenden „Wirtschaft“ sind zurückgekommen. Abgeschnitten vom Rest der Welt muss der IS intern vor Kämpfen, Bombenangriffen und Lebensmittelknappheit Flüchtende verwalten, wobei zuerst die Kämpfer versorgt werden müssen. Die Einführung der Wehrpflicht in einigen Sektoren trägt ebenfalls zur Abkehr der Bevölkerung bei, gleichzeitig werden vermehrt Deserteure (auch ausländische Freiwillige) hingerichtet.

Das Kalifat ist im Kontext des Zusammenbruchs von zwei Staaten geboren und gediehen, doch heute ist es selbst als staatliche Einheit auf der einen wie auf der anderen Seite der syrisch-irakischen Grenze dabei, zu verschwinden. Sein Hauptanziehungspunkt, die Macht, ist verschwunden, nur die Legende wird bleiben: Jene, welche es sich abgemüht hat, durch seine Propaganda und seinen eschatologischen Diskurs aufzubauen (und welche durch den Aufbau einer weltweiten Koalition gegen es bestätigt worden ist). Auch der Groll jener, welche daran geglaubt oder von diesem Regime profitiert hatten, besonders die irakischen Sunniten, wird ebenfalls bleiben, ein Groll, welcher der IS weiterhin benutzen wird, sogar falls er auf ein lokales und internationales Guerillanetzwerk reduziert ist [110].

Da wir versucht haben, die Funktionsweise des Kalifats zu verstehen, die Art und Weise, wie dort acht bis zehn Millionen Menschen ihren Alltag verbringen, haben wir bis jetzt nicht über die „äusseren“ wilayas (Provinzen) von Libyen, Jemen, Ägypten und Afghanistan gesprochen. Militärische Einheiten, welche dem IS die Treue geschworen haben, kontrollieren mehr oder weniger einige Regionen oder Orte wie eine traditionelle Guerilla, sie sind jedoch nicht fähig, dort eine stabile Verwaltung aufzubauen.

Libyen ist eine erwähnenswerte Ausnahme, dort hat der IS versucht, sein Gesellschaftsmodell umzusetzen. Im Oktober 2014, nach drei Jahren Bürgerkrieg, schwört eine in der Region von Sirte, die ehemalige Hochburg des Stammes von Gaddafi, aktive Gruppe dem Kalifen al-Baghdadi die Treue. Sie profitiert von der Marginalisierung, welche die Stadt nach der „Revolution“ erdulden muss, knüpft Bündnisse mit diversen lokalen Stämmen und bewaffneten Milizen und breitet ihre Kontrolle kontinuierlich über einen 200 km langen Küstenstreifen und für kurze Zeit auf die Stadt Derna in der Region Kyrenaika aus. Ein islamisches Gericht und eine Sittenpolizei werden dort eingesetzt und strikte Regeln wie in Raqqa dekretiert. Die Flucht eines grossen Teils der 120‘000 Einwohner hat jedoch das Alltagsleben komplett durcheinandergebracht. Da die Reise nach Syrien immer schwieriger wird, ziehen hingegen Tausende ausländischer Kämpfer in die Stadt, davon viele Tunesier. Der antirassistische Diskurs des IS hat allerdings Schwierigkeiten, sich durchzusetzen, denn die Anwesenheit subsaharischer Jihadisten (Somalier, Senegalesen, Sudanesen usw.), die sehr zahlreich sind, wird von der lokalen Bevölkerung nicht wirklich akzeptiert.

Die westlichen Länder möchten nicht, dass sich die staatliche Erfahrung des Kalifats in Nordafrika wiederholt und in Tunesien oder Algerien ausbreitet, eine erneute internationale Militärintervention war in Betracht gezogen worden. Sie hätte nebenbei die Lösung jener Probleme erlaubt, welche schon vor der Ansiedlung des IS existierten, wie jenes der Regulierung des Migrationsflusses (Verhandlungen mit Gaddafi zu diesem Thema waren seit 2008 in Gange) oder jenes der Ölgewinnung (oder sie hätte zumindest den Versuch erlaubt, sie zu lösen). Doch die gefundene, weniger teure und einfachere Lösung, da sie keine wirkliche Langzeitstrategie voraussetzte, war die Unterstützung der mit dem IS verfeindeten lokalen islamistischen Milizen mit Spezialkräften und Bombenangriffen. Zum Zeitpunkt, wo wir diese Zeilen schreiben, und nach zwei Monaten Kämpfen kämpfen die letzten Verteidiger von Sirte immer noch, wenn auch ohne Hoffnung, in einigen Quartieren des Stadtzentrums. Andere werden wahrscheinlich weiter südlich in der Wüste weiterhin im Namen des Kalifats kämpfen.

3. „Rojava“?

Syrien enthielt vor dem Krieg mehrere nicht zusammenhängende kurdische Siedlungsgebiete entlang der türkischen Grenze: Jazira, Kobanê und Afrin, drei „Kantone“ eines Territoriums, das von einigen „Rojava“, „der Westen“ auf kurdisch, also „westliches Kurdistan“ genannt wird. Die kurdische Bevölkerung wurde damals auf zwischen eineinhalb und drei Millionen geschätzt, doch viele davon oder vielleicht gar die meisten lebten in Aleppo und Damaskus. Eine von den Assads diskriminierte Bevölkerung, die jedoch durch das Bündnis zwischen dem syrischen Regime und der PKK (von 1979 bis 1998 zur Destabilisierung der Türkei) ruhig gehalten wurde. Man muss bis 2003 warten, bis die PKK einen anfangs unbedeutenden syrischen Flügel, die PYD, gründet. Das Gebiet erlebt 2004 einen bedeutenden Volksaufstand gegen die Diskriminierungen.

Im Jahr 2011 sind dort die dem Regime feindlich gesinnten Demonstrationen massiv und die kommunitaristischen Betrachtungen im Gegensatz zu 2004 nebensächlich. Das Regime spielt die Karte der Kommunitarisierung, gewährt 150‘000 Kurden die syrische Nationalität, welche sie seit 1962 nicht mehr hatten, und befreit gefangene Mitglieder der PYD. Zu diesem Zeitpunkt hat die Partei ihren Auftritt im Norden Syriens, erwähnenswert hierzu ist auch die Rückkehr von Salih Muslim Muhammad aus dem Exil nach der Begnadigung durch Damaskus [111]. Im Juli zieht das Regime Soldaten und Polizisten aus den drei Kantonen zurück und mobilisiert sie im Rest des Landes, wo sie sich an der Repression beteiligen. Die kurdische Partei übernimmt also ohne Gewalt die aufgegebenen Orte und Gebäude. In diesen Gebieten endet der Protest gegen Assad und für Demokratie sogleich [112] und die PYD beginnt mit der Anwendung ihres Programms, dem „demokratischen Konföderalismus“ [113].

Drei Jahre später, dank der medienwirksamen Schlacht von Kobanê, entdeckt ein Teil der äusseren Linken und der Anarchisten in Frankreich Rojava. Gemäss einer bereits bekannten Aktivistenlogik (Algerien, Nicaragua oder Chiapas) detektieren sie dort eine wirkliche oder potentielle Revolution und stürzen sich in eine fanatische Unterstützung. Dieser Prozess ist allerdings nur die postmoderne Version einer banalen nationalen Befreiungsbewegung mit ihren unvermeidlichen Makel, doch er hat den Aufbau einer westlichen Demokratie zum Ziel, die von Bürgerbeteiligung begleitet wird. Die PYD sieht ihn realistisch und sucht eher nach sozialdemokratischer Unterstützung (PS, PC und EELV im Falle Frankreichs). Eine ihrer Besonderheiten ist es, die im Westen populäre feministische Karte zu spielen, indem für Journalisten systematisch Kämpferinnen in den Vordergrund gerückt werden (die – ein aufmerksames Auge wird das erkennen – in Wirklichkeit sehr selten in den ersten Reihen sind).

Wir werden hier weder auf den wenig libertären Charakter dieser Partei und des Regimes von Rojava, noch auf den angeblich revolutionären Prozess zurückkommen, die Kritiken sind zahlreich gewesen [114]. Die Mode Rojava ist etwas vorbei, sie hat jedoch Schäden in der Aktivistenszene angerichtet [115]. Es ist z.B. heute schwierig den amerikanischen Imperialismus zu verurteilen, während man gestern NATO-Unterstützung für die YPG forderte… Heutzutage sind die aus Rojava kommenden Informationen, abgesehen vom Projekt einer biologischen Kompostfabrik, alle militärischer oder polizeilicher Natur und wenn einige Dutzend europäische Maoisten immer noch in den Reihen der YPG kämpfen, so tun sie das Seite an Seite mit Hunderten von amerikanischen Soldaten der Spezialeinheiten.

Die PYD hat geschickt vom syrischen Konflikt profitiert, um ihre eigenen Ziele zu verwirklichen: die Wiedervereinigung der drei bis anhin durch arabische oder turkmenische Gebiete (erstere manchmal bewusst „arabisiert“ in den 1970er Jahren) getrennten Kantone. Das hat der Partei erlaubt, zu einem unumgänglichen Partner der am Konflikt beteiligten Mächte zu werden, denn ihr Projekt harmonisiert mit ihrem Ziel, das Kalifat aus der Welt zu schaffen. Nach der Unterstützung Washingtons erhielt sie jene Moskaus, wo sie übrigens ihre ersten „diplomatischen“ Büros eröffnet hat (danach in Prag, Berlin, Paris usw.). Die YPG, die je nach Schätzungen zwischen 5‘000 und 50‘000 Kämpfer (!) in ihren Reihen haben, sind zu den berühmten „Bodentruppen“ geworden, die kein Land mobilisieren wollte.

Damit die PYD von der Beteiligung an der Eroberung der Hauptstadt des IS überzeugt werden konnte, mussten die USA versprechen, die Wiedervereinigung der drei Kantone (militärisch und diplomatisch) zu unterstützen. Ein Abkommen wurde im Oktober 2015 mit der Gründung einer neuen arabisch-kurdischen militärischen Koalition geschlossen, die Syrischen demokratischen Kräfte (SDF), innerhalb welcher die YPG 75 bis 80% der Kämpfer ausmachen. Es geziemt sich tatsächlich eher, eine solche Koalition zu unterstützen, denn die Schwesterpartei der PKK, die von der „internationalen Gemeinschaft“ als „terroristisch“ klassifiziert wird. Die Beteiligung der arabischen und syriakischen Aushilfskräfte ist übrigens eine Notwendigkeit, um die nicht-kurdischen Gebiete und v.a. Raqqa zu erobern, deren 300‘000 Einwohner einem Eindringen kurdischer Truppen nicht notwendigerweise wohlgesinnt wären. Anfang 2016 wird die Operation dringend, denn im Süden nähert sich die AAS der Stadt. Die USA haben also 500 Mann mobilisiert, die zusammen mit den YPG-SDF an den Kämpfen teilnehmen. In Anbetracht des wirtschaftlichen und symbolischen Gewichts der Stadt ist es nicht unerheblich, ob sie Pro-Russen oder Pro-Amerikanern in die Hände fällt.

Weiter im Westen beteiligen sich die YPG im Februar 2016 an der von der AAS und der Hizbollah lancierten Initiative im Norden von Aleppo gegen mehrere „Rebellengruppen“, z.B. Al Nusra, zur Unterbrechung des strategischen Korridors von Azaz. Die Operation geniesst die Unterstützung der russischen Luftwaffe und die Zustimmung der USA [116]. Weiter südlich, wo der Vorwand der Wiedervereinigung der Kantone nicht geltend gemacht werden kann, helfen die YPG mehrmals den Truppen Assads, um die Umzingelung von Quartieren der „Rebellen“ in Aleppo zu vollenden, wo noch 200‘000 Einwohner leben.

Die Zusammenarbeit zwischen den YPG und der AAS ist nicht überraschend, denn die ambivalente Beziehung zwischen der Verwaltung von Damaskus und jener von Rojava geht, wie wir gesehen haben, auf 2011 zurück. Einige Mitglieder der exilierten syrischen Opposition, wozu auch kurdische Organisationen gehören, betrachten die PYD schlicht und einfach als Teil des Regimes von Assad. Was das Verhältnis zwischen den YPG und der AAS seit dem Beginn des Krieges charakterisiert, ist vor allen Dingen eine friedliche Koexistenz, die für ihre jeweiligen Pläne von Nutzen ist. Doch genau wie das Bündnis zwischen Hafiz al-Assad und der PKK bleibt jenes zwischen Bashar al-Assad und der PYD ein Zweckbündnis und könnte von einem Moment auf den anderen enden (umso mehr, weil ein Teil jener sunnitischen Rebellengruppen, welche sich den SDF angeschlossen haben, gegen Assad sind). Man sieht es gut in al-Hasaka und Qamischli, zwei loyalistische Enklaven im Herzen von Rojava, wo sich Checkpoints und Kämpfer beider Lager gegenüberstehen und wo es seit 2011 zu mehreren Scharmützeln gekommen ist [117]. Die YPG hätten die Mittel, sie zu erobern, doch die Präsenz des Regimes ist ihnen nützlich, der Flughafen von Qamischli garantiert z.B. eine regelmässige Flugverbindung zwischen Rojava und dem Rest Syriens, was den (kurdischen und arabischen) Mittelklassen der Region erlaubt, nach Damaskus und dann ins loyalistische Gebiet für Geschäfte, Studien, medizinische Behandlung oder anderes zu reisen [118]. Die Eroberung dieser beiden Städte durch die YPG wird also nur ganz am Ende des Konflikts stattfinden.

Man weiss heute nicht wirklich, ob man immer noch von „Rojava“ sprechen soll, denn auf die Verwaltung der drei Kantone durch die PYD folgte im März eine einfache „Nordregion Syriens“, die autonom ist und deren Grenzen unklar und flexibel sind. Es geht darum, die arabischen oder christlichen Bevölkerungen zu beruhigen, für welche die Hegemonie der PYD langsam irritierend wird (einigen arabischen Orten wie Tall Abyad ist der Anschluss an die Verwaltung des Kantons Kobanê ein Dorn im Auge) [119]. Was sich abzeichnet, ist die Erschaffung einer (de facto) autonomen Region im Norden Syriens entlang der türkischen Grenze, die politisch von der PYD beherrscht wird und unter dem militärischen Schutz der USA steht. Letztere haben wahrscheinlich ihrem türkischen Verbündeten versprochen, dass diese Region nicht den Namen „Kurdistan“ tragen wird.

4) Der Zusammenbruch der Klassen

Und die Proletarier in all dem? Wir sprechen eigentlich von Anfang an von ihnen, aber in Form von Kanonenfutter. Es ist wahr, dass, wenn man nicht schon für ein Lager zwangsrekrutiert worden ist, es eine Chance zum wirtschaftlichen Überleben sein kann, den Kriegsberuf zu wählen. „Da alle Berufe verschwunden sind, blieb den jungen Männern nur noch die Wahl übrig, sich als Kämpfer zu engagieren.“ [120] Und „schlicht und einfach“ eine Überlebenschance in einem Krieg, wo die Zivilisten einen höheren Blutzoll bezahlen als die Soldaten. „Es ist wahr. Das Problem im Krieg ist der Zivilist. Wenn man am leben bleiben will, greift man besser zu den Waffen.“ [121]

Eine Wirtschaft in Fetzen

Man muss sich zuerst darüber bewusst sein, dass die Wirtschaft des Landes zugrunde gerichtet ist, genau wie die Städte und die industriellen und landwirtschaftlichen Gebiete. Der Krieg habe dem syrischen Staat zwischen März 2011 und Ende 2015 annähernd 250 Milliarden Dollar gekostet (Verlust wirtschaftlicher Produktion, Zerstörung oder Beschädigung von Kapital, im Budget nicht vorgesehene militärische Kosten) [122]. Sein BIP hat sich zwischen 2010 und 2015 um 55% reduziert. Die Zoll- und Steuereinnahmen haben sich verringert, jene des Ölsektors um 95%. Das landwirtschaftliche Bruttoinlandprodukt hat sich um 60% verringert und die urbaren Flächen von 6 Millionen Hektaren auf 3.6, was zu einer beträchtlichen Erhöhung der Preise der zwar subventionierten landwirtschaftlichen Produkte geführt hat. In Tat und Wahrheit gibt es keinen nationalen Markt mehr, nur noch mehrere wirtschaftliche Regionen mit beschränkter Handelstätigkeit.

Vor dem Krieg war die EU der prinzipielle Handelspartner des Landes, doch die wirtschaftlichen Sanktionen gegen Syrien haben das geändert. Zwischen 2012 und 2013 sind die Importe von Syrien in die EU um 53% gesunken und die europäischen Exporte nach Syrien um 36%. Alles in allem sind die Exporte und die Importe um respektive 89 und 60% zwischen 2011 und 2014 gesunken. China ist zu Syriens Hauptwarenlieferanten geworden, gefolgt von der Türkei und der Russischen Föderation.

Der Anteil des Lohnes im Einkommen der Syrer sinkt aufgrund der Schliessung von zahlreichen Unternehmen: Seit 2011 haben einige Bosse ihre Fabriken in sichere Gebiete (entlang der Küste) delokalisiert, andere haben sich im Ausland (Ägypten, Türkei, Libanon) niedergelassen. In gewissen von den Rebellen gehaltenen Gebieten sind vollständige Fabriken demontiert, auf dem Schwarzmarkt verkauft und in der Türkei neu aufgebaut worden. „Von den 40‘000 funktionierenden Fabriken und Werkstätten in der Provinz Aleppo, d.h. sowohl die Stadt als ihr Umland, sind nur noch 4‘000 (10%) aktiv. Ungefähr 28‘000 sind teilweise oder vollständig zerstört worden, während ungefähr 8‘000 andere in die Türkei oder an die syrische Küste delokalisiert haben, oder schlichtweg geschlossen worden sind.“ [123]

Obwohl die grössten industriellen Komplexe wie Raffinerien, Kraftwerke oder Zementfabriken intakt scheinen, hat die Wirtschaft zwischen 2.1 und 2.7 Millionen Arbeitsplätze verloren. Die Gehälter für die Funktionäre sind heute (auch in den von den Rebellen kontrollierten Gebieten) in Syrien die Haupteinkommensquelle.

Die Arbeitslosigkeit betrug 2015 55%, die Jugendarbeitslosigkeit 78% (im Vergleich zu respektive 12 und 30% 2011). Heute leben 83.4% der Syrer unter der Armutsgrenze (im Vergleich zu 28% 2010). In diesem zugrunde gerichteten Land wird das Elend nur durch Gelegenheitsjobs, Statusänderung hin zur Selbstständigkeit, Improvisationskunst, Darlehen, Verkauf diverser Objekte usw. abgeschwächt. Viele verdanken ihr Überleben der humanitären Hilfe, wie z.B. in den regimetreuen und ehemals „bürgerlichen“ Vierteln Aleppos, wo ungefähr eine Million Einwohner lebten [124].

In dieser Stadt sind heutzutage 52% aller Wohnungen unbewohnbar (hauptsächlich in den informellen Vierteln). Eine grosse Mehrheit der Vertriebenen innerhalb ihres eigenen Landes oder gar ihrer eigenen Stadt müssen in Wohngemeinschaften oder bei Angehörigen leben, unvollendete oder beschädigte Gebäude oder leere Wohnungen besetzen. In Latakia, einer als sicher geltenden Stadt, sind 82% der Flüchtlinge Mieter, häufig in Wohngemeinschaften aufgrund des Anstiegs der Mieten.

In den „befreiten“ Gebieten

In Bezug auf die gescheiterte „Revolution“ im Frühling 2011 werden die Gegner Assads immer noch häufig „Revolutionäre“ genannt. Einige benutzten das gleiche Adjektiv, um die Prozesse der Selbstorganisation in den „befreiten“ oder „halbbefreiten“, d.h. nicht von der AAS, dem IS oder den YPG kontrollierten Gebieten zu beschreiben.

In jenen Regionen, wo sich die regimetreuen Truppen zurückgezogen haben, wird das alltägliche Überleben ab Sommer 2012 von der Bevölkerung selbst organisiert. Die zahlreichen politischen Parteien der syrischen Opposition im Ausland genau wie die Gewerkschaften waren im Land inexistent und konnten der Bewegung keinen Rahmen geben. Eine Vielzahl von Vereinen, „Volks-“, „Lokal-“ oder „Quartierkomitees“, lokalen (Komitees vereinigenden) oder (gewählten) Gemeinderäten wurde gegründet, sie werden das Funktionieren der vitalen öffentlichen Dienste garantieren und den Nachschub verwalten. Es ist, was die „zivilen Institutionen“ genannt werden wird, eine Selbstorganisation, die sich mit der Zeit in eine Selbstadministration verwandeln wird [125]. Die Tatsache, dass die Komitees auf eine nicht hierarchische Art und Weise funktionieren, die auf der gegenseitigen Hilfe gründet, erklärt, dass einige darin einen libertären Einfluss gesehen haben [126]. Aber glücklicherweise sind die Anarchisten nicht die einzigen, die sich organisieren, wenn es ums Überleben geht.

Während sie auf die Rückkehr einer Autorität warten, versuchen die rebellischen Verwalter in Wirklichkeit jene Aufgaben zu erledigen, welche der von diesen Gebieten abwesende Staat nicht erledigen kann. Da die ehemaligen Funktionäre die kompetentesten Leute sind, um die öffentlichen Dienste wieder zum Laufen zu bringen, werden sie selbstverständlich eingebunden, Polizisten manchmal eingeschlossen. Das ist umso praktischer, als dass Damaskus häufig weiterhin ihre Löhne bezahlt.

„Zuerst muss die Ordnung wieder hergestellt und der Polizeidienst neu aufgebaut werden, manchmal indem man die erfahrenen, ehemals aktiven Beamten erneut rekrutiert. Die Gerichte müssen neu organisiert und die Justiz neu aufgebaut werden. Das Zivilstandsregister muss aktuell gehalten werden, um den Bewohnern die notwendigen Dokumente zu liefern. Den Banken muss es ermöglicht werden, in Sicherheit zu funktionieren. Die Märkte müssen trotz der Wirtschaftsblockade und den Treibstoffmangeln beliefert werden. Die Bäckereien müssen funktionieren. Klandestine Kliniken müssen organisiert werden, damit sie nicht von den Flugkräften des Regimes zerstört werden. Notleidenden Familien und Angehörigen von Gefangenen muss geholfen werden. Flüchtlingen, welche aufgrund der Zerstörung ihrer Häuser auf der Strasse gelandet sind, muss Schutz und Ernährung gewährleistet werden. Abfall muss entsorgt, Verkehrswege aufrechterhalten, unabdingbare Gebäude repariert werden. Die Schulen müssen wieder geöffnet werden. Usw.“ [127]

Die ersten neu aufgebauten Institutionen sind also häufig die Polizei und die Justiz [128]. Der Aufbau einer Polizeikraft muss es erlauben, in einer Zeit, wo Bewaffnete allgegenwärtig sind, „die Sicherheit“ zu garantieren. Ob Wahrheit oder Phantasie, es ist bedeutend, dass das Gerücht verbreitet ist, Assad habe Tausende Strafgefangene zu Beginn des Aufstands freigelassen. Eine effiziente Polizei erlaubt es auch, lästige bewaffnete Gruppen aus der Stadt fernzuhalten, welche diese Rolle spielen wollen [129].

Hinsichtlich der Gerichte geht es für die Aufständischen auch um politische Gründe, schliesslich bekämpfen sie eine Diktatur und müssen deshalb für eine gerechte Justiz einstehen. Aber wie, vor allem wenn die Richter geflohen sind, und auf welches Recht soll man sich beziehen? Es sind die Scheiche, Anwälte und Rechtsstudenten die anfangs eingebunden werden. Obwohl manchmal weiterhin das syrische Zivilgesetz angewendet wird, während andere für das Gesetzbuch der Arabischen Union optieren (ein Zivil- und Strafgesetzbuch basierend auf der Scharia und 1996 von der Arabischen Liga erschaffen), wird in der Bevölkerung häufig die Scharia als legitim betrachtet, allen voran in ländlichen Regionen [130].

Die Aufrechterhaltung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung (Privateigentum, Geld, Lohnarbeit usw.) und die Rolle der Mittelklassen machen diese Art von Strukturen unabdingbar, daher, in Anbetracht des Chaos, die notwendige Suche nach einer Autorität, d.h. eines Gewaltmonopols.

„Befreit“ bedeutet nicht notwendigerweise „demokratisch“, umso mehr, als dass sich die Organisation von Wahlen schwierig gestaltet. Die Kontrolle dieser Institutionen ist ein Kampf um die Macht. Bestimmt, benannt oder gewählt findet man in den Machtpositionen etlicher Räte viele Persönlichkeiten der Bewegung von 2011 (der Mittelklassen), aber auch öffentliche Notabeln, Repräsentanten der Stammesstrukturen oder lokale militärische Gruppen.

Ab Herbst 2012 lanciert die Opposition im Exil einen Integrations- und Zentralisierungsprozess der zivilen Institutionen und organisiert in der Türkei Treffen der „Unterhändler“. Etliche Komitees entscheiden sich dafür, sich ihm anzuschliessen, um vom Netz der Umverteilung der internationalen humanitären und finanziellen Hilfe zu profitieren, was sie absolut benötigen, da die lokalen Ressourcen durch die Unmöglichkeit der Abgaben- und Steuererhebung trockengelegt sind.

Die Kämpfer bleiben jedoch stets die Priorität der Geldgeber und somit müssen diese Institutionen mit diversen bewaffneten Gruppen zusammenleben. Das Gewaltmonopol ist in Tat und Wahrheit die Grundvoraussetzung für alle anderen Monopole.

Militarisierung der Revolte

Im Frühling 2011 stützt sich Assad schnell zwecks einer heftigen Repression auf die Armee, welche ihm als Korporation treu bleibt [131]. Bescheidene bewaffnete Selbstverteidigungsgruppen werden dann gegründet, um die Demonstrationszüge zu begleiten. Doch mit dem Zustrom von Deserteuren und der Aufgabe gewisser Territorien durch das Regime (insbesondere der ärmsten ländlichen Gebiete aufgrund Truppenmangels) bilden sich bewaffnete autonome Gruppen während des Sommers von lokalen Initiativen ausgehend. Gegen Ende Jahr wird überall gekämpft, denn diese Gruppen, die sich als Vorwegnahme einer neuen nationalen Armee sehen, spriessen im ganzen Land. Erst später, ab 2012, versucht die Opposition im Exil, eine wahrhafte Armee zu koordinieren, die Freie syrische Armee (FSA), der Versuch scheitert jedoch.

Mit diesem Übergang zum bewaffneten Kampf, der sich schnell als Militarisierung ausdrückt, sind nicht alle einverstanden. Wird die Gewalt nicht die Bewegung diskreditieren? In mehreren Städten, Homs zum Beispiel, widerspiegelt diese Debatte teilweise den Antagonismus zwischen den armen und ländlichen (eher auf die „Praxis“ fixierten) Vierteln und den städtischen Eliten, die aus Studenten und Angehörigen der liberalen Berufe bestehen und hinter den friedlichen Demonstrationen stehen. Die Militarisierung wird von vielen von ihnen als Enteignung der Revolution erlebt [132] (trotz Ausnahmen, wie die Universität von Aleppo, die ihre eigene bewaffnete Gruppe gründet).

Während die meisten Kämpfer volksnahen und ländlichen Milieus entstammen, ist die Zusammensetzung der Führungsspitze komplexer, denn im Krieg werden die Karten teilweise neu gemischt. Die Kompetenzen, die Tapferkeit, die Fähigkeiten der Waffenbeschaffung zählen und garantieren den fahnenflüchtigen Offizieren eine privilegierte Stellung. Obwohl eine prominente Stellung vor dem Krieg nicht für eine militärische Führungsstellung reicht, ist sie nichtsdestominder ein Trumpf, genau wie die (richtige) Stammeszugehörigkeit. Ein anderes Kriterium ist die ursprüngliche finanzielle Einlage, welche die Führungspositionen von Handwerkern, Scheichen und Händlern erklärt, denn die Erbeutung von Waffen der AAS ist weder einfach, noch genügend und der Aufbau und der Unterhalt einer Einheit, so klein sie auch sein möge, erfordert bedeutende Ressourcen. Eine Patrone 7,62 (für eine AK-47) wurde zu Beginn des Konflikts für bis zu zwei Dollar verkauft. Daher die überraschenden Anekdoten, wie z.B. jene des Händlers der die Gesamtheit seiner Güter verkauft hat, um eine Einheit von 30 Männern während drei Monaten auszustatten und zu bezahlen [133]. Ein Zeitraum, während welchem Sponsoren gefunden werden müssen, indem die Videos ihrer Heldentaten auf YouTube veröffentlicht werden.

Und eben genau weil sich die Opposition im Exil unfähig gezeigt hat, diese Gruppen zu finanzieren, im Besonderen die Solde zu bezahlen, ist keine Koordination möglich gewesen und die Kämpfer mussten selbst das notwendige Geld finden, vor Ort oder im Ausland. Daher ist es schnell zu Konkurrenz und Rivalitäten gekommen, schon vor den Konfrontationen.

Und wenn eine Gruppe an Bedeutung gewinnt, geschieht mit ihrem Budget das selbe. Prädation, Kontrolle und Abgabenerhebung über die Warenflüsse usw. sind das Resultat einer „Akkumulationslogik der Militärmacht“, einem Streben nach einem Monopol, denn solange eine Gruppe es nicht hat, regiert das Chaos in der Region und die Wirtschaft leidet darunter. In den ölreichen Gegenden erlauben es die Einkommen den lokalen Unternehmern, genügend Kämpfer zu unterhalten, um die meisten Eindringlinge abzuwehren und ihre Einrichtungen zu beschützen [134].

Man versteht, dass jene Gruppen einen Vorteil erlangen werden, welche Ressourcen und äussere Unterstützung zur Verfügung haben, denn eine derartige Militarisierung wäre ohne ausländische Unterstützung unmöglich gewesen, insbesondere jene der Golfmonarchien und, wenn auch in kleinerem Ausmass, jene der westlichen Länder (Frankreich hat, trotz des von der EU verordneten Embargos, ab 2012 gewissen Gruppen Waffen geliefert). Obwohl die äussere Opposition anfangs abgeneigt war, hat ein Teil der syrischen Bourgeoisie, die auf eine internationale Unterstützung oder gar eine Militärintervention gegen Assad zählte, ihre Netzwerke und Kontakte spielen lassen und der Militarisierung Vorschub geleistet.

Die dank ihrer finanziellen Autonomie einigermassen ausdauernden bewaffneten Gruppen werden sich gegen die Unterwerfung unter die zivilen Behörden sträuben, umso mehr, wenn sie aus ländlichen Regionen kommen und von den Städtern nicht willkommen geheissen werden [135]. Sie tendieren im Gegenteil dazu, sich als Verwalter zu präsentieren, indem sie sich einen politischen Flügel geben. Daher kommt auch das wachsende Gewicht jener, welche über äussere Unterstützung verfügen, z.B. die Muslimbrüder, deren alltägliche Verwaltungsfähigkeiten jenen ihrer Rivalen überlegen sind. Zudem trägt ihr finanzieller Wohlstand dazu bei, dass sie weniger in Versuchung geraten, Erpressung, Plünderung und Schutzgelderpressung zu praktizieren, und somit sind sie von der Bevölkerung besser angesehen (das gilt auch für Al Nusra oder den IS).

Selbstverständlich verwandeln sich spontan von Deserteuren gebildete autonome Gruppen nicht über Nacht in ein verallgemeinertes Chaos, wo sich Hunderte von Milizen, in der Regel islamistisch und vom Ausland subventioniert, in sich ändernden und temporären Bündnissen gegenseitig bekämpfen. Doch ab Herbst 2012 zeichnet sich ein Wettbewerb zwischen jenen Gruppen ab, welche sich mehr oder weniger auf die FSA beziehen, und jenen, welche ankündigen, eine islamische Verwaltung in Syrien aufbauen zu wollen; ausser im Süden herrschen letztere vor. Die Situation verschlimmert sich ab Frühling 2013 aufgrund der Intervention äusserer Akteure.

Drunter und drüber?

Bourgeois und Proletarier sind nicht gleich vor dem Tod und auch nicht vor dem Krieg, in beiden Fällen spielt immer ein gewisses Mass an Ungewissheit mit.

Die Kämpfe und Bombenangriffe betreffen besonders die proletarischen Quartiere der syrischen Städte, insbesondere die peripheren, sogenannt „informellen“ Quartiere, wo die Opfer der Krise und der Landflucht vor dem Krieg eingepfercht waren und die 2011 Hochburgen der Revolte waren. Die Stadtzentren und bürgerlichen Quartiere sind in der Regel auf der regimetreuen Seite, ihnen sind somit die heftigsten Bombenangriffe erspart geblieben.

Hier haben einige mehr als ihr Leben zu verlieren. Die Mitglieder der Mittelklassen z.B., welche Eigentümer von Immobilien sind, oder die Handwerker und Geschäftsmänner können ihren Status im Handumdrehen aufgrund der Ungeschicklichkeit eines Suchoi-Piloten verlieren. Die Entwertung des syrischen Pfundes hat nur die kleinen Sparer ruiniert, nicht die Bourgeois mit Konto im Ausland.

Während einige Familien ihr Vermögen verlieren, florieren Kriegsprofiteure, die Schwarzhandel betreiben und investieren. Ein Kriegsherr wird mühelos zum Unternehmer. Die Hierarchien werden umstrukturiert, zumindest zum Teil.

Vor allen Dingen profitiert eine Minderheit der an den Protesten 2011 beteiligten Mittelklassen von den neuen Institutionen und nimmt Führungspositionen ein. Dank ihrem Bildungsniveau und ihren technischen Kompetenzen gelangen neue Leute in Kaderpositionen, sie sind erfahrener und älter als jene, welche die Bewegung 2011 animierten (in Idlib muss man z.B. ein Universitätsdiplom haben, um gewählt zu werden) [136]. Die Rolle der Angehörigen der Mittelklassen ist zentral aufgrund der Abwesenheit der ehemaligen Eliten, die schnell ins Ausland geflüchtet sind oder in den regimetreuen Sektoren leben. Ehemals tonangebende Familien, die vom baathistischen Regime marginalisiert worden waren, sind hingegen zurück auf der politischen Bühne. „In diesem Kontext der zunehmenden Isolierung der Individuen kann eine Minderheit ihr Kapital vergrössern aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Netzwerken des Protests […] Jedoch bestimmt das Kapital, welches die Akteure zuvor hatten, weitgehend die Verteilung der Machtpositionen innerhalb der neuen Institutionen. Während die Landbewohner und das einfache Volk eine tonangebende Rolle in den militärischen Institutionen spielen, setzen sich die Mittelklassen in den neu erstehenden zivilen Verwaltungen und die Eliten in den repräsentativen Institutionen ausserhalb Syriens durch.“ [137]

Das im Februar in Kraft getretene Waffenstillstandsabkommen gibt den Zivilisten in diesen Gebieten etwas Platz zurück. Die bürgerlichen Medien und Aktivisten haben schnell darauf aufmerksam gemacht, dass die Freitagsdemonstrationen gegen Assad in mehreren Städten wieder stattfinden. Als ob die syrische „Revolution“, nach fünf Jahren Unterbruch, in aller Ruhe wieder ihren Lauf nehmen könnte. Wir sind weit von jenen Massen entfernt, welche die Strassen 2011 füllten, die Kundgebungen waren besonders bescheiden, z.B. 200 Demonstranten in Aleppo (von 200‘000 Einwohnern in den Rebellenquartieren), und wiederholten sich nicht. Es ist wahr, dass sie in einigen Städten zu Spannungen oder gar Konfrontationen mit den lokalen bewaffneten Gruppen wie Al Nusra geführt haben. Das ist nicht erstaunlich, wenn man sich an den Antagonismus zwischen Stadt- und Landbewohnern erinnert, die bewaffneten islamistischen Gruppen repräsentieren die „konservative Kultur des ländlichen Teils“ [138].

Während die Frauen 2011 in der Regel in den Demonstrationszügen einen spezifischen Platz einnahmen (in der Mitte oder hinten), sind sie total abwesend von den jüngsten Demonstrationen [139]. Am Anfang konnte die Beteiligung an der „Revolution“ für gewisse Frauen ein Mittel sein, um sich von den gesellschaftlichen Normen zu befreien (für andere war es die Witwenschaft), das späte Auftauchen der Religiösen durch die Justizverwaltung und ihr politisches Gewicht haben diese Entwicklung gebremst.

Die Mittelklassen haben sich dem proletarischen Aufstand von 2011 angeschlossen und ihn unter ihre Kontrolle gebracht. Der Krieg hatte ihnen jegliche Perspektive geraubt, doch heute scheint für sie alles wieder möglich. Die Proletarier hingegen waren in einer denkbar schlechten Stellung, um von diesen Jahren des Bürgerkriegs zu profitieren. Das wird sich vermutlich auch nicht ändern, falls es wieder Frieden geben sollte.

5) Unterwegs mit den Proletariern

Auf eine 2015 auf 22 Millionen geschätzte syrische Bevölkerung sind sechseinhalb Millionen Binnenflüchtlinge (wovon 1.7 Millionen momentan in Lagern leben) und sechs Millionen offiziell in den Nachbarländern registriert (Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon und Türkei) [140]. Es ist erwähnenswert, dass nach 2003 Hunderttausende Iraker (womöglich eineinhalb Millionen) in Syrien ein Refugium gefunden hatten. Gemäss der UNO sei es „die grösste humanitäre Krise weltweit seit dem Zweiten Weltkrieg“. Obwohl etliche Flüchtlinge seit 2011 versucht haben, Europa zu erreichen, schlägt die „Flüchtlingskrise“ von 2015 alle Rekorde [141], der Kontinent hatte Völkerwanderungen in einem derartigen Ausmass seit der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945-1947) nicht mehr gekannt. Es sind trotzdem die Nachbarländer Syriens, welche die meisten Flüchtlinge „aufnehmen“.

So leben beispielsweise in der Türkei mehr als drei Millionen syrische Flüchtlinge, davon 10 bis 15% in Lagern nahe der syrischen Grenze und Hunderttausende in Istanbul. Da es für die Syrer keine Visumpflicht gibt, hat nur eine Minderheit den Flüchtlingsstatus, der mit dem Recht auf eine Arbeitsbewilligung einhergeht, und die Mehrheit stützt sich also auf die informelle Wirtschaft (Ende 2015 arbeiteten 400‘000 syrische Flüchtlinge illegal im Land). Doch die Türkei ist häufig nur eine Etappe für die Migranten in Richtung Europa.

Der Libanon, welcher anfänglich vier Millionen Einwohner zählte, hat offiziell 2016 1.2 Millionen Syrer aufgenommen, aber wohl eher zwei Millionen. Da juristisch betrachtet dort kein Flüchtlingslager existiert, sind mehrere Familien in prekären Wohnsituationen, rudimentären Unterkünften, Garagen oder Zelten zusammengepfercht. Die Hälfte von ihnen hat eine nicht oder wenig qualifizierte Anstellung im Bausektor, als Gärtner oder in der Landwirtschaft, auf illegale Art und Weise für praktisch alle von ihnen. In diesen drei Sektoren waren schon vor dem Krieg viele Syrer und Einwanderer angestellt und sie leiden unter den aufgrund der Situation sinkenden Löhnen: Das durchschnittliche monatliche Einkommen eines syrischen Arbeiters ist ungefähr 38% tiefer als der libanesische Mindestlohn (450 Dollar) [142].

Aufgrund einer um sich greifenden anti-syrischen Fremdenfeindlichkeit und den Konflikten zwischen Flüchtlingen, verbunden mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zerbrechlichkeit des Landes und den Attentaten, ist das Risiko gross, dass sich der syrische Konflikt auf den kleinen Nachbarn ausdehnt.

Deutschland über alles

Für Europa sind die Zahlen ungewiss, insbesondere aufgrund der Mobilität der Migranten. Mehr als 1.3 Millionen Flüchtlinge haben 2015 einen „Antrag auf internationalen Schutz“ in einem Staat der EU gestellt, mehr als doppelt so viele wie im vorhergehenden Jahr. Etwa die Hälfte bis ein Drittel von ihnen sind wahrscheinlich Syrer (mindestens 400‘000, mehr als zweimal mehr als 2014), 20% Afghanen (ungefähr 180‘000, viermal mehr als 2014) und 10% Iraker (120‘000, siebenmal mehr). Doch jenseits der Zahlen wecken besonders die angenommenen Fähigkeiten und Qualifikationen dieser Migranten das Interesse.

Im September 2015 kommt der Präsident des MEDEF [französischer Arbeitgeberverband] zum Schluss, dass „die Migranten ein Segen für Frankreich sind“, denn sie „haben häufig ein hohes Bildungsniveau, sind meistens jung, gebildet und haben nur ein Bedürfnis, nämlich jenes, in Frieden zu leben und eine Familie grossziehen zu können“. Der Wirtschaftsminister verkündet, dass der Zustrom von Flüchtlingen eine „wirtschaftliche Chance“ darstellt, „da es sich um Frauen und Männer handelt, die auch bemerkenswerte Qualifikationen haben“. Doch die Migranten gehen Frankreich aus dem Weg, da das Land bezüglich des Empfangs und der Wirtschaft einen schlechten Ruf hat. Nur 10‘000 syrische Flüchtlinge sind seit 2011 aufgenommen worden und 2015 haben etwa 5‘000 ein Asylgesuch eingereicht, was 1.3% aller eingereichten Gesuche in Europa entspricht.

Jeder weiss es, die Migranten wollen grossmehrheitlich nach Deutschland gelangen, das Land hat im Jahr 2015 über eine Million Asylsuchende verzeichnet [143]. Eine Volksschwärmerei hat einen Teil der Deutschen dabei gezeigt, „Willkommen!“ zu sagen, doch viele, obwohl sie von guten Gefühlen getrieben sind, unterstreichen, dass diese Flüchtlinge nicht Einwanderer wie die anderen, alle sehr qualifiziert, gebildet und bereits zweisprachig seien. Als Beweis dient die Tatsache, dass alle von Journalisten befragten Migranten perfekt Englisch sprachen und Anwälte, Ingenieure oder Lehrer waren… Diese Bemerkungen werden sich einige Monate später, wenn es darum gehen wird, zwischen den guten und den schlechte Ankömmlingen zu sortieren, als praktisch erweisen. Aber jenseits der Mobilisierung moralischer Argumente hat die Debatte über den Empfang der Migranten in Deutschland sie allen voran als potenzielle oder gar unverhoffte Arbeitskraft betrachtet.

Empfang und Rentabilität

In Wirklichkeit ist Deutschland seit Jahren mit einem Mangel an Arbeitskraft und demographischen Schwierigkeiten wie der Alterung der Bevölkerung und einer niedrigen Geburtenrate konfrontiert. Zu Schulbeginn 2015 sind 800‘00 Lehrstellen unbesetzt geblieben in einem Land, das eine Million freie Arbeitsstellen zählt, besonders im handwerklichen Sektor.

Für viele „Spezialisten“ stellt der Einwanderer die Lösung dar, umso mehr, weil er den Vorteil bietet, zur Arbeit schon alt genug zu sein, was die Kosten der Reproduktion und der Arbeitskraft reduziert: „[D]ie Ernährung und Ausbildung eines Menschen kostet in seinen ersten 20 Lebensjahren etwa 200‘000 Euro.“ [144] Doch zwischen 2000 und 2010 ist die Migrationsbilanz in Deutschland negativ geblieben, die Anzahl Asylbewerber begann erst 2008 wieder anzusteigen. 2014 hat das Land eine Migrationsbilanz von 550‘000 Personen auf 1.46 Millionen Ankünfte im Land verzeichnet. Es geht also darum, die guten Einwanderer zu finden, aber auch, sie zu behalten.

Experten und Ermittler werden also versuchen, herauszufinden, ob der berühmte „syrische Arzt“ repräsentativ ist für diese „neuen“ Migranten. In Tat und Wahrheit variiert ihr Profil je nach Perioden und Bestimmungsorten. Die ersten, welche aufbrechen, sind theoretisch die qualifiziertesten, zumindest jene, welche am ehesten schnell eine Arbeit finden und zu Geld kommen, und somit danach ihre Familie nachziehen lassen können.

Für die UNO sind etwa die Hälfte der syrischen Flüchtlinge jünger als 17, aber die anderen sind in ihren „produktiven Jahren“ (erinnern wir uns daran, dass auf der anderen Seite des Rheins die Lehre mit 15 anfängt). Gemäss der UNHCR sind jene, welche Europa erreichen, mehrheitlich junge ledige Männer, welche die Sekundarstufe abgeschlossen oder eine höhere Ausbildung haben [145].

Im Herbst 2015 hat die deutsche Arbeitgeberschaft anfangs die „Migrantenkrise“ befriedigt begrüsst. Der CEO von Daimler kündigt an, er wolle direkt in den Empfangszentren rekrutieren: „Die meisten der Flüchtlinge sind jung, gut ausgebildet und sehr motiviert. Genau solche Leute suchen wir.“ Gemäss der Arbeitgeberschaft nahe stehenden Forschern „gibt es eine neue Qualität des Empfangs im Vergleich zu früheren Einwanderungswellen, wo wir nicht versucht hatten, die Leute hier zu behalten. Heute will man die Arbeiter langfristig integrieren und man tut viel mehr für die Integration.“ [146]

Die deutsche Arbeitgeberschaft insistiert nämlich seit mehreren Jahren gegenüber der Regierung, damit sie die Prozeduren des Empfangs und der Regulierung vereinfacht. Sie fordert im besonderen die sogenannte „3+2-Regel“: die Garantie, dass ein Asylbewerber in Ausbildung während seinen Ausbildungsjahren und danach zwei Jahre in Deutschland bleiben kann, um seinem Arbeitgeber zu erlauben, die Investition rentabel zu machen [147].

Im November 2014 wird die notwendige Aufenthaltszeit von Flüchtlingen bevor sie legal arbeiten können unter dem Druck der Arbeitgeberschaft von neun auf drei Monate verkürzt, doch mittlerweile möchte der Bund der Industriellen (BdI) diesen Zeitraum erneut verkürzen. Im August 2015 wurde die Frist bevor man Zugang zu Ausbildungshilfen hat von vier Jahren auf 15 Monate verkürzt.

Ein anderes zu eliminierendes „Hindernis“ ist jenes einer Art „Inländervorrang“, der dazu verpflichtet, die Einstellung eines Asylbewerbers der Anstellungsbehörde vorzulegen, damit sie überprüft, ob kein deutscher Kandidat oder einer aus einem anderen EU-Land diese Arbeitsstelle besetzen könnte. Dieses System wurde seit November 2015 beträchtlich vereinfacht und zudem vertreibt die Anstellungsbehörde eine Broschüre, die den Unternehmen erklärt, wie das Gesetz umgangen werden kann, z.B. mit Hilfe von Praktika oder Weiterbildungen [148]. Im April 2016 ist diese Regel für drei Jahre ausgesetzt worden.

Wermutstropfen und Missverständnisse

Die syrischen Migranten, um uns auf sie zu beschränken, fliehen vor dem Krieg, versuchen, zu überleben, haben manchmal alles verloren, träumen von einem neuen Leben und, für die optimistischsten unter ihnen, davon, eines Tages in ein befriedetes Syrien zurückzukehren. Sie haben sicher nicht Tausende an Kilometern aus Vergnügen oder aus Freude am Wandern zurückgelegt, weder um ein europäisches Proletariat „auszutauschen“ oder neu zu beleben, welches einige als zu gut genährt oder als zu unterworfen betrachten, noch um das Arbeitskraftproblem der deutschen Arbeitgeberschaft zu lösen. Und letztere, so mächtig sie auch sein mag, zettelt nicht Kriege an, um sich neue Proletarier zu beschaffen, sie profitiert ganz prosaisch von dieser Situation. Der Fluss der Migranten ist nicht ein Geschenk des Himmels, sondern schlichtweg das Resultat eines Blutbades.

Es besteht eine Art Diskrepanz zwischen den Untersuchungen und der Realität. Das erste Hindernis einer schnellen Beschäftigungsfähigkeit der Migranten ist ihre komplette Unkenntnis der Sprache, manchmal gar des lateinischen Alphabets. Schlimmer, einige von ihnen stellen sich gar als Analphabeten heraus. Dazu kommt die Frage der Diplome und ihrer Gleichwertigkeit, zumindest falls sie solche besitzen, denn gemäss gewissen Studien sind 80% von ihnen schlechter qualifiziert als ein einfacher deutscher spezialisierter Arbeiter [149].

Es wird schwierig sein, sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren, doch die Arbeitgeberschaft zeigt Bereitschaft, in ihre Ausbildung zu investieren, vorsichtig allerdings, denn die Flüchtlinge haben eine Aufenthaltsbewilligung für lediglich drei Jahre, d.h. die nötige Zeit, sie zu beenden. „Bei Daimler haben 40 Asylbewerber im November ein Praktikum angefangen […] Sie absolvieren jeden Tag eine Ausbildung von zweieinhalb Stunden in der Produktionswerkstatt und anschliessend dreieinhalb Stunden Deutschunterricht. Andere Ausbildungen dieser Art dürften dieses Jahr beginnen. Die Gruppe verkündet, dass mehrere Hundert Asylbewerber bis 2016 in den Genuss eines solchen Programms kommen sollen. Die Angestellten der Gruppe werden von der Führung zu einem System der Patentschaft ermutigt, welches die Integration der Neuankömmlinge erlauben soll.“ [150]

Diese Willkommenspolitik hat die Unterstützung des BdI und der Versammlung der Handelskammern, doch einige Chefs sind weiterhin skeptisch, v.a. jene der Föderationen des Bau- oder Werkzeugmaschinensektors [151]. Es wird tatsächlich Zeit und viel Geld brauchen, die Experten haben es berechnet: Da die durchschnittliche Produktivität eines Flüchtlings tiefer ist als jene eines deutschen Angestellten, wird es zwischen fünf und sieben Jahren dauern, bis er mehr produziert, als dass er dem Staat kostet [152]. Mittel- oder langfristig, in vier bis zehn Jahren, je nach Szenario, wird die erfolgreiche Integration der Flüchtlinge Nettoprofite bringen. Die UNO zeigt sich jedoch beruhigend: Wenn nur schon eine Minderheit in die Wirtschaft integriert wird, „ist die Investition rentabel“ [153].

Bis anhin ist Vorsicht vorherrschend, denn zwischen Herbst 2015 und Juni 2016 sind nur 54 Flüchtlinge von den 30 Unternehmen des DAX angestellt worden! Es haben sich hingegen 131‘000 bei der Bundesagentur für Arbeit eingeschrieben, drei Viertel davon ohne berufliche Ausbildung [154]. Es scheint jedoch, dass Daimler die Ausbildung der Flüchtlinge finanziert, um sie anschliessend unter einigen seiner Zulieferbetrieben zu verteilen [155].

In der Zwischenzeit wird gesagt, dass die Flüchtlinge nicht dem Müssiggang verfallen sollen. Umso mehr, weil die Logistik ihres letztendlich der Gemeinde obliegenden Empfangs sich grösstenteils auf Freiwillige stützt, die mit der Zeit seltener werden. Die Regierung hat also entschieden, dass die Asylbewerber „in den Genuss“ der berühmten Ein-Euro-Jobs kommen dürfen (gemeinnützige Arbeit, bezahlt 1.05 € pro Stunde und Sozialhilfebezügern vorbehalten), damit sie die mit ihrem Empfang verbundenen Aufgaben selbst ausführen (Unterhalt der Unterkunft, Küche usw.). Die Flüchtlinge haben nämlich nicht das Recht, angestellt zu sein und klassisch zu arbeiten, solange sie nicht offiziell Asyl haben. Es ist also ein Mittel zur Umschiffung von Schwierigkeiten. Seit April 2016 arbeiten 4‘000 Migranten in den 75 Berliner Unterkünften, 9‘000 in Bayern und die Regierung hat entschieden, 100‘000 Jobs dieser Art zu kreieren (wovon Migranten aus als sicher geltenden Ländern wie z.B. Albanien oder Kosovo ausgeschlossen sein werden).

Abgesehen von einer anfangs unvermeidlichen Erhöhung der Arbeitslosigkeit, welche Konsequenzen wird die plötzliche Ankunft einer Million neuer Proletarier haben? Gemäss den Experten der UNO sollte die Auswirkung auf die Löhne und die Anstellung der einheimischen Arbeiter „geringfügig oder inexistent“ sein, freilich mit „einem gewissen Druck auf Anstellungen mit geringer Wertschöpfung und die niedrigsten Löhne“ [156]. Ein Gewerkschafter betonte Ende April in der Presse, dass die am wenigsten qualifizierten am meisten von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung betroffen sind und dass die neuen Flüchtlinge tendenziell ebenfalls dieser Gruppe angehören. Am wahrscheinlichsten ist eine verschärfte Konkurrenzsituation eines zunehmend segmentierten Prekariats (allein schon aufgrund der unterschiedlichen Behandlung der Migranten) und die Vertiefung der rassistischen Brüche (auch zwischen neu angekommenen Migranten und schon länger dort lebenden Einwanderern), wovon die Arbeitgeberschaft profitieren wird.

Denn die Lobrede auf die dem Land eigen seiende Willkommenskultur und die Bilder von durch lächelnde Deutsche empfangene Migranten haben ein anderes Phänomen kaschiert, den Anstieg der Fremdenfeindlichkeit seit einigen Jahren mit Angriffen gegen die Zentren der Asylbewerber oder den imposanten Demonstrationen der PEGIDA in Ostdeutschland. Die Aggressionen an der Silvesternacht in Köln und in anderen deutschen Städten haben wahrscheinlich dazu beigetragen, dass ein Teil seine Meinung geändert hat [157]. Seither haben die gegen die Flüchtlinge gerichteten Thematiken der euroskeptischen Partei AfD ihr an den Regionalwahlen letzten März einen bedeutenden Stimmengewinn eingebracht.

Die Episode „Migrantenkrise“ ist provisorisch vorbei und die Flüchtlingsflüsse sind eindeutig am Zurückgehen (92‘000 Aufnahmen in Deutschland im Januar 2016, 16‘000 im Juni). Die Schliessung der „Balkanroute“ und das Inkrafttreten des Abkommens zwischen der EU und der Türkei erklären das zum Teil.

An den Grenzen der Wirklichkeit?

„Schluss jetzt!“ Das ist die implizite Botschaft, die letzten März vom Chef der deutschen Chefs und seinem französischen Amtskollegen in einer gemeinsamen Kolumne geäussert wurde, sie fordert eine „rasche“ europäische „Ergreifung der Initiative“ und dass der Flüchtlingsfluss „unter Kontrolle gebracht und deutlich reduziert werden“ muss. Das am 18. März 2016 zwischen der EU und der Türkei abgeschlossene Abkommen soll diese Forderungen befriedigen. Im Austausch gegen einige Milliarden Euros, eine Liberalisierung der Einreisepolitik und eine Neuaufnahme der Verhandlungen über einen EU-Beitritt kontrolliert Ankara von nun an die Migranten auf seinem Territorium.

Man sieht es, die „Festung Europa“ ist (bis anhin) allen voran ein Phantasma von Linken und Faschisten, denn die Wirtschaft der EU braucht jedes Jahr Hunderttausende Einwanderer. Für die Mitgliedsstaaten, definitionsgemäss im Dienst der Kapitalisten, geht es v.a. darum, die bestehenden Flüsse zu regulieren. Auf ziemlich zynische Art und Weise, denn der Tod ist mit im Spiel, die Hindernisse auf der Route der Migranten dienen als Filter, welcher idealerweise nur „bestimmte Menschen durchkommen“ lässt, „die fit sind, über Geld, persönliche und familiäre Ressourcen verfügen und einen unbedingten Willen haben“ [158]. Die im Zentrum des zur Koordination der Küstenwache vorgesehenen Dispositivs stehende Agentur Frontex soll sich gemäss den Regierungen 2015 ziemlich ineffizient gezeigt haben. Es war notwendig, die NGOs und sympathische junge humanitäre Helfer zu mobilisieren, um zur Sortierung und Fichierung der Migranten in den Lagern Griechenlands beizutragen. Diese bekannten „Aufnahme- und Identifikationszentren für Flüchtlinge“, die „Hotspots“, dienen besonders dazu, wirtschaftliche Migranten von Flüchtlingen zu trennen, auf erstere wartet die Ausschaffung, auf letztere die Gastfreundschaft, in einer wohl verstandenen Mischung von Härte und Barmherzigkeit. Die Tätigkeit der NGOs erlaubt es auch, die Hilfe der lokalen Bevölkerungen in einem strikten Rahmen der Barmherzigkeit und des Mitgefühls zu halten, statt sie möglicherweise für jenen einer Solidarität unter Proletariern zu öffnen.

Was soll danach mit den Migranten geschehen? Das Problem ist, dass Staaten verschiedene Interessen, Arbeitslosenquoten und Arbeitskräftebedarf haben – die nicht notwendigerweise mit den Wünschen, Träumen, Möglichkeiten und dem Erfindergeist der Migranten übereinstimmen (die Welt ist schlecht). Die Verteilung und der Standortwechsel der Flüchtlinge sind mühsam. Polen will z.B. keine Migranten, Portugal möchte hingegen etwa zehntausend, um einige landwirtschaftliche Regionen neu zu bevölkern [159].

Die notwendige Kontrolle des Migrationsflusses ist durch die Verwendung der Flüchtlinge als diplomatische Waffe komplizierter geworden (Griechenland und v.a. die Türkei, welche „die Schleusen“ öffnen oder schliessen, um Druck auf die EU auszuüben) oder als Kriegswaffe (Provokation der Zivilbevölkerung zur Flucht, um die feindlichen Territorien mit Flüchtlingen zu fluten und sie zu destabilisieren, wie es Assad gegen die Türkei getan hat).

Die „Migrantenkrise“ 2015 war vielleicht nur ein Experiment in Lebensgrösse in Voraussicht der künftigen Jahrzehnte, kaum schlüssig, da es von Kontrollverlust, einer improvisierten Verwaltung, Entscheidungen in höchster Not und der Unangemessenheit der gegenwärtigen Dispositive geprägt ist. Frontex wird somit durch eine andere europäische Agentur der Küsten- und Grenzüberwachung mit erweiterten Kompetenzen ersetzt werden, sie wird von nun an das Recht haben, die Präsenz ihrer Einheiten jedem Staat der EU aufzuzwingen [160]. Es liegt eine Reform der Migrationspolitik in der Luft.

6) Vom Traum der Revolution

Was wartet morgen auf Syrien? Die Riesen des Bauwesens und der Industrie bereiten sich auf jeden Fall darauf vor. Die UNO schätzt die Kosten der Zerstörungen von Wohnungen und Infrastrukturen auf 90 Milliarden Dollar (79 Milliarden Euros), die Baustelle für den Wiederaufbau wird enorm sein. Die Projekte für Pipelines und Offshore-Gas werden wieder auf den Tisch kommen. Wer wird jedoch am besten platziert sein und wie wird der Kuchen geteilt werden? Gemäss Einflusszonen?

Im Land selbst hat der Krieg das Problem des überschüssigen Proletariats auf unnachsichtige Art und Weise geregelt, die Verwüstungen, die zerstörten, delokalisierten, demontierten und gestohlenen Fabriken sind da noch nicht einmal in Betracht gezogen. Wird man letztendlich Arbeitskraft importieren müssen? Umso mehr, weil seit 2011 die schulische und berufliche Bildung keine Prioritäten waren in Damaskus und ein Teil der Arbeitskraft, wahrscheinlich die am besten qualifizierte und ausgebildete, im Exil ist. Der Erzbischof von Aleppo hat es von seinem Standpunkt aus ausgedrückt, jenem der syrischen Christen, doch sein Urteil gilt auch für die anderen „Gemeinschaften“: „Mit der Ankunft von Hunderttausenden Flüchtlingen in Europa habe ich Angst um die Zukunft. Irgendwie habe ich den Eindruck, als ob eine Deportation unserer Bevölkerung organisiert worden wäre, v.a. unserer produktiven Bevölkerung, jene, welche das Land und die Kirche wiederaufbauen könnten. Die Mittelklasse, das Scharnier und Rückgrat unserer Gesellschaft, ist dabei, zerrieben zu werden.“ [161]

Was die Proletarier betrifft, wurden sie wohl zu viel massakriert, gespalten, konfessionalisiert und in Gemeinschaften gezwängt, als dass man von ihnen einen Ausbruch in den nächsten Jahren erwarten könnte. Kriegszeiten bieten manchmal Gelegenheit zu einem radikalen Bruch dank der Zerbrechlichkeit und des Zusammenbruchs des Staates, wie 1871 in Paris, 1917 in Russland und 1918 in Deutschland, doch der Bürgerkrieg verschliesst diese Perspektiven häufig (wenn nicht fast immer).

Soll man trotzdem alles in ein gutes Licht stellen? Wenn man genug lange sucht? Es ist freilich tröstlich, Helden, Hoffnung, einen Glauben zu haben, aber es sollte einem doch nicht dermassen vom Hocker reissen, dass man wild gestikulierend „Revolution! Revolution!“ schreit – und sich selbst und andere versucht, zu überzeugen, dass das, was geschieht, „sehr interessant“ ist. Weil „Leute etwas“ tun. Propaganda ist stets eine betrübliche Tätigkeit, doch hier, in den Ruinen Syriens, welche für ihn den Gipfel des Urbanismus darstellen, sucht der desillusionierte europäische Aktivist diesen Klumpen, der beweisen würde, dass er recht hat, dass die Goldader existiert. Der Begriff „Revolution“ ist benutzt worden, um diverse laufende Prozesse in Syrien zu beschreiben, aber häufig von Aktivisten oder Journalisten, die darunter nur eine „wahrhaftige“ Reform verstehen. Manchmal von anderen, eher gewöhnt an radikale Kritik und die eigentlich wissen, dass Worte einen Sinn haben. Ein Wortfehler? Der Zustand des Proletariats in Frankreich, die Ernüchterung, das deformierende und hypnotische Prisma der AK-47, genügt das als Erklärung?

Die Selbstverwaltung des Überlebens in einer aus Ruinen bestehenden Stadt, die Waffen in der Hand, während die zusammengebrochene Gesellschaft nachgeäfft wird – wir werden diesen Albtraum nicht mit dem Wort „Revolution“ schmücken.

Warum ist die proletarische Revolte in Syrien 2011 gescheitert, genau wie die darauf folgende demokratische „Revolution“? Ist es schlichtweg aufgrund exogener Gründe? Warum versucht man in Anbetracht des Zusammenbruchs des Staates, ihn zu ersetzen, seine Rückkehr vorzubereiten/zu erleichtern? Wieso wird die minimale Tätigkeit einer im Krieg auf sich selbst gestellten Bevölkerung – der Kampf ums Überleben – von der Mauer der Realität überwältigt? Die Zurückdrängung des Staates ist notwendig aber ungenügend, die Wiederherstellung der „Normalität“ ist gleichbedeutend mit der Vorbereitung seiner Rückkehr. Wenn man das Ideal der Revolution in den Grenzen dieser Art von Prozess selbst findet, verurteilt man sich zu schmerzlichen Niederlagen, z.B. in Bezug auf die Frage des Verhältnisses zur Gewalt, zur Militarisierung oder zum Pragmatismus [162]. Wir wissen selbstverständlich nicht wie die Proletarier konkret die Klassen abschaffen werden, wir verfügen über kein Modell. Doch vielleicht sind wir eines Tages dran, mit der Apokalypse (der Offenbarung) konfrontiert zu sein und werden versuchen, zumindest ein bisschen nützlich zu sein, indem wir z.B. auf einen Ausgang des Chaos gegen oben drücken, indem wir versuchen, den Staat, die Armee, das Geld, die Lohnarbeit usw. loszuwerden. Dafür sollten wir zumindest ein bisschen ambitioniertere Träume haben.

Tristan Leoni, Juli 2016

Literaturverzeichnis

„Kalifat und Barbarei. Erster Teil: Vom Staat“, November 2015.

„Kalifat und Barbarei. Zweiter Teil: Von der Utopie“, Dezember 2015.

Gilles Dauvé, „Brouillards de guerre“, Juni 2016.

***

Adam Baczko, Gilles Dorronsoro, Arthur Quesnay, Syrie. Anatomie d’une guerre civile, CNRS éditions, 2016, 416 S.

Michel Korinman (Hg.), Daech. Menace sur les civilisations, L’Esprit du Temps, 2015, 384 S.

Pierre-Jean Luizard, Béligh Nabli, Wassim Nasr, Pierre Razoux, „Table ronde, ouverte à la presse, de spécialistes du Moyen-Orient“ in Rapport fait au nom de la commission d’enquête relative aux moyens mis en œuvre par l’État pour lutter contre le terrorisme depuis le 7 janvier 2015, Bd. II, Assemblée nationale, S. 680-697.

Zu Rojava

Tristan Leoni, Gilles Dauvé, „Kurdistan?“, Januar 2015.

TKGV [Initialen der Autoren], „A Letter to ‘Rojavist’ Friends“, Mai 2016.

„Zwei lokale Kriege“ in Internationale situationniste, Nr. 11, Oktober 1967.

Zu den Migranten

Henri Simon, „L‘industrie du migrant. Mutations et migrations: une longue histoire de la vie sur terre“ in Échanges, Nr. 154, Winter 2015-2016, S. 11-36.

Felix Baum, „From Welcome to Farewell: Gemany, the Refugee Crisis and the Global Surplus Proletariat“, Juli 2016.

Antithesi, „Vogelfrei. Migration, Deportations, Capital and Its State“, Juni 2016.

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net

Quelle

Vierter Teil: Der Endkampf?

Allmählich erstelle ich die Liste des Alphabets der Ruinen. All das bedeutet etwas.
_ Das kann nicht keinen Sinn haben.
_ Der Krieg spricht zu uns….
 
David B., La Lecture des ruines, 2001.

Kann man in den Ruinen wie in den Linien einer Hand lesen? Die politische Hauptstadt des Islamischen Staates (IS) ist am 17. Oktober 2017 gefallen, ein vorhersehbarer Ausgang einer Schlacht, die vier Monate zuvor wirklich begonnen hat. Man sieht jedoch keine laut jubelnde Menschenmenge zum Empfang der Befreier in den Strassen und das hat seine Gründe. Während diesem Zeitraum ist die Bevölkerung von 300‘000 Einwohnern (wovon ein Drittel Flüchtlinge waren) auf fast null geschrumpft. Das Lager des Guten ist präzis und gibt an, dass nur 1‘000 bis 2‘000 Zivilisten unter den Bombenangriffen gestorben sind; die anderen sind vor der Annäherung der Kämpfe geflohen und versuchen heute auf den Strassen oder in den Flüchtlingslagern zu überleben.

Die Eroberung Raqqas ist höchst symbolisch, denn die Stadt, unter der Kontrolle des IS seit Juni 2013, war seine politische Hauptstadt gewesen (obwohl seine Verwaltung einige Monate zuvor nach al-Mayadin, auf dem Euphrat 175 km flussabwärts, transferiert worden war). Einen Monat später war eine strategisch bedeutende Schlacht in Abu Kamal – auf welche wir zurückkommen werden – gleichbedeutend mit dem Ende des Kalifats als protostaatliches territoriales Gebilde. Der Zusammenbruch des IS scheint eine Klammer zu schliessen, jene der Konfrontation zwischen dem Bösen und dem Rest der Welt; von nun an wird die syrische Aktualität wieder jene des ursprünglichen Konflikts sein, dieses Bürgerkrieges, welcher auf die sozialen Proteste 2011 folgte und sie beendete [163]. Trotz einem Jahre andauernden Prozess der Libanonisierung und Konfrontationen zwischen Hunderten von mehr oder weniger durch ausländische Mächte unterstützten Milizen und bewaffneten Gruppen nähert sich der Konflikt seinem Ende.

Die Proletarier hatten die Wahl, sich ganz klein zu machen, auszuwandern oder ein Lager zu wählen (der Soldatenberuf hat, als einziger in der Region, den Vorteil, einem einen Lohn und eine Mahlzeit zu verschaffen). Doch von nun an bereitet sich jeder in Anbetracht der sich nähernden Normalisierung auf eine rationalere und klassischere Ausbeutung dieser Arbeitskraft vor, von welcher man annimmt, dass sie vom Bombenhagel und den Ruinen gefügig gemacht worden ist.

Torloses Remis, der Ball im Mittelfeld?

Die Partie ist gespielt; die Ausschaltung der islamistischen Milizen in den östlichen Quartieren Aleppos im Dezember 2016 ist der Wendepunkt gewesen. Das Regime in Damaskus wird bleiben und das vom Krieg zerstörte Syrien wird in (russische, türkische oder amerikanische) Einflusszonen unterteilt werden; die Kämpfe von 2017, und wahrscheinlich auch jene 2018, gehen nur darum, die Umrisse davon zu präzisieren. Der Erfolg des loyalistischen Lagers, der nicht weit von einem Pyrrhussieg entfernt ist, ist v.a. ein Erfolg Russlands. Mit einer beschränkten (und somit relativ günstigen) militärischen Präsenz bestätigt Russland seinen Einfluss im Land, verkauft zunehmend Waffen in der Region und stärkt seinen internationalen Einfluss, indem es sich als unumgehbare Macht im Nahen Osten und in der östlichen Mittelmeerregion positioniert. Die Effizienz seines Expeditionskorps wird nämlich mit diplomatischen Durchbrüchen komplettiert: Moskau umgeht die fruchtlosen Verhandlungen in Genf und nimmt ab Januar 2017 den Friedensprozess in Syrien in die Hand, indem es Diskussionsrunden in Astana mit dem Iran, der Türkei und gewissen islamistischen Rebellengruppen lanciert. Der andere grosse Sieger ist der Iran, welcher seinen Einfluss sowohl in Syrien als auch im Irak vergrössert, genau wie in einem geringeren Ausmass sein Verbündeter, die libanesische Hizbollah. Die Türkei hat sich schliesslich im Sommer 2016, nach vielen diplomatischen Sinneswandeln, dem Trio Russland-Iran-Syrien angenähert, sie versucht ebenfalls, sich als unumgehbaren Akteur in der Region durchzusetzen (sei es nur durch die islamistischen Milizen und den Territorien, die sie nun im Norden Syriens kontrolliert). Das zeigt auch jenen, welche daran gezweifelt haben mögen, dass wir es offensichtlich nicht mit einem konfessionellen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten zu tun haben.

Die USA (und ihre westlichen Aushilfskräfte) behalten vorsichtig, obwohl sie marginalisiert sind, da sie nie eine wahrhafte Strategie in Syrien hatten, und im Gegensatz zu Trumps Versprechen, einen Fuss in der syrischen Tür. Auf günstige Art und Weise schaffen sie sich eine Einflusszone, deren einziges Interesse es ist, zu verhindern, dass der russisch-iranische Sieg total ist, und somit Israel und Saudi-Arabien zufriedenzustellen. Donald Trump, den einige als „islamophob“ bezeichnen, wird vom Prinz Mohammed ben Salman mit dem Titel „wahrer Freund der Muslime“ beehrt.

Die rivalisierenden Kräfte

Das Kalifat

In dieser Mischung zwischen Schach und Poker, zu welcher der syrische Konflikt geworden ist, hielt der IS gute Karten in den Händen (Territorien, Städte, Strassen und strategische Standorte, Luftstützpunkte, Erdölquellen usw.); für die anderen gegen ihn verbündeten Spieler geht es darum, ihm ein Maximum an Karten abzunehmen, die in einer nahen Zukunft im Rahmen von Verhandlungen getauscht werden können. Daher kommt das Gewühl, das wir seit einem Jahr beobachten können.

Ab Sommer 2016 ist das Territorium des IS aufgrund der Vorstösse aller Armeen der Region (türkische, kurdische, syrische, irakische usw.) zusammengeschrumpft, bis es im Juli 2017 zum Verlust von Mosul und im Oktober zu jenem von Raqqa kam. Er war trotzdem bis zum Ende fähig, heftige Gegenoffensiven hinter den Feindeslinien oder an ihren Flanken zu lancieren und gleichzeitig seine Hochburgen bis zu ihren letzten Kämpfern zu verteidigen. Gemäss eher hohen Schätzungen zählte er 2014 zwischen 80‘000 und 100‘000 Soldaten in seinen Reihen; im Sommer 2017 waren es wahrscheinlich nur noch etwa 10‘000. Die amerikanische Armee spricht von 80‘000 getöteten IS-Kämpfern seit 2014! Zum Zeitpunkt, wo wir diese Zeilen schreiben, beschränkt sich die Armee des Kalifats auf einige Tausende in der Wüste, den Bergen und im Hinterland des Iraks und Syriens zerstreute Anhänger. Doch, obwohl die Offiziere des IS, gepaart mit dem Fanatismus ihrer Truppen, echte militärische Qualitäten gezeigt haben, muss diese langsame Agonie auch mit der schwachen Koordination seiner sich gegenseitig Steine in den Weg legenden Feinde erklärt werden.

Obwohl der im Kalifat aufgebaute Verwaltungs-, Wirtschafts- und Sozialapparat methodisch durch westliche Luftschläge angegriffen wurde [164], um die Bewohner zum Aufstand zu animieren, ist es nicht zu grossen Revolten gekommen (die Zerstörungen führten womöglich gar dazu, dass die Bevölkerung noch abhängiger vom Protostaat wurde). Bis zum letzten Moment, und besonders durch nackten Zwang, hat es der IS geschafft, die Kontrolle über seine Truppen und seine Bevölkerung zu behalten; dazu kam die Furcht vor den Befreiern, mögen sie schiitisch (in Mosul) oder kurdisch (in Raqqa) gewesen sein. Die Stämme haben den definitiven Eigentümerwechsel abgewartet, bevor sie ihren Treueeid modifizierten.

Die militärische Niederlage ist allerdings nicht gleichbedeutend mit dem Ende des IS; Abu Mohammed al-Adnani, der Sprecher der Organisation, warnte im Mai 2016: „Werden wir besiegt und ihr siegreich sein, wenn ihr Mosul, Raqqa oder Sirte erobert? Selbstverständlich nicht. Die wahre Niederlage wäre der Verlust des Kampfeswillens.“ Die mit Propaganda beauftragten Kader haben sich in ihren Studios und Büros in Raqqa abgemüht, um eine Legende zu erschaffen, die andauern und künftigen Jihadisten als Referenz dienen wird. Obwohl er anfangs einen sehr lokalisierten, territorialisierten Jihadismus unterstützte und in einer eschatologischen Optik versuchte, einen wahrhaften Staat aufzubauen, ist der IS nun für Jahre zu einer weltweiten Tätigkeit als terroristisches und Guerillanetzwerk verurteilt (Sahelzone, Nordafrika, Sinai, Irak, Afghanistan, Philippinen…). Er hatte sich darauf vorbereitet, doch seine Zukunft ist ungewiss: Allmähliches Verschwinden zugunsten anderer Gruppen? Comeback? Namensänderung? Erstarken seines radikalen Flügels [165]? Verwandlung in ein hauptsächlich europäisches Problem (da die westlichen Jihadisten am wenigsten an nationalen Logiken interessiert sind [166])?

Das loyalistische Syrien

Paradoxerweise haben die militärischen Erfolge des loyalistischen Lagers ebenfalls zur Schwächung des syrischen Staates beigetragen. Abgesehen von einer wachsenden wirtschaftlichen Abhängigkeit von Russland und dem Iran kann man auch eine Tendenz hin zur Libanonisierung des Landes beobachten, d.h. eine Auflösung der Macht zugunsten der Milizen.

Obwohl sie zentral ist in der Rückeroberung des Territoriums, ist die der Regierung treu gebliebene syrische Armee (unter dem offiziellen Namen Armee der arabischen Republik Syrien, AAS) in Schwierigkeiten, trotz den 100‘000 bis 150‘000 Männern, die sie zählt (und wovon vielleicht etwa 50‘000 einsatzfähig sind). Abgenutzt nach sechs Jahren eines sehr verlustreichen Konflikts (von den wahrscheinlich ungefähr 500‘000 Toten des Konflikts sind etwa 100‘000 loyalistische Kämpfer) und mit Rekrutierungsschwierigkeiten kämpfend ist sie gezwungen gewesen, sich im Verlauf der Jahre immer mehr paramilitärische Gruppen und Einheiten einzuverleiben.

Dazu gehören allen voran die lokalen Milizen und die „Volkskomitees“, die zu Beginn des Konflikts vom Pro-Assad-Lager erschaffen worden waren und innerhalb der Nationalen Verteidigungskräfte (ungefähr 100‘000 Mann) vereinigt sind, sie rekrutieren hauptsächlich, aber nicht nur, ethnische und religiöse Minderheiten (Christen, Alawiten, Schiiten, Drusen…) und in den palästinensischen Lagern (das machen auch die „Rebellen“). Andere Einheiten, die manchmal schon vor dem Konflikt existierten, sind mit politischen Organisationen verbunden (Baath, Syrische Soziale Nationalistische Partei oder Marxisten-Leninisten), mit sunnitischen Stämmen (v.a. seit der 2017 begonnen Wiedereroberung des Ostens des Landes) oder mit dem Regime nahestehenden Geschäftsmännern, die sie direkt konstituiert und finanziert haben. Eine Vervielfachung von Milizen, die eine Auflösung der hierarchischen Kontrolle und die Entwicklung von kleinkriminellen Praktiken (Plünderung, Diebstahl, Schutzgelderpressung) zur Folge hat.

Sogar innerhalb der regulären Armee ist diese Tendenz hin zur Libanonisierung spürbar. Um der Krise Herr zu werden, hat die syrische Armeeführung den Offizieren vor Ort nämlich grösseren Spielraum gegeben und die Kommandeure der Einheiten haben davon profitiert, um sich eine beträchtliche Autonomie zu verschaffen (damit ihre Selbstfinanzierung garantiert werden kann); das würde die Schwierigkeiten und Funktionsstörungen in der Befehlskette der AAS erklären, womöglich gar den – taktisch wenig rentablen und politisch kontraproduktiven – Einsatz chemischer Waffen.

Diese Situation wird durch die zunehmende Präsenz von ausländischen militärischen Einheiten (zwischen 40‘000 und 60‘000 Mann) aus dem schiitischen Halbmond kompliziert, allen voran aus dem Iran, der militärische Berater und Spezialkräfte (die Quds-Einheiten) liefert, dazu kommt jene der Hizbollah. Zu dieser Liste müssen irakische Milizen und andere kleine Einheiten hinzugefügt werden, letztere bestehen allen voran aus afghanischen Hazara (als Flüchtlinge im Iran sind sie motiviert durch den Sold und der versprochenen Erhaltung der iranischen Nationalität).

Dieses Inventar der Kräfte scheint beeindruckend, doch, während die am wenigsten kampferprobten Einheiten ein grosses Territorium und eine Vielzahl von sekundären Fronten kontrollieren mussten, wurden die einsatzfähigsten Truppen kontinuierlich beansprucht und von einem Ende des Landes ins andere gekarrt. Ohne die Hilfe Moskaus hätten sie nicht das Gleichgewicht mit den islamistischen Armeen wiederherstellen und dann das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten beeinflussen können. Obwohl das russische Kontingent nominell beschränkt ist – ungefähr 5‘000 Mann, Logistiker, Instrukteure, Berater und SpezNaz (russische Spezialkräfte) eingeschlossen, und v.a. etwa fünfzig Kampfflugzeuge – wird es sich als sehr effizient erweisen (zu diesem Dispositiv kommen 3‘000 Mann von privaten russischen Militärfirmen dazu [167]).

In den Rebellengebieten

Da sich die Niederlage der rebellischen Armee abzeichnet, interessieren sich jene Unterstützer und Geldgeber, welche vorher ihre Stärke waren, immer weniger für sie. Die wichtigsten davon sind übrigens sehr gespalten, Saudi-Arabien und VAE gegen Katar und die Türkei. Und während letztere zu einer Annäherung mit Russland und sogar dem Iran tendieren, sind die beiden ersteren im Jemen-Krieg festgefahren. Die USA haben seit Anfang 2017 ihre fruchtlosen und teuren Versuche, „gemässigte“ islamistische bewaffnete Gruppen in Syrien zu konstituieren oder zu kontrollieren, ebenfalls eingestellt und sich schliesslich den Kurden der YPG zugewendet (genau wie Frankreich und Grossbritannien), die nur schwer als „Rebellen“ [168] klassifiziert werden können und auf die wir zurückkommen werden.

Diese Gruppen – es gibt mehrere Hundert davon – ändern regelmässig ihren Namen und gruppieren sich in nicht minder instabilen militärischen Koalitionen. Die Gesamtheit ihrer Kämpfer wurde 2016 auf zwischen 100‘000 und 150‘000 geschätzt. Das Kürzel FSA (Freie syrische Armee), das von einigen Dutzenden an Gruppen getragen wird, v.a. im Süden des Landes, bezieht sich weder auf eine Armee, noch auf eine Koordination; es handelt sich schlichtweg um eine Etikette, die sich manchmal als nützlich erweisen kann.

2017 entstehen zwei mächtige Koordinationen aus dieser Unzahl an Gruppen und polarisieren sie. Einerseits die Hayat Tahrir al-Sham, die im Januar 2017 aus den Überresten der Rebellengruppen der ehemaligen Nusrafront (die ehemalige syrische Filiale der Al-Qaida) entstanden ist und etwa 30‘000 Kämpfer zähle (davon viele ausländische Freiwillige), v.a. in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens. Ihre Rivalin ist die Ahrar al-Sham, eine 2011 entstandene Koordination salafistischer Gruppen, die zwischen 10‘000 und 25‘000 in mehreren Provinzen zerstreute Kämpfer zähle. Diese beiden Organisationen, welche die Provinz Idlib (zwei Millionen Einwohner [169]) in eine Festung verwandelt haben, sind wahrhaftige, schwer ausgerüstete Armeen. Wenn sie sich verbünden, sind sie fähig, mit den Truppen von Damaskus zu rivalisieren, manchmal gar sie bezüglich der Anzahl Kämpfer und Material zu deklassieren (die Luftkraft ausgenommen, sie kompensiert dieses Defizit mehr oder weniger), wie z.B. während der Schlacht von Aleppo (Sommer 2016) oder jener von Hama (März-April 2017). Doch sie sind auch fähig, sich gegenseitig um die Kontrolle der Städte und der Grenzposten mit der Türkei zu bekämpfen, d.h. um die Kontrolle des Handels, der humanitären Hilfe und der „Abgaben“. Da die beiden Koordinationen sich ideologisch nahe stehen (die eine ist eher jihadistisch, die andere steht eher den Muslimbrüdern nahe) und sie global betrachtet ähnliche Ziele haben – den Aufbau eines mithilfe der Scharia regierten islamischen Regimes in Syrien –, wechseln einige Gruppen problemlos von der einen zur anderen.

Die als fiktiv betrachtete Trennung zwischen Al-Nusra und Al-Qaida tendiert dazu, zu einer Realität zu werden – die Radikalen werfen HTS ihre Kompromisse, Zugeständnisse und doktrinale Abweichungen vor. Der Sohn von Osama bin Laden, Hamsa, wahrscheinlich der zukünftige Anführer von Al-Qaida, rief im September 2017 zum Jihad in Syrien auf, ohne die ehemalige Filiale zu erwähnen. Die Neuentstehung einer offiziellen Al-Qaida in diesem Land wird zu einer Möglichkeit. Auf internationaler Ebene konnte sich diese Organisation im Schatten des IS entwickeln, letzterer zog alle Aufmerksamkeit und alle Schläge auf sich, und sie hat mittlerweile in gewissen Regionen solide territoriale Verankerung (Sahelzone, Jemen).

Die Region Idlib ist im Mai 2017 zu einer Deeskalationszone geworden (siehe weiter unten), russische, türkische und iranische Puffertruppen sollten theoretisch dorthin zwischen Rebellen und Loyalisten entsendet werden; was werden die islamistischen Gruppen dazu meinen, welche aus der Region ihre Festung gemacht haben? Der Türkei würde z.B. der Aufbau einer neuen „nationalen Armee“, rund um Ahrar al-Sham und den anderen von ihr kontrollierten Gruppen, unter der Befehlshoheit einer interimistischen Verwaltung, nicht missfallen. Was die HTS betrifft, ist es wahrscheinlich, dass sie sich syrischen oder türkischen Truppen unterordnen werden muss oder mit ihnen konfrontiert sein wird. Seit Ende November intensivieren sich die Kämpfe mit der AAS. Neue Massaker werden also für 2018 vorbereitet.

Es ist erwähnenswert, dass die islamistischen Gruppen zwar fast vollständig über das Gewaltmonopol verfügen, das jedoch nicht bedeutet, dass die Bevölkerung jener Gebiete sie unterstützt, wo sie aktiv sind. Sie kann sich ihnen gar manchmal entgegenstellen: So haben die Bewohner mehrerer Orte der Region Idlib im Juli 2017 gegen die Anwesenheit der HTS demonstriert und verhindert, dass sie die lokale Verwaltung kontrolliert [170]. Die Einwohner Syriens träumen nicht alle von einem islamischen Staat oder einer Diktatur nach alter Schule, es gibt sogar jene, welche hoffen, es werde eine Demokratie aufgebaut, wie wir sie in Frankreich kennen. Anarchisten und Rätekommunisten schliesslich existieren zwar in Syrien, man muss jedoch leider anerkennen, dass die laufenden Dynamiken in diesem Land seit fünf oder sechs Jahren kaum in ihrem Sinn sind.

Krieg unter Freibeutern

Eine kurze Rekapitulation der Entwicklung der Situation und gewisser Ereignisse, die nach der Niederschrift unseres letzten Artikels zum Thema im Juli 2016 [171] geschehen sind, scheint uns notwendig. Der allmähliche Zusammenbruch des Kalifats wird von einer Rivalität der anderen anwesenden Akteure begleitet, welche sich so viel Territorium wie möglich aneignen möchten. Man kann mehrere Wettläufe um die Eroberung dieser oder jener Ortschaft oder die Blockade der Route des anderen beobachten, sie enthalten das Risiko, dass sich mehr oder weniger kontrollierte Zusammenstösse zwischen Kämpfern der rivalisierenden Armeen vervielfachen.

Was jedoch die Periode charakterisiert, sind die Fortführung und die Ausweitung eines Anfang 2016 begonnenen Prozesses der „Konfliktlösung“. Parallel zu seiner bewaffneten Intervention hat Russland tatsächlich ein Versöhnungszentrum eröffnet, an das am Anfang niemand glauben wollte; es ist jedoch ein Klassiker der Aufstandsbekämpfung, die Rebellen zu spalten, indem man den gemässigsten unter ihnen Waffenstillstände, Reintegration und Amnestien anbietet. In diesem Rahmen wurde eine Reihe von Abkommen unterzeichnet, welche seit Jahren von den loyalistischen Kräften belagerte Gebiete oder Ortschaften betreffen [172] und einen präzisen Prozess vorsehen: Zurückgabe des Gebietes; Transfermöglichkeit in ein anderes Rebellengebiet für jene, welche es wünschen (im allgemeinen die Kämpfer, ihre Familien und die politisch am meisten engagierten Personen) – ein Transfer, der unter der Aufsicht Russlands, der UNO und des Roten Halbmondes bewerkstelligt wird; Stationierung der russischen Militärpolizei, humanitäre Hilfsprogramme, Amnestie der Rebellen – Russland benutzt sein Gewicht gegenüber Damaskus, um Repression und Vergeltungsmassnahmen zu verhindern.

Auf einer anderen Ebene machen die regelmässig abgeschlossenen – und verletzten – Waffenstillstände zwischen den wichtigsten kriegführenden Parteien ab Januar 2017 dem Friedensprozess von Astana Platz, wo, unter der Schirmherrschaft Russlands, des Irans und der Türkei, das Regime von Damaskus und gewisse auf dem Terrain aktive Rebellengruppen die Lösung militärischer und praktischer Fragen diskutieren (im Gegensatz zu den Verhandlungen in Genf, an welchen sich eine syrische Exilopposition ohne Verbindung zu den kämpfenden Gruppen beteiligt). Auch hier geht es darum, die Rebellen (wovon einige von der Türkei unterstützt werden) zu spalten: Einerseits jene, mit welchen man verhandeln kann (Zurückgaben von Territorium, Reintegration, Amnestien), und andererseits jene, welche von allen als Terroristen betrachtet werden. Vier rebellische Enklaven sind somit im Mai 2017 als „Deeskalationszonen“ designiert worden, beispielsweise die Region von Idlib, wo sich die Kämpfe allmählich beruhigt haben. Andere lokale Abkommen komplettieren das Panorama: z.B. jenes rund um die von den YPG gehaltene, aber von protürkischen Milizen bedrohte Stadt Tall Rifaat (die in der Nähe des Kantons Afrin liegt) [173].

Da sie von der Gesamtheit der Abkommen ausgeschlossen sind, werden die HTS und ihre Verbündete das ganze Jahr lang von Offensiven profitieren, welche die AAS im Osten des Landes gegen den IS führt, um in der Region Idlib Angriffe gegen die loyalistischen Positionen in Aleppo und Hama zu lancieren.

Ein anderer Aspekt dieser Phase des Konflikts ist der Kampf im Osten zwischen Russland und den USA (repräsentiert durch die AAS einerseits, die YPG andererseits) um die Aneignung des vom IS kontrollierten Territoriums, v.a. ab seinem Zusammenbruch im Sommer 2017. Während Damaskus versucht, seine Autorität wiederzuerlangen, geht es für Washington darum, zu verhindern, dass das Regime die syrisch-irakische Grenze kontrolliert und eine Route eröffnet, die den schiitischen Halbmond Beirut-Damaskus-Bagdad-Teheran miteinander verbindet. Das Ziel der beiden Armeen ist somit die Erreichung und die Eroberung der Grenzstadt Abu Kamal [174]. Relativ gesehen hat man diese Situation mit dem Rennen um Berlin, Prag und Wien zwischen den Alliierten 1945 vergleichen können [175]. Doch damals hatten sich Russen, Amerikaner und Engländer über Besatzungs- und Einflusszonen verständigt; das ist vielleicht heute in Syrien nicht der Fall, doch ein Minimum an Verständigung wird notwendig sein, um zu verhindern, dass sich die unvermeidbaren Zusammenstösse während dem Aufeinandertreffen von AAS und YPG in einen offenen Konflikt verwandeln. Das Risiko ist umso grösser, als dass jedes Lager Hilfsmilizen benutzt, die für ihre Disziplinlosigkeit bekannt sind, und die Sprache der Bombenangriffe benutzt, um dem anderen Lager die roten Linien aufzuzeigen.

Die USA unternahmen einen ersten Versuch vom Süden herkommend im Juni 2017: Nachdem in Jordanien mehrere Rebellengruppen konstituiert und bewaffnet wurden, wurden sie losgeschickt, um aus Al-Tanf kommend Abu Kamal zu erobern; trotz der Unterstützung amerikanischer, britischer und norwegischer (!) Spezialkräfte wurden diese Gruppen durch den Fortschritt der AAS blockiert. In Anbetracht dieser Niederlage ändern die USA definitiv ihre Taktik und optieren für die Benutzung der YPG/DKS, um diese berühmte Stadt vom Norden herkommend, vom linken Ufer des Euphrats aus zu erreichen (wir werden die Frage der Rolle der kurdischen Kräfte im nächsten Kapitel ausführlicher diskutieren). Dieses Rennen um die Eroberung von Abu Kamal wird schliesslich im November vom syrischen Regime dank einer gemeinsamen Operation der AAS und aus dem Irak gekommenen schiitischen Milizen gewonnen. Die Eroberung dieser Stadt, die letzte, welche der IS hielt (sei es in Syrien oder im Irak), ist auch gleichbedeutend mit dem Scheitern des amerikanischen Projekts.

Rojava hat Übergewicht

Eine der grossen Gewinnerinnen des syrischen Konflikts ist freilich die PYD (der syrische Arm der PKK). Die Truppen dieser kurdischen Partei [176], die YPG, kontrollieren mittlerweile, Ende 2017, rund ein Viertel Syriens; einige ihrer Kämpfer halten heute mehr als 200 km von den kurdischen Siedlungsgebieten entfernt Wache. Entwickelt sich die „libertäre“ Erfahrung Rojavas im gleichen Rhythmus wie seine leichte Infanterie?

Dark Victory in Raqqa

Der extrem mediatisierte Fall der Kalifatshauptstadt hat den Homepages der Aktivisten allerdings nicht wirklich in den Kram gepasst. Wir sind weit entfernt von den lyrischen Lobgesängen im Herbst 2014 während der Schlacht von Kobanê und das hat einen Grund.

Das Wort Befreiung ist für einige sogar etwas übertrieben in Bezug auf Raqqa. Nach vier Jahren heftiger Kämpfe und schwerer Luftangriffe [177] ist die Stadt praktisch zerstört, vier Fünftel davon sind unbewohnbar und von den ursprünglich 300‘000 Einwohnern ist keiner mehr übrig [178]. Die Einwohner, genau wie jene der Ortschaften rund um die Stadt, welche vor den Kämpfen geflohen sind, sind nun auf den Strassen oder in Flüchtlingslagern. Nach langen Verhandlungen zwischen den YPG, der amerikanischen Armee und dem IS (via lokalen Notabeln und Stammesanführern) waren die einigen Tausend Überlebenden aus dem belagerten Stadtzentrum evakuiert worden, das gleiche gilt für die letzten Kämpfer und ihre Familien, welche in die Hochburgen des Kalifats zurückkehren konnten [179].

Doch man muss anerkennen, dass viele Einwohner auch vor der neuen sich abzeichnenden „Besatzung“ geflohen sind, jene der YPG, welche in dieser Region einen überaus schlechten Ruf haben und mit ethnischer Säuberung, Machtmissbrauch, Rassismus, obligatorischem Militärdienst (auch für Frauen), usw. assoziiert werden [180]. Dieser Ruf wird von gewissen Stämmen der Region gepflegt, sie sind entweder dem Regime von Damaskus treu geblieben oder haben dem IS die Treue geschworen – Stämme und Familien sind ob solchen Fragen häufig gespalten – und sie sind den Kurden immer noch zutiefst feindlich gesinnt – obwohl das grundlegende Problem eine Rivalität um den Kauf der fruchtbaren landwirtschaftlichen Nutzflächen der Region ist [181]. Die seriösesten Scheichs, welchen solche niederen Betrachtungen fernliegen, wissen, dass die Farbe der Uniformen nicht wirklich zählt, wichtig ist einzig, dass Ruhe und Sicherheit anhalten und wieder Geschäfte gemacht werden können.

Schaffen wir zwei, drei, viele Kantone

Aber nehmen wir den Faden wieder auf. Seit der Schlacht von Kobanê 2014, gleichbedeutend mit dem Ende des Fortschritts des IS, haben die YPG bedeutende, zuvor vom IS, islamistischen Gruppen oder der FSA kontrollierte Territorien an sich gerissen, weit mehr als ursprünglich geplant. Ihr Hauptziel war es, eine territoriale Kontinuität zwischen den drei kurdischen Siedlungsgebieten im Norden Syriens zu schaffen, den „Kantonen“ Cizîrê, Kobanê und Afrin; was die Eroberung von den sie trennenden, mehrheitlich von Arabern besiedelten Gebieten implizierte. Ein Plan, der von der Türkei durchkreuzt worden ist, sie kontrolliert seit August 2016 eines der Territorien mithilfe von islamistischen Gruppen. Es ist erwähnenswert, dass einige Gebiete, besonders östlich von Afrin, im Februar 2016 in Zusammenarbeit mit der AAS erobert worden sind.

Im Oktober 2015 werden unter der Schirmherrschaft der USA die Demokratischen Kräfte Syriens (DKS) geschaffen, eine militärische Koalition, welche die Rückeroberung von vom IS gehaltenen Regionen erleichtern soll, wo die Kurden in der Minderheit oder inexistent sind; zu diesem Zweck werden den YPG mehrere arabische bewaffnete Gruppen anvertraut. Der von da an bedeutende territoriale Fortschritt der DKS wäre ohne die Unterstützung der USA nicht möglich gewesen: logistische Hilfe, Waffenlieferungen, Ausbildung, Unterstützung durch Spezial- und Luftkräfte. Die Stationierung von Bodentruppen Seite an Seite mit den YPG bleibt trotzdem ziemlich bescheiden und diskret; obwohl mehrere amerikanische Stützpunkte in Rojava aufgebaut worden sind, sind es v.a. Operationsstützpunkte, nur zwei davon sind strategisch und haben Landepisten für Grossraumflugzeuge [182]. Die Anzahl der Kämpfer in den Spezialkräften der YPG-DKS ist allmählich gestiegen und hat sich bei 900 stabilisiert (dazu kommen die französischen und britischen Militärkräfte). Schwereres Geschütz hat das Dispositiv komplettiert: eine gepanzerte Rangereinheit, Anfang 2017 in der Gegend von Manbidsch stationiert (eine arabische Stadt, die von den YPG erobert worden ist), damit sie nicht mehr von den Türken bedroht werden kann; Marineeinheiten (Pionier- und Artillerietruppen im Rahmen der Offensive gegen Raqqa [183]). Im Mai 2017 erlaubte Trump auch die Lieferung von schwerem Geschütz an die YPG, z.B. etliche gepanzerte Fahrzeuge zum Transport von (Pionier-)Truppen (militärisches Material, das zuvor arabischen Einheiten der DKS vorbehalten war, um Ankara nicht zu provozieren [184]). Die YPG verfügen mittlerweile über ein breites Spektrum an amerikanischen, russischen und französischen Panzerabwehrflugkörpern, die theoretisch von diesen Waffenlieferungen ausgeschlossen sind.

Im Austausch zu dieser Unterstützung, welche ihr erlaubt, ihre eigenen Ziele zu erreichen, hat die PYD akzeptiert, die berühmten „Bodentruppen“ zur Verfügung zu stellen, welche den USA dermassen fehlten; sie waren dafür verantwortlich, Raqqa zu erobern und die Verkehrsachse Beirut-Damaskus-Bagdad-Teheran zu unterbrechen. Diese Operation war letztendlich gescheitert für die amerikanische Strategie, aber erlaubte es trotzdem den YPG-DKS, das ganze Nordufer des Euphrats zu erobern und als nicht vernachlässigbare Beute mehrere syrische Gas- und Ölfelder.

Das Damaskuserlebnis

Diese neue Situation kompliziert selbstverständlich die Beziehungen zwischen der PYD und der syrischen Regierung. Es sollte daran erinnert werden, dass die Partei nicht die Unabhängigkeit Kurdistans in Syrien fordert, sondern nur den Aufbau im Rahmen des bestehenden syrischen Staates einer föderalistischen Funktionsweise mit einer grossen Autonomie für die Regionen. Was auch immer die ausgehandelten Abkommen von 2011 sein mögen – und was auch immer man davon halten mag –, so war es doch für Rojava immer notwendig, gute Beziehungen zu Damaskus zu unterhalten, sei es nur aus wirtschaftlichen Gründen, zumindest durch Handelswege in der Luft oder, seit es wieder möglich ist, am Boden. Wenn z.B. das im Kanton Cizîrê extrahierte Erdöl zum Teil kleinindustriell raffiniert wird, so wird doch ein grosser Teil verkauft an die Regierung in Damaskus, die im Gegenzug der PYD Treibstoff verkauft. Diese Abkommen erlauben auch die Erschliessung des Kantons Afrin und, durch die loyalistischen Gebiete, eine Strassenverbindung mit den anderen Kantonen (auch für die militärischen Konvois der YPG).

Einige französische Kommentatoren und Aktivisten wollen lieber nicht darüber sprechen, sie versuchen stattdessen die Existenz einer Animosität zwischen Damaskus und Rojava aufzuzeigen, indem sie den Fokus auf die einige Tage andauernden Zusammenstösse zwischen den loyalistischen Kräften und den YPG in den von letzteren umzingelten Städten lenken (Spannungen, die schnell dank russischer Vermittlung abgebaut worden sind). Sie verschweigen die befriedete Koexistenz, welche die beiden Armeen seit Jahren verbindet (manchmal innerhalb einer gleichen Stadt) – und zudem ihre enge Zusammenarbeit während verschiedenen wichtigen Zeitpunkten, besonders die Rückeroberung der östlichen Quartiere Aleppos [185], welche das Misstrauen vieler „Rebellen“ gegenüber den YPG durchaus erklärt.

Trotzdem, und logischerweise, war das Zusammentreffen von AAS und DKS entlang des Euphrats und zu Ungunsten des IS im Herbst 2017 von mehreren Zusammenstössen geprägt, welche durch die Achtsamkeit der USA und Russland folgenlos geblieben sind.

„Und welche Zukunft?“

Im Verlauf des Jahres 2017 haben die USA eine Stärkung der arabischen Komponente der DKS unterstützt, indem arabische Rekruten in die YPG aufgenommen, doch auch indem diverse gegen Assad gerichtete Kräfte im Nordosten in die DKS eingegliedert worden sind: Einheiten, welche das Etikett FSA behalten, kleine islamistische Milizen (auch ehemalige Verbündete des syrischen Arms der Al-Qaida) und bewaffnete Gruppen gewisser Stämme. Die DKS zählen also im Herbst 2017 ungefähr 80‘000 Kämpfer, davon 60‘000 der YPG (wovon ein Drittel Frauen sind [186]). Man sieht, dass die kurdische Komponente, obwohl sie mechanisch an Bedeutung verliert, doch zentral bleibt.

Die Situation ist komplexer auf dem politischen Terrain, denn die militärischen Siege der YPG und die territoriale Ausdehnung Rojavas bringen auch gewisse Probleme. Obwohl die PYD in den drei ursprünglichen, mehrheitlich kurdischen Kantonen nämlich die politische Bühne beherrschen kann – indem sie sich auf einige kleinere Verbündete und eine Vielzahl unter ihrer Kontrolle stehende Vereine stützt und indem sie das Monopol zur Bewaffnung behält –, so sieht die Situation in den gemischten oder mehrheitlich von Arabern besiedelten Gebieten anders aus. Die PYD muss sich ihren neuen Verbündeten anpassen: Obwohl einige ans westliche Modell der Demokratie glauben, so sind doch andere Anhänger einer Funktionsweise und einer Ethik, die kaum libertär sind… Die in gewissen arabischen Städten, in entvölkerten Ruinen wie Tabqa und Raqqa eingeführten Institutionen mussten also Notabeln und Stammesanführern einen wichtigen Platz einräumen (manchmal waren sie einige Tage zuvor noch mit dem IS verbündet), doch haben auch den einen oder anderen enttäuscht [187].

Andere Komplikation: Obwohl Ende 2016 der Name Rojava („westliches Kurdistan“ auf kurdisch) aufgegeben und mit jenem der „Demokratischen Föderation Nordsyrien“ ersetzt worden ist, um die arabischen Minderheiten nicht zu provozieren [188], hat die territoriale Ausdehnung auch die demographische Zusammensetzung dieser Verwaltungseinheit modifiziert und die Kurden sind wahrscheinlich nicht mehr in der Mehrheit. Aufgrund der jüngsten Kämpfe, welche etliche Ortschaften entvölkert haben, ist es unmöglich, zu wissen, wie viele Einwohner heute auf diesem Territorium überleben, doch verständlich, wieso die Rückkehr der Flüchtlinge mittlerweile einen politischen Streitgegenstand darstellt [189]. Die Kämpfer der YPG sind also in einer zumindest ungemütlichen Situation [190]… Umso mehr, weil noch eine andere Frage hinzukommt, jene des obligatorischen Militärdienstes, neun bis zehn Monate für mindestens ein Mitglied jeder Familie. Diese Dienstpflicht gab es bereits in den kurdischen Kantonen, sie dehnt sich 2017 allmählich auf die anderen von den YPG kontrollierten Regionen aus: Die Armeeführung hat nämlich angekündigt, dass sie bis Ende Jahr die symbolische Zahl von 100‘000 Kämpfern erreicht haben möchte [191]. Die YPG gliedern also immer mehr junge Araber ein, viele davon haben an den Kämpfen in Raqqa teilgenommen – die Betreuung und die Offiziere bleiben natürlich kurdisch. Im November kam es zu Demonstrationen gegen die Wehrpflicht rund um die Städte Tabqa und Manbidsch, begleitet von einem Händlerstreik, Ereignisse, welche von den YPG als Manipulationen des türkischen respektive syrischen Geheimdienstes bezeichnet werden [192].

Die jüngere Geschichte hat uns gezeigt, dass eine Armee, welche die Demokratie in ein Territorium bringt, ohne formell eingeladen worden zu sein, für die Bevölkerung schnell zu einer Besatzungsarmee werden kann. Das könnte den YPG in den mehrheitlich arabischen Gebieten geschehen. Schon jetzt nutzt Ankara seinen Einfluss in der Region und unterstützt arabische Protestbewegungen gegen die kurdische Behörde, welche sich durchaus in einer nahen Zukunft in eine islamistische Guerilla und Attentate verwandeln könnten. Es ist also wahrscheinlich, dass sich die PYD allmählich in die kurdisch besiedelten Gebiete zurückziehen und gewisse Städte (sowie die wichtigsten Ölfelder) den Behörden von Damaskus oder einer unter amerikanischer Schirmherrschaft stehenden Interimsverwaltung zurückgeben muss.

Wie wird Rojava unter diesen Umständen in den nächsten Jahren aussehen? Man kann wohl beruhigt sein, denn die Lieferung von Waffen und Panzern war wahrscheinlich nur ein Teil des abgeschlossenen Geschäfts; Washington hat sich höchstwahrscheinlich engagiert, einen Föderalisierungsprozess Syriens und die Konstitution einer kurdischen Region zu unterstützen, somit eine militärische Präsenz in der Region aufrechtzuerhalten, mag sie auch nur symbolisch sein. Doch wie lange? Denn ohne Schutzpatron wäre Rojava in einer schwierigen Situation, eingeklemmt zwischen Damaskus und Ankara. Ausser es wird Ersatz gefunden [193]. Russland ist schliesslich auch da, unterstützt ebenfalls die föderale Vision der PYD, stellt den Kanton Afrin unter seinen Schutz (indem es Panzer seiner Militärpolizei dort stationiert) und übernimmt Vermittlungsdienste mit der Regierung in Damaskus. Doch es bleibt v.a. verbündet mit derselben. Der Schaffung eines föderalen Syriens und einer Region im Norden im Genuss einer grossen Autonomie ist womöglich auf gutem Weg – die Situation dürfte schliesslich ähnlich herauskommen wie im irakischen Kurdistan. Das dort herrschende politische Regime wird wahrscheinlich noch lange weit entfernt von westlichen Schemata sein, aber noch weiter entfernt von einer „libertären Utopie“.

„Und welche Gesellschaft“

In der westlichen linksradikalen Szene müssen sogar die letzten Bewunderer „der libertären Utopie“ Rojavas „den staatlichen Aspekt“ dieser „Erfahrung“, ihre „protostaatlichen Institutionen“, das Gewicht der PYD, die obligatorische Wehrpflicht, den Personenkult, den Respekt des Privateigentums usw. anerkennen [194]. Sie hegen trotzdem immer noch die Hoffnung, dass die Situation sich mit der Zeit positiv entwickeln kann. Während darauf gewartet wird, wird viel von Kommunen gesprochen, welche die PYD in den Dörfern und Quartieren aufbaut. Sie haben jedoch nicht viel mit Arbeiterräten zu tun, sie sind v.a. Quartierräte mit beschränkter Macht, konsultativ und der Rolle einer ersten juristischen Vermittlungsinstanz. Die restliche politische und administrative Funktionsweise, die scheinbar sehr bürokratisch sein soll, ist jedoch von den westlichen demokratischen Institutionen inspiriert – was tatsächlich in Syrien eine Neuheit darstellt.

Das Regime in Rojava proklamiert auch seinen „Willen, eine Organisationsform der Gesellschaft zu verteidigen, welche die Gleichheit zwischen Männern und Frauen und die sprachliche Diversität respektiert“ [195] und „eine brüderliche, demokratische, ökologische und emanzipatorische Gesellschaft für alle ohne Unterscheidung zwischen Geschlechterrollen, Ethnien oder Konfessionen“ [196]. Das ist schön und gut, genau wie die Einführung der Gleichheit zwischen Männern und Frauen in allen Bereichen. Doch ist es nicht ein bisschen übertrieben, diese Prinzipien als „revolutionär“ zu bezeichnen? Und, wenn präzisiert wird „für patriarchale Gesellschaften“ [197], muss man verstehen „für diese Leute dort“? Denn wir sehen nicht sehr gut, weshalb „Revolutionäre“ einen solchen Prozess unterstützen und beweihräuchern sollten, ausser man glaubt in einem umgekehrten orientalistischen Elan, dass das für sie sehr gut ist, oder, dass (vielleicht nach den jüngsten theoretischen Entdeckungen) der Aufbau einer parlamentarischen Demokratie nach westlichem Modell mittlerweile eine unausweichliche Etappe auf dem Weg zu einer künftigen sozialen Revolution darstellt.

Obwohl 2014 eine Verwirrung noch möglich war, ist es unverständlich wie einige 2017 in Rojava eine „revolutionäre“ und „libertäre“ Erfahrung, ja gar eine der „Selbstverwaltung“ wahrnehmen. Wir werden nicht weiter darüber sprechen. Das Wort „Revolution“ ist in der gängigen Sprache weitgehend abgenutzt worden und hat keinen präzisen politischen Sinn mehr. Es scheint, dass nun das gleiche in den linksradikalen oder anarchistischen Milieus geschieht, wo dieses Wort immer häufiger ein Synonym ist für eine Evolution in Richtung mehr Demokratie. Wenn wir neben den Schlachten auch noch die Worte verlieren, schrumpft die Utopie selbst.

Im Irak, zurück auf Feld eins?

Die im Oktober 2016 lancierte Schlacht zur Wiedereroberung der Stadt Mosul vom IS endete offiziell im Juli 2017, sie war verantwortlich für sehr schwere Verluste in den Reihen der irakischen Streitkräfte, Zehntausende von Toten, und wahrscheinlich gleich vielen unter den Zivilisten. Zwei Drittel der 1.5 Millionen Einwohner sind vor den Kämpfen und den Bombenangriffen geflohen. Von einem humanitären Standpunkt aus betrachtet steht diese Schlacht jener von Aleppo in nichts nach. Der Rest des Landes ist nach heftigen Kämpfen allmählich von einer – nach dem Debakel von 2014 – rekonstituierten irakischen Armee und einer Unmenge von Milizen zurückerobert worden. Die dynamischsten letzterer sind die Haschd al-Shaabi, die „Volksmobilmachungskräfte“: eine Koalition von Dutzenden mehrheitlich schiitischer Milizen (mit einigen sunnitischen oder christlichen Ausnahmen). Obwohl einige am Kampf gegen die amerikanische Invasion nach 2003 beteiligt waren, wurden die meisten im Sommer 2014 gebildet, nach einer vom grossen Ayatollah Ali al-Sistani lancierten Fatwa. Während die reguläre Armee mit Rekrutierungsschwierigkeiten konfrontiert ist, haben sich Tausende Freiwillige den Volksmobilmachungskräften angeschlossen, hauptsächlich junge Arbeitslose. Bestehend aus 100‘000 Mann waren sie an allen Kämpfen beteiligt, auch in den sunnitischen Gebieten und Ortschaften (ausser innerhalb von Mosul).

Obwohl sie grosse Unterstützung vom Iran geniessen, gibt es in den Volksmobilmachungskräften keine politische Einheit, höchstens einen starken irakischen Nationalismus, und sie sind in mehrere Fraktionen gespalten, deren Anführer in der Zukunft gewiss eine politische Rolle spielen werden [198]. Obwohl einige, wie der schiitische Anführer Moktada al-Sadr (der die Unterstützung der sunnitischen Bevölkerungen erlangen möchte [199]), dazu aufgerufen haben, ist es unwahrscheinlich, dass sie zerschlagen werden, sei es nur, weil sie seit drei Jahren eine Einkommensquelle für Zehntausende schiitischer Familien sind.

Viele dachten, dass das irakische Kurdistan siegreich aus jenem Konflikt hervorgehen würde, welcher es ihm erlaubt hatte, die Kontrolle über von der irakischen Armee 2014 verlassene oder vom IS zurückeroberte Gebiete zu übernehmen, besonders Kirkuk und seine Ölreserven. Dabei vergass man, dass diese Region zwischen zwei rivalisierenden Clans gespalten ist (der eine ist mit Ankara verbunden, der andere schaut nach Teheran) und Korruption und Vetternwirtschaft allgegenwärtig sind, die Konsequenzen einer auf der Ölrente basierenden Wirtschaft. Das Unabhängigkeitsreferendum im September 2017 war wahrscheinlich ein Mittel, um den Einsatz gegenüber Bagdads zu erhöhen, doch es war mit einer einhelligen internationalen Feindseligkeit konfrontiert: Sie war grünes Licht für die Volksmobilmachungskräfte, die nur einige Tage brauchten, um erneut die Kontrolle über die umkämpften Gebiete zu übernehmen – der Zerfall der aufgedunsenen Peschmergas war für Kurdistan gleichbedeutend mit dem Verlust von 50% seiner Öleinkommen und der Verlegung der Unabhängigkeit auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.

Ist der Irak zum Status quo ante 2013 zurückgekehrt – zur Herrschaft der arroganten Schiiten und der Marginalisierung der Sunniten –, jener, welcher vor der Geburt und des Erfolgs des IS vorgeherrscht hatte? Viel fehlt nicht. Ausser, dass die geschwächten Kurden dieses Ungleichgewicht nicht mehr werden ausgleichen können.

Abgesehen auch von der Tatsache, dass die schiitische Macht, zusätzlich zur amerikanischen Unterstützung, mittlerweile über eine starke Unterstützung Teherans und, in einem geringerem Ausmass, Moskaus verfügt.

Abgesehen auch von der Tatsache, dass das Land nie dermassen vom Krieg zerstört war (Hunderte Milliarden Dollar seien notwendig für seinen Wiederaufbau, eine Milliarde alleine für die Stadt Mosul).

Abgesehen auch von der Tatsache, dass das Land immer noch über viel Erdöl verfügt, das vor der Episode des Kalifats zu 60% nach Asien, zu 20% nach Amerika und zu 20% nach Europa exportiert worden war.

Abgesehen auch von der Tatsache, dass jetzt schon sunnitische islamistische Gruppen angekündigt haben, dass sie einen Guerillakrieg gegen die amerikanischen Truppen und die Armee Bagdads führen werden.

Der Wiederaufbau Syriens

Ein grosser Teil Syriens ist eine einzige Ruine und seine Wirtschaft, die sich in einem desaströsen Zustand befindet, habe einen Sprung 30 Jahre nach hinten gemacht, mit einem um 55% geschrumpften BIP zwischen 2010 und 2015 und einem industriellen Sektor, der wegen Zerstörungen und Diebstählen um 50% geschrumpft ist [200]. Der Wiederaufbau des Landes würde Hunderte Milliarden Dollar kosten. Zerstört oder beschädigt, alles muss wiederaufgebaut werden – zwei Millionen Wohnungen, Tausende Schulen, Dutzende Spitäler, Strassen, Wasser- und Stromversorgung usw.

Doch nur weil ein Land oder eine Region eine einzige Ruine ist, bedeutet das nicht, dass es oder sie wiederaufgebaut werden muss. Und von wem? Weshalb? Die syrische Regierung wird es nicht aus Grosszügigkeit tun, sie braucht den Wiederaufbau, um ihre Macht und einen Anschein von sozialem Frieden wiederzuerlangen, und jene Regionen, welche sich ihr gegenüber am feindlichsten gezeigt haben, werden nicht in den Genuss einer prioritären Aufmerksamkeit kommen. Die äusseren Kriegsteilnehmer sind auch nicht viel philanthropischer, man sieht es gut in Raqqa: Die westliche Luftwaffe hat die Stadt in Schutt und Asche gelegt und die YPG haben sie erobert; aber wer wird bezahlen, sei es nur, um die Wasser- und Stromversorgung wiederaufzubauen? (Das ist umso weniger klar, als dass man nicht weiss, wer die Stadt in einem Jahr kontrollieren wird.)

Die Idee eines weitreichenden Wiederaufbaus wird für die syrische Regierung erst mit der russischen Intervention im September 2015 wirklich glaubwürdig. Denn man versteht allerseits, dass diese Macht, mit oder ohne Assad, nicht verschwinden wird; die Eroberung der Ostquartiere Aleppos im Dezember 2016 hat es den Skeptikern bestätigt. Für jene, welche dem Regime nahestehen und sich dank der Kriegswirtschaft bereichert haben, geht es darum, die Rückkehr zum Frieden vorzubereiten, d.h. erneut gewöhnliche Geschäfte zu machen – einige sehen in diesem Ruinenfeld die Gelegenheit, die vor 2011 lancierten liberalen Reformen weiterzuführen. In dieser Perspektive hat der syrische Staat gesetzliche Anpassungen vorgenommen, welche die öffentlich-private Partnerschaft und die Privatisierungen begünstigen [201]. Es geht auch darum, die syrischen Chefs, welche ihre Tätigkeiten zu Beginn des Konflikts in andere Länder der Region verlegt haben, zur Rückkehr zu bewegen, besonders die Textilindustriellen, welche gegenwärtig ägyptische Arbeitskraft ausbeuten [202].

Das frappierendste Anzeichen dieses sich abzeichnenden Wiederaufbaus, welcher nur die Verlängerung der Vorkriegszeit mit anderen Mitteln ist, ist jenes der Stadtplanung: Man sieht spektakuläre Projekte aufblühen, welche manchmal nur aufgewärmte Varianten von schon vor dem Konflikt bestehenden Plänen sind, sie hatten damals bereits zur Unzufriedenheit der Bevölkerung beigetragen, wie z.B. der Traum des Bürgermeisters von Homs, seine Stadt in ein Las Vegas des Orients zu verwandeln. Es geht einerseits darum, die beschädigten Stadtzentren zu renovieren, andererseits, wie es am häufigsten der Fall ist, die weitläufigen „informellen Quartiere“ der Peripherien zu restrukturieren, wo das aus dem Umland gekommene Proletariat logierte und die Revolte 2011 begonnen hat. Viele dieser Quartiere wahren die Bühne heftiger Kämpfe und sind mittlerweile zu Ruinenfeldern reduziert worden… Ideal, um Tabula rasa zu machen und schöne Gebäude hinzustellen, wo die dem Regime treu gebliebenen Mittelklassen und die ihm treu gebliebene Bourgeoisie logiert werden können [203]. Der Krieg erleichtert die Gentrifizierung.

Es stellt sich jedoch die Frage der Finanzierung. Weder der syrische Staat – dessen Kassen leer sind und dessen Verschuldung stark gestiegen ist (v.a. gegenüber dem Iran und Russland) – noch die privaten lokalen Akteure werden sie komplett tragen können. Daher sucht man im Rahmen von liberalen Reformen ausländische Investitionen. Die Fortdauer einer gewissen Unsicherheit, einer Vetternwirtschaft, der Mauscheleien und der Korruption bremst das ganze natürlich weiterhin – es werden also viele Projekte gemacht –, doch all das hindert die syrische Regierung nicht daran, sich noch stärker anzustrengen.

Abkommen und professionelle internationale Foren, welche dem Wiederaufbau gewidmet sind, folgen aufeinander, sowohl in Damaskus als auch im Ausland (Beirut, Amman und Peking 2017), Gelegenheiten, um potentielle Partner oder Investoren zu treffen, welche aus Russland oder dem Iran gekommen sind, aber auch aus Jordanien, Weissrussland, Südafrika, Indien, Malaysia und sogar aus den Golfstaaten und aus dem Irak [204]. Brasilien ist dabei, die diplomatischen Beziehungen mit Damaskus wiederaufzunehmen, um Marktanteile zu erhalten. Der Libanon ist ganz vorne dabei: Die Chefs im Baugewerbe hoffen, dass sie von ihrer Erfahrung profitieren können [205], und das Land träumt davon, das Eingangsportal für die Baustellen Syriens via Sonderwirtschaftszone von Tripoli zu sein – sie ist dabei, gebaut zu werden, es sind eine Vergrösserung des Hafens, der Bau von Autobahnen und die Reaktivierung des (während dem libanesischen Bürgerkrieges zerstörten) Eisenbahnnetzes vorgesehen. Die von den Wirtschaftssanktionen der EU eingeschränkten Europäer sind von diesen Diskussionen praktisch abwesend. Baschar al-Assad hat übrigens, wenig überraschend, im August erklärt, dass jene Länder, welche die „Terroristen“ unterstützt hatten (sprich die westlichen Länder und die Golfstaaten, welche bewaffnete islamistische Gruppen finanziert haben), von der Kuchenteilung des Wiederaufbaus ausgeschlossen sein werden. Den Riesen des französischen Bausektors werden im besten Fall einige unbesetzte Nischen in die Hände fallen, z.B. der von der UNESCO finanzierte Wiederaufbau des historischen Kulturerbes [206]. Damaskus privilegiert die Schwellenländer (die sich neutral gezeigt haben), China und, allen voran, Russland und den Iran. Für diese drei letzteren Länder repräsentiert Syrien, neben den möglichen Markterschliessungen, ein strategisches Gebiet zwischen Asien und Europa, insbesondere für den Transport von Treibstoffen.

Im April 2016 hat Russland mit Syrien einen ersten, ungefähr eine Milliarde Dollar schweren Vertrag zum Wiederaufbau der Stromversorgung, der Infrastrukturen, des Handels, der Finanz und anderen wirtschaftlichen Sektoren unterzeichnet. Die russischen Unternehmen haben schon Stellungen im Treibstoffsektor eingenommen (eine der geringsten Produktionen der Region) und haben ab September 2015 damit begonnen, die küstennahen Gas- und Ölreserven des Landes zu erkunden.

Das wirtschaftliche Gewicht des Irans in Syrien wird zunehmend grösser, insbesondere seit dem Verlust der Ölfelder im Osten des Landes 2013, der Damaskus dazu gezwungen hat, Treibstoffe aus Teheran zu beziehen. Die Unterzeichnungen von Kreditabkommen zwischen den beiden Ländern werden immer häufiger (besonders für den Import des iranischen Öls), oft gegen für den Iran sehr günstige Investitionsverträge im Minensektor (Phosphat), dem Bauwesen, dem Telekommunikationssektor und für den Verkauf von Agrarland [207]. Es ist erwähnenswert, dass iranische Privatpersonen (v.a. aus dem Militär) von der Krise profitieren, um Land und Zweitresidenzen in Damaskus zu erwerben [208].

Peking hat die Regierung Syriens immer diskret unterstützt, ein Land, wo China schon vor dem Krieg begonnen hatte, zu investieren, besonders im Treibstoffsektor. Die chinesischen Unternehmen haben ihre Arbeit im Land nie unterbrochen (2013 rüsteten sie die vom Regime gehaltenen Territorien mit Glasfaserkabeln aus). Obwohl Damaskus China aufgrund seiner Finanzierungskapazitäten und der Effizienz seiner Unternehmen fleissig den Hof macht, bleibt China vorsichtig [209] (besonders aufgrund der Wirtschafts- und Banksanktionen). Ein anderer Hemmschuh ist die Schwäche der natürlichen syrischen Ressourcen, welche, mit Ausnahme des Erdöls im (von den YPG gehaltenen) Nordosten, schon in den Händen der Russen und der Iraner sind und die Peking in der Regel im Gegenzug für seine Investitionen erhält. Man spricht allerdings von Projekten im Solarsektor. Langfristig ist Syrien ein zentrales Element im chinesischen Projekt des Aufbaus von „Seidenstrassen“ (Strassen-, Eisenbahn- und Energietransportverbindungen), welche den Fernen Osten mit Europa verbinden sollen. Ein erstes, zwei Milliarden Dollar schweres Investitionsprojekt zum Aufbau eines Industrieparks, wo sich anfänglich 150 chinesische Unternehmen ansiedeln werden [210] und eines Tages 40‘000 Syrer arbeiten sollen, ist jedoch schon im Juli 2017 angekündigt worden.

Morgen

Arbeiter und Proletarier scheinen in diesem Text weitgehend abwesend zu sein. Doch, wie wir bereits zuvor geschrieben haben: „Wir sprechen eigentlich von Anfang an von ihnen, aber in Form von Kanonenfutter.“ Hunderttausende Kämpfer in ganz Syrien, die sich gegenseitig umbringen. Eine nur zu aktive Minderheit, welche den Krieg macht inmitten einer Mehrheit, welche ihn erdulden muss.

Von den 22 Millionen Einwohnern, welche Syrien 2011 zählte, sind sechs Millionen ins Ausland geflohen und sieben Millionen sind Binnenflüchtlinge (was im Falle Frankreichs 18 bis 21 Millionen Einwohner entsprechen würde). Seit Jahresanfang beobachtet man zum ersten Mal, dass Flüchtlinge nach Hause zurückkehren, fast 600‘000 im August (zu 80% Binnenflüchtlinge [211]). Diese Rückkehr wird möglich, insofern Damaskus seine Macht in den bisher von islamistischen Gruppen oder dem IS gehaltenen Gebieten zurückerlangt. Das Regime ist freilich immer noch eine Diktatur, doch sie bombardiert keine Gebiete, welche sie kontrolliert, was in der aktuellen Phase des Konflikts und für die dort lebenden Bevölkerungen ganz bestimmt ein Vorteil ist. Obwohl es nicht besonders wahrscheinlich ist, dass die nach Europa oder Nordamerika gegangenen Flüchtlinge zurückkehren, insbesondere die Angehörigen von Minderheiten (die Christen), so wird das hingegen ziemlich wahrscheinlich für die ärmsten der Fall sein, jene, welche unter sehr prekären Bedingungen in der Türkei, im Libanon oder Jordanien leben. Doch, obwohl die militärische Absicherung und die Deeskalation Fortschritte machen, bleiben der katastrophale Zustand der Wirtschaft des Landes und das Ausmass der Zerstörungen Argumente gegen eine Rückkehr. Die Arbeitslosenquote erreichte 2016 60% und jene der Jugendarbeitslosigkeit 2015 78% [212] – daher das Interesse für den Soldatenberuf. 83% der Bevölkerung lebt mittlerweile unter der Armutsgrenze, 2010 war es ein Drittel. Man kann verstehen, dass sich der Klassenkampf an einem toten Punkt befindet.

Wir sprachen am Anfang von einem vom Bombenhagel und den Ruinen gefügig gemachtes Proletariat. Doch es kommt die Tatsache hinzu, dass es durch den Bürgerkrieg gespalten und in Konfessionen und Gemeinschaften eingepfercht worden ist. Ein Zustand, der wahrscheinlich fortdauern wird, auch falls ein breiter Prozess des Wiederaufbaus beginnen sollte, denn Syrien verfügt weder über genügend wirtschaftliche und industrielle Kapazitäten, noch über ausreichende äussere finanzielle Unterstützung, um dreissig glorreiche Jahre zu lancieren, die Vollbeschäftigung und hypothetisch die Affirmation eines sich in einer Machtstellung befindenden Proletariats zu erreichen...

Die Auswanderung von sechs Millionen Syrern und der Tod von etwa 500‘000 löst jene Probleme nicht, mit welchen der Staat schon vor dem Krieg konfrontiert war (zu grosser Bevölkerungswachstum, hohe Jugendarbeitslosigkeit) und welche bezüglich der Auslösung der Revolte eine Rolle gespielt haben. Denn das Land ist eine einzige Ruine und die Reservearmee der Arbeiter schon ziemlich gross. Was wird langfristig damit geschehen? Obwohl das Kapital manchmal merkwürdige Überraschungen für die Arbeiter bereithält, hat es Syrien noch nicht nötig, eine eingewanderte Arbeitskraft einzustellen – ausser im Falle der qualifizierten Arbeiter, welche in grosser Anzahl nach Europa ausgewandert sind (z.B. jene des Gesundheits- und Pflegesektors), umso mehr, weil die Berufsausbildung in Syrien seit sechs Jahren eingeschränkt oder unterbrochen ist; das gleiche gilt für sehr qualifizierte Anstellungen wie jene der Ingenieure. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist das 2011 knifflige Problem der Jugendarbeitslosigkeit von Hochschulabgängern gelöst. Doch ohne Wiederaufbau und massive ausländische Investitionen ist das Land dazu verurteilt, ein Auswanderungsland zu bleiben.

All das dafür? Als ob die verblüffende und unvertretbare Episode des Kalifats und Jahre des Bürgerkriegs in Syrien nicht den geringsten Nutzen gehabt hätten, ausser jenen, gewisse Einflussgebiete zu modifizieren, die Karten neu zu mischen und künftige Konflikte vorzubereiten. Das übliche grosse Spiel.

Welche Lehre können wir aus dieser Katastrophe ziehen, die wir nicht schon gezogen haben? Der Krieg ist eine Katastrophe, allen voran für die ihn erduldenden und kämpfenden Proletarier, der Bürgerkrieg fügt dem seine Grausamkeiten hinzu [213]. War es notwendig, das zu präzisieren? Dass der Umgang mit Waffen als getrennte Tätigkeit jeglichen Ausdruck des Klassenkampfes erstickt? Doch dass es die Proletarier nicht daran hindert, besonders aktiv zu sein? Jene Fahnen, welche bis anhin am meisten Leute mobilisieren, sind leider nicht besonders emanzipatorisch. Dass die konfessionellen, ethnischen und nationalen Fragen im Zentrum des Diskurses stehen (sei es auf ausschliessende oder einschliessende Art und Weise), auf Kosten der wirklichen Probleme und v.a. der Interessen der Bevölkerungen?

Was soll noch gesagt werden, ohne sich zu wiederholen oder als zu negativ zu erscheinen [214]? In diesem Chaos, und besonders im syrischen Bürgerkrieg, gibt es eine Sache zu sehen und sie sticht einem die Augen aus, dermassen ist sie omnipräsent: Es ist eben genau alles, was die Revolution nicht ist; sei es hinsichtlich der Selbstorganisation, der Organisation des Überlebens, der militärischen Aktivität, der Alternativen, der protostaatlichen Utopien usw. Es kann dort kein Modell gefunden werden und übrigens auch kein Gegenmodell. Die Revolution wird gewiss kein Galadiner sein [215], alles andere als das, doch sie wird nicht diesen schändlichen Bürgerkriegen ähneln, wovon der zeitgenössische Kapitalismus das Geheimnis kennt; zumindest ein positiver Punkt.

Tristan Leoni, Dezember 2017

Quelle

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net

Zusätzliche Anmerkung zur Frage der Quellen

Es ist uns mehrmals vorgeworfen worden, Quellen zu benutzen, die nicht benutzt werden sollten, z.B. den Figaro; Bemerkungen, die implizieren, dass – z.B. – Libération eine zuverlässigere Informationsquelle wäre, da „links“. Ja, wir gestehen es, wir lesen Zeitungen und konsultieren Homepages, mit welchen wir politisch nicht einverstanden sind. Zum Glück. Es wäre schwierig, solche Artikel, Artikel überhaupt zu schreiben oder sogar nachzudenken, indem man nur die Aktivistenpresse liest (welche übrigens?). Wir wissen auch, dass eine Information, die man auf einer von Russland, dem Iran oder Katar beeinflussten Homepage gefunden hat, in unseren Gefilden praktisch keinen Wert hat (man muss versuchen, sie anderswo zu finden oder sie vergessen), während eine andere, die man in der Monde gefunden hat, als achtbar erscheinen wird.

Die Offenlegung unserer Quellen, damit alle sie konsultieren, sich eine Meinung bilden können, eventuell eine andere als unsere, scheint uns wichtig: Wir tun das wahrscheinlich zu häufig, aber nicht genug für einige (man kann immer den Autor kontaktieren, um mehr darüber zu erfahren). Man kann davon ausgehen, dass jene, welche glauben, dass man, wenn man sich auf einen Artikel in Les Échos bezieht, dem MEDEF die Treue schwört, ziemlich wenig lesen. Wir möchten sie allerdings darauf hinweisen, dass wir schon Informationen aus folgenden Quellen zitiert haben: Atlantico, Le Figaro, Le Monde, Le Crieur, L’Express, Le Commerce du Levant, CQFD, Le Point, RTL, RFI, L’Orient le Jour, Échanges, Orient XXI, Le Temps, Le Nouvel Observateur, Les Échos, Raids, Afrique-Asie, Sciences humaines, Libération, Marianne, Vice News, France 24, Financial Times, Politique étrangère, RMC, France culture, Diplomatie, Le Monde diplomatique, TV5 Monde usw. Diese Liste sollte mit Dar al-Islam komplettiert werden, der französischsprachigen Zeitschrift des IS.

Böse Zungen können also leicht eine Quelle finden, die ihnen nicht gefällt und ihnen bestätigt, was sie vom Artikel halten, bevor sie ihn gelesen haben – wenn man einen Text von einer einzigen Seite her angreift, zeigt das, dass man grundsätzlich nichts zu sagen hat. Doch es stimmt, dass die Worte heutzutage keinen Sinn mehr haben und dass es, auf eine fast esoterische Art und Weise, darum geht, Texte zu dekonstruieren, um den versteckten Sinn zu entdecken und v.a. die (manchmal unbewussten) Absichten des Autors. Vor einer nicht allzu langer Zeit sagte man noch, dass es reicht, um einen Text zu verstehen, ihn zu lesen – sein Autor hatte sogar mit mehr oder weniger Glück versucht, dafür die richtigen Worte zu finden…


[1Arabische Abkürzung für den alten Namen des IS, den er von April 2013 bis Juni 2014 benutzt hat, „der Islamische Staat im Irak und der Levante“ (der seinerseits auf „Islamischer Staat im Irak“ folgte).

[2Das Projekt der PYD beschränkt sich auf den syrischen Teil Kurdistans (Rojava). Der IS will sich hingegen in einer ersten Phase von Indien bis nach Spanien ausbreiten. Über die PYD, siehe unseren im Januar 2015 auf DDT21 erschienenen Artikel „Rojava: Realität und Rhetorik“.

[3Zu dieser Frage, siehe Myriam Benraad, Irak, la revanche de l’histoire, Paris, Vendémiaire, 2015.

[4Ab 2006 hatte Bagdad in den al-Sahwa-Komitees (das Erwachen) sunnitische Milizen angestellt, um gegen Al Qaida zu kämpfen. Der Premierminister Nouri al-Maliki beendet die Operation 2009, womit er 85’000 Mitglieder der Milizen entlässt.

[5Pierre-Jean Luizard, Le Piège Daech, La Découverte, 2015, S. 17.

[6Siehe die Interviews mit Philippe-Joseph Salazar, die seit November 2015 auf Youtube verfügbar sind.

[7Interview mit Bernard Badie, Afrique Asie, Oktober 2015, S. 33.

[8Dar al-Islam, Nr. 3, März-April 2015, S. 14 (Dar al-Islam ist die französischsprachige Zeitschrift des IS).

[9Rojava stellt die einzige Ausnahme dar. Die Chancen, dort willkürlich eingesperrt, hingerichtet, gefoltert zu werden oder zu „verschwinden“, sind weit geringer als überall sonst in der Region. Sogar Human Rights Watch räumt das ein.

[10Im Sinne von George Mosse, jenem Historiker, der das Konzept der „Brutalisierung“ ausgearbeitet und es auf die Gesellschaften nach dem Ersten Weltkrieg angewendet hat, er sieht darin die „Gebärmutter der Totalitarismen“.

[11Pierre-Jean Luizard, op. cit., S. 15-16.

[12Die Armee von Bagdad, die von organisierter Abwesenheit und starker Korruption geprägt ist, war von einer seltenen Ineffizienz, die Sicherheit in der Stadt auch nur annähernd zu garantieren.

[13Pierre-Jean Luizard, op. cit., S. 29.

[14Diese Bilder kommen nicht über die gleichen Kanäle wie z.B. die zahlreichen und im Internet sehr populären, die Jihadisten zeigen, die mit kleinen Katzen spielen.

[15Eine Behandlung, die durch ihre Praktiken und ihren religiösen Rahmen an jene der Okzitanen während den Kreuzzügen der Albigenser im 13. Jahrhundert erinnert.

[16Die dhimmitude, die streng und zwingend ist, beinhaltet allen voran die Zahlung einer Sondersteuer, die Djizya. In Raqqa haben sich einige Dutzend Christen für diesen Status entschieden, während in Mosul die Bischöfe das Exil vorgezogen haben.

[17Abdel Bari Atwan, Islamic State: The Digital Caliphate, London, Saqi Books, 2015; Claude Moniquet, Djihad : D’Al-Qaida à l’État Islamique, combattre et comprendre, La Boîte à pandore, 2015, S. 182.

[18Es ist problematisch, diese Machenschaften als „barbarisch“ zu bezeichnen, dafür erinnern sie zu stark an die glorreichsten Stunden der griechischen Antike.

[19Aufgrund ihrer Gefährlichkeit wird die Zigarette mit dem im Islam verbotenen Selbstmord in Verbindung gebracht.

[21Alain Rodier, "Irak/Syrie: Daesh, comment ça marche ?", 7. Juni 2015.

[22Gemäss einem Mitglied der Oppositionsgruppe Raqqa Is Being Slaughtered Silently, zitiert von Layal Abou Rahal, "Raqqa, la ville modèle du califat de l’EI", L’Orient le Jour, 21. Juni 2015.

[23Hala Kodmani, "A Palmyre, l’État islamique a cherché à gagner la confiance", Libération, 1. Juni 2015.

[24Das berühmte Captagon, eine Art Amphetamin und weder ein Psychotropikum, noch ein Halluzinogen, wird nicht als haram beurteilt. Die Soldaten des IS benutzen es, denn es stärkt die psychische Lebendigkeit und den Widerstand gegen die Müdigkeit. Französische Jihadisten, die seinem Suchtpotenzial erlegen sind, sind vom IS ins Gefängnis gesteckt worden.

[26Zuvor organisierten die lokalen klientelistischen Netzwerke die künstliche Knappheit von Grundnahrungsmitteln, um eine Preiserhöhung auszulösen.

[27Bagdad und Damaskus zahlen manchmal weiterhin Löhne an die Funktionäre in Gebieten, die sie nicht mehr kontrollieren; das gilt auch für Rojava.

[28Hala Kodmani, "A Palmyre, l’État islamique a cherché à gagner la confiance", Libération, 1. Juni 2015.

[29www.france24.com, Oktober 2014.

[31Yochii Dreazen, "Daech, administrateur colonial", Foreign Policy, 20. August 2014 (Courrier international, Sondernummer, Oktober-Dezember 2015).

[32Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, L’État islamique. Anatomie du nouveau Califat, Paris, Bernard Giovanangeli Editeur, 2015, S. 98. AdÜ: Eine deutsche Übersetzung der Erstausgabe von 2014 ist auf Deutsch in Berlin 2015 beim Vergangenheitsverlag unter dem Titel Der Islamische Staat. Anatomie des neuen Kalifats erschienen, doch mehrere erwähnte Stellen der zweiten französischen Auflage fehlen, deshalb hier nur der Verweis auf die französische Ausgabe.

[331’000 Dollar gemäss Samuel Laurent, L’État islamique, Seuil, 2014, S. 100.

[34Wir denken hier an das Buch von Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Fischer, Frankfurt a.M., 2005.

[35Die Informationen über einen Mangel an Nahrungsmitteln und einer katastrophalen sozialen Situation vor dem Sommer 2015 sind selten. Siehe z.B. über Raqqa im November 2014: Marie Le Douaran, "A Raqqa, Daech vit grand train mais fait mourir la ville à petit feu", 27. Februar 2015.

[36Myriam Benraad, "Défaire Daech : une guerre tant financière que militaire" in Politique étrangère, Bd. 80, Nr. 2, Sommer 2015.

[37Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, op. cit., S. 118.

[38Marine Rabreau, "Pétrole, taxes, trafics d’humains : comment Daech se finance", Le Figaro, 19. November 2015.

[39Henri Mamarbachi , "Comment fonctionne l’économie de guerre en Syrie", https://orientxxi.info, 8. Oktober 2015.

[40Yochii Dreazen, "Daech, administrateur colonial", op. cit.

[41Jean-Charles Brisard and Damien Martinez, "Islamic State : The Economy-Based Terrorist Funding", Thomson Reuters, Oktober 2014.

[43"Le coton syrien continue d’habiller les Français", Le Monde, 23. September 2015 und Caroline Piquet, "Peut-on retrouver du coton «made in Daech» dans nos vêtements ?", Le Figaro, 3. September 2015.

[44Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, op. cit., S. 118.

[45Im Jahr 2014 produziert Italien 121’000 Fässer täglich und Kuwait 2.8 Millionen.

[46Marine Rabreau, "Comment Daech organise son lucratif marché pétrolier", Le Figaro, 26. November 2015.

[47Elisabeth Studer, "Daesh financé par la manne pétrolière", www.leblogfinance.com, 19. Oktobrer 2015.

[48Financial Times, 16. Oktober 2015.

[49"Les ennemis de Daesh achètent son pétrole", RMC, 26. September 2014.

[50Jacques Hubert-Rodier, "Les affaires mafieuses d’Assad avec Daech" in Les Echos, 19. Oktober 2015.

[52Hinter unseren Bildschirmen würden wir es vorziehen, dass sie den Kommunismus bevorzugen oder versuchen, ihn aufzubauen.

[53Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, L’État islamique. Anatomie du nouveau Califat, Paris, Bernard Giovanangeli Editeur, 2015, S. 100.

[54Wir denken nicht, dass der IS durch geheime, ans Licht zu bringende Verschwörungen erklärt werden kann, um die Krise zu lösen. Zwischen 2006 und 2015 haben ihn mehrere Länder sukzessiv auf sehr verschiedene und häufig indirekte Art und Weise unterstützt: Millionen von Dollars, Toleranz von diversen Schmuggeltätigkeiten, Konzentration der Repression gegen andere Gruppen usw. Die Unterstützung der Feinde seiner Feinde und die Erzeugung von Spaltungen sind klassische Techniken (die Unterstützung der Hamas durch Israel in ihren Anfangszeiten reicht nicht, um den Erfolg dieser Partei zu erklären). Doch die am Anfang bescheidene, manchmal nützliche Guerillabewegung ist zu einem autonomen Proto-Staat mit masslosen Ambitionen geworden.

[55Man lese noch einmal das Zitat von Maxime Rodinson am Anfang des ersten Teils.

[56Die präsenten Kräfte scheinen darum zu kämpfen, die wesentlichen Installationen (Erdölquellen, Raffinerien, Damm von Mosul) intakt zu kontrollieren. Die Abendländer weigern sich bis anhin, die Erdölquellen des IS zu bombardieren und haben bis im Herbst 2015 gewartet, bevor sie die zivilen Tanklastwagen angegriffen haben.

[57Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, op. cit., S. 101.

[58Pierre-Jean Luizard, op. cit., S. 26.

[59Im Gegensatz zu den kurdischen Organisationen, die verkünden, dass sie die internationalen Grenzen anerkennen und sich besonders darum bemüht haben, jene zu materialisieren, welche das syrische vom irakischen Kurdistan trennt.

[60Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, op. cit., S. 178.

[61In diesen Ländern hat sich die Armee, im Gegensatz zu Tunesien oder Ägypten und aus verschiedenen Gründen, dazu entschieden, den sich im Amt befindenden Diktator (Baschar al-Assad und Nuri al-Maliki) nicht fallen zu lassen.

[62Wir sprechen hier nicht von der Selbstverteidigung, welche Demonstranten oder Dorfbewohner in die Tat umgesetzt haben.

[63Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, op. cit., S. 25-26.

[65Frantz Glasman, „Deïr ez-Zor, à l’est de la Syrie. Des islamistes, des tribus et du pétrole…“, 8. Dezember 2013, http://syrie.blog.lemonde.fr.

[66Pierre-Jean Luizard, op. cit., S. 35. Das Experiment von Rojava hat einen anderen Rahmen. Nach einem Abkommen haben die Truppen der PKK die Truppen von Damaskus ersetzt, letztere haben sich teilweise aus diesem Gebiet zurückgezogen. Jegliches institutionelle Vakuum ist somit verhindert worden und der aufständische Prozess vorbei gewesen. Die PKK hat danach ihr „libertäres“ kommunalistisches Programm umgesetzt.
Der Arabische Frühling wurde von dem, was damals noch nur der Islamische Staat im Irak war, im Gegensatz zum Pragmatismus von Al Qaida und Al Nusra, die darin eine Entwicklung sahen, die langfristig zu ihrem Vorteil sein würde, als anti-islamistisch verurteilt. Abdel Bari Atwan, Islamic State. The Digital Caliphate, Saqi, 2015, S. 69-71.

[67Zu diesem Teil, siehe besonders Philippe-Joseph Salazar, Paroles armées, Paris, Lemieux Editeur, 2015.

[68Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, op. cit., S. 6.

[69Jean-Pierre Filiu, L’Apocalypse dans l’islam, Fayard, 2008, S. 289.

[70Man muss allerdings anmerken, dass er bis anhin, obwohl er über eine Rolex verfügt, kein iPhone hat, nicht in einem Palast lebt, sondern sich vor Drohnen versteckt, keine Limousine fährt, sondern einen Toyota Pickup.

[71Jean-Pierre Filiu, op.cit., S. 288.

[72Gemäss dem Koran und den Hadithe werden die entscheidenden Schlachten der Endzeit zwischen den Muslimen und den römischen Armeen (die Byzantiner oder die NATO, je nach Interpretation), Satan und Konsorten im Sham (Syrien) stattfinden.

[73Philippe-Joseph Salazar, op. cit., S. 216.

[74Andere bewaffnete islamistische Gruppen, besonders die Nusrafront, empfangen ausländische Freiwillige, aber in geringerer Zahl.

[75Die „Entradikalisierung“, von der man viel spricht und die bis anhin nur auf Freiwillige angewendet wird, entstammt experimentellen europäischen Programmen, die zum Ziel haben, die Neonazis zu „behandeln“. Für die gegenwärtigen Spezialisten kann das Problem der „Radikalisierung“, ein Prozess, der mit einer gewalttätigen Handlung endet, sowohl extrem rechte als auch extrem linke Aktivisten, Islamisten als auch Tierschützer betreffen. Farhad Khosrokhavar, Radicalisation, Éditions de la Maison des sciences de l’homme, 2014.

[76Gemäss einer Studie über die Propagandavideos des IS bezogen sich 52% der Bilder auf die „utopische Welt“ des Kalifats, 37% auf den Krieg und 2% inszenierten grausame Gewalt. Siehe David Thomson, Le Secret des sources, France Culture, 12. Dezember 2015.

[77David Thomson, Les Français jihadistes, Les Arènes, 2014.

[78Farhad Khosrokhavar, „Qui sont les jihadistes français ?“, 20. November 2015 http://www.scienceshumaines.com.

[79Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, op. cit., S. 150. In Anbetracht der präsenten Kräfte kann man daraus den Schluss ziehen, dass in den Reihen des IS mindestens gleich viele Kurden waren wie in jenen der YPG.

[80Philippe-Joseph Salazar, op. cit., S. 212, 222.

[81Laurent Bonelli, „Brigadistes, djihadistes“, Le Monde Diplomatique, August 2015.

[82Géraldine Casutt, „Pourquoi les jeunes filles rejoignent les rangs de l’État islamique“, madame.lefigaro.fr, 14. Dezember 2015.

[83Fatima Mernissi, Sexe idéologie islam, Tierce, 1983, S. 31, 83-84, 88.

[84Zahra Ali, Féminismes islamiques, La Fabrique, 2012, S. 61.

[85Ein Widerspruch? Im Namen der Arbeiterklasse brach die KPF Streiks und fand Arbeiter, um sie zu unterstützten.

[86Philippe-Joseph Salazar, op. cit., S. 142.

[87Brigade Al-Khansaa, Women of the Islamic State. A manifesto on women, 2015 (Veröffentlichung der Aktivistinnen des IS).

[88Interview mit Géraldine Casutt, Le Nouvel Observateur, 9. April 2015.

[89Ibid.

[90Farhad Khosrokhavar, „Qui sont les jihadistes français ?“, op. cit.

[91Das Gerücht eines „Sex-Jihad“ zur „Erholung des Kriegers“, das lange zirkulierte, ist eine Erfindung.

[92Präzisieren wir, dass Alain Soral, der den IS für eine Marionette in den Händen des Mossad hält, in der Nr. 7 von Dar-al-Islam als pro-iranischer, „ungläubiger Verschwörungstheoretiker“ denunziert wird.

[93Brigade Al-Khansaa, op. cit.

[94Hélène Février, Sylvie Braibant, „Les sirènes pseudo-féministes du djihadisme“, 20. November 2015.

[95Fatima Mernissi, op. cit., 1983, S. 88.

[96Olivier Hanne, Thomas Flichy de la Neuville, op. cit., S. 114.

[97Für eine etwas provokative Genossin stellt diese „Suche nach einer Reinheit des Zusammenlebens“ ein Echo auf den Formalismus dar, den man in der Aktivistenszene finden kann. Indem die Ergreifung des Wortes, das Vokabular, die Verhaltensweisen kodifiziert werden, versucht man um jeden Preis den Konflikt, die fitna zu vermeiden.

[98Olivier Hanne, „Le rêve d’Etat du djihadisme“, Diplomatie, Nr. 77, November-Dezember 2015, S. 44.

[99Jener Teil der extremen Rechten, der sich vom Kampf der ZAD angezogen fühlt, folgt der gleichen Logik, er erkennt dort eine politische und rhetorische Orientierung, die er teilen kann: Ökologie, Territorium, Bauernschaft usw.

[100Olivier Hanne, „Le rêve d’Etat du djihadisme“, Diplomatie, Nr. 77, November-Dezember 2015, S. 44.

[101Die Kritik der Modernität ist nicht gleichbedeutend mit jener der Technologie. Auf diesen Punkt bezogen, anerkennt der IS den Vorsprung des Westens, doch er führt ihn auf die Plünderung der arabisch-muslimischen Kenntnisse durch die Europäer seit dem Mittelalter zurück.

[102Oder ein unerwarteter Dritter Weltkrieg zwischen der NATO und Russland, der die Eschatologie des Kalifats bestätigt.

[103Luc Mathieu, „A Raqqa, l’ambiance s’est tendue, la paranoïa grandit“, Libération, 16. September 2015.

[104„Finances de l’EI : la guerre secrète“, Le Monde, 29.-30. November 2015.

[105Obwohl sich die Attentate, wie jene im November 2015 in Frankreich, in Bezug auf die Innenpolitik für gewisse Regierungen als nützlich erweisen können, wird ihre Vervielfachung lästig.

[106Die USA führen 90% dieser Bombenangriffe aus, Frankreich kaum 5%.

[107Denn das Aushungern einer Stadt, der Entzug von Wasser, Elektrizität und gar des Internets sind nicht „Praktiken von Barbaren“, sondern einfach das von allen benutzte Einmaleins des Belagerungskrieges.

[109Alain Rodier, „L‘épreuve de vérité?“ in Atlantico, 28. Januar 2016.

[110Damit nähert er sich in der Form Al Qaida an, welche hingegen seit 2014 zur Territorialisierung tendiert, besonders im Jemen und in Syrien.

[112In ihren Gebieten sowie im kurdischen Quartier von Aleppo habe die PYD selbst Repression gegen Demonstranten ausgeübt, eine vor kurzem bestätigte Information, siehe Adam Baczko, Gilles Dorronsoro, Arthur Quesnay, Syrie. Anatomie d‘une guerre civile, CNRS éditions, 2016, S. 87.

[113Sogar die überzeugtesten Anhänger der PYD müssen eingestehen, dass es sich hier um eine „von oben kommende Anordnung“ handelt, nicht um „das Resultat eines spontanen Volkswillens“. Siehe Mathieu Léonard, „Le Kurdistan, nouvelle utopie“ in Le Crieur, Nr. 4, Juni 2016, S. 130-134.

[115Siehe „A Letter to ‘Rojavist’ Friends“, TKGV, Mai 2016.

[116Einige Tage vor der Offensive, am 31. Januar 2016, besuchte der Sonderbeauftragte von Barack Obama, Brett McGurk, Kobanê und traf die Verantwortlichen der PYD und der YPG.

[117Jüngst im März 2016: Zusammenstösse zwischen kurdischen Polizisten und Assad unterstützenden Milizen arten in dreitägige Kämpfe aus, erst dann beruhigt sich die Lage und die Offiziere beider Lager übernehmen wieder die Kontrolle über ihre Truppen. Die Ankunft von höheren Offizieren, besonders russischen, erlaubt es, einen Waffenstillstand in der Stadt auszuhandeln und Verhandlungen über den Gefangenenaustausch und der Rückkehr zu den anfänglichen Positionen zu eröffnen.

[118Michel Korinman (Hg.), Daech. Menace sur les civilisations, L’Esprit du Temps, 2015, S. 280-281.

[119Wladimir van Wilgenburg, „Les Kurdes syriens cherchent à prendre Raqqa en s‘alliant à une nouvelle force arabe“ in Middle East Eye, Oktober 2015.

[120Catherine Gouëset, „Syrie: cinq ans de guerre dans les faubourgs de Damas“ in L‘Express, 15. März 2016.

[121Gérard Chaliand.

[122Jihad Yazigi, „La guerre continue à détruire, mais aussi à créer de nouvelles structures“ in Le Commerce du Levant, März 2016.

[123Jihad Yazigi, „Que reste-t-il du tissu industriel syrien?“ in Le Commerce du Levant, Mai 2016.

[124Laure Stephan, „Dans les quartiers ouest, une vie en sursis“ in Le Monde, 6.-7. März 2016.

[125„‘Cessez-le-feu‘ en Syrie“ in CQFD, Nr. 142, April 2016.

[126Besonders jener des syrischen Anarchisten Omar Aziz. Siehe Leila Shrooms, „La base sociale de l‘opposition civile syrienne“ in Avanti 4, Oktober 2013 und Christophe Ayad, „Mort en détention de Omar Aziz, père des comités locaux de la révolution syrienne“ in Le Monde, 26. Februar 2013.

[127Ignace Leverrier, „La mise en place en Syrie des organisations de la société civile“, Kolloquium Ilasouria.01, Oktober 2013.

[128Adam Baczko, Gilles Dorronsoro, Arthur Quesnay, op. cit., S. 35. Man kann anmerken, dass der IS das gleiche tut, wenn er einen Ort erobert.

[129Im Frühling 2013 kamen die Polizisten von Aleppo dank der finanziellen Unterstützung der USA und der EU in den Genuss einer Weiterbildung durch eine private britische Sicherheitsfirma. Ebd., S. 155.

[130Ebd., S. 36.

[131Im Gegensatz zur tunesischen und ägyptischen Armee, die beide den westlichen Ländern nahestehen.

[132Ebd., S. 127, 286-287.

[133Ebd., S. 132.

[134Ebd., S. 308.

[135Siehe „Kalifat und Barbarei. Zweiter Teil: Von der Utopie“, Dezember 2015, Kapitel „Das versteckte Kind des Frühlings?“.

[136Ebd., S. 282.

[137Ebd., S. 278.

[138„‘Cessez-le-feu‘ en Syrie“, op. cit.

[139Siehe z.B. Syria Freedom forever, ein Blog von Gegnern Assads, wo man Fotos und Videos aus mehreren Städten findet.

[140UNO und Universität Saint Andrews, Syria at War: Five Years on, 2016, 36 S.

[141Die verschiedenen Organismen versuchen, einen Unterschied zwischen Flüchtlingen (welche Kriegen entfliehen und von der Genfer Konvention betroffen sind) und Wirtschaftsflüchtlingen (die Arbeit suchen) zu etablieren, obwohl häufig beides gleichzeitig der Fall ist. Die Unterscheidung ist also rein juristisch, variiert je nach Land und erlaubt es, Einwanderer zu trennen und zu ordnen.

[142Jeanine Jalkh, „Réfugiés syriens: le risque de l‘effet boomerang“ in L‘Orient le jour, 30. Juni 2016.

[143Gemäss einer Studie des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) wollen von den Syrern, welche zwischen April und September 2015 europäischen Boden betreten, 50% nach Deutschland gehen und nur 0.4% nach Frankreich. Diese Zahlen müssen natürlich mit aller notwendigen Skepsis betrachtet werden, besonders weil die Flüchtlinge wohl schnell verstanden haben, dass die humanitären Helfer auch Hilfspolizisten sind. UNHCR, Syrian Refugee Arrivals in Greece, 2015, 15 S.

[144„Wanderung, Flucht und Arbeit“ in Wildcat, Nr. 99, Winter 2016.

[14581% seien Männer, 69% seien zwischen 18 und 35 und 86% haben eine höhere Schulbildung. Fragwürdige Daten, wie wir sehen werden. Und 58% drücken ihre Intention aus, ihre Familie ins Ankunftsland nachziehen zu lassen. UNHCR, op. cit.

[146Cécile Boutelet, „En Allemagne, les patrons souhaitent faciliter l‘embauche des réfugiés“ in Le Monde, 9. September 2015.

[148Cécile Boutelet, op. cit.

[149Pascal Hugues, „Réfugiés: un miracle économique pour l‘Allemagne?“ in Le Point, 1. Februar 2016.

[150Die Deutsche Bahn und Siemens haben ähnliche Programme lanciert. Siehe ebd.

[151Jean-Philippe Lacour, „Migrants: l‘enthousiasme des industriels allemands retombe“ in Les Échos, 20. Oktober 2015.

[152Pascal Hugues, op. cit.

[153UNO und Universität Saint Andrews, op. cit.

[154„Les réfugiés en Allemagne restent aux portes du Dax“ in Les Échos, 5. Juli 2016.

[155Pascal Hugues, op. cit.

[156UNO und Universität Saint Andrews, op. cit.

[157Nur eine Minderheit der festgenommenen Verdächtigen kommt aus Syrien. Zu diesem Ereignis, siehe das Bulletin Nr. 9 (Februar 2016) von Mouvement communiste: „Cologne: les attaques contre les femmes sont le produit du patriarcat et font le jeu des racistes anti-immigrés“.

[158Wildcat, op. cit.

[160Charles de Marcilly, „Crise des réfugiés: l‘UE face aux défis migratoires“ in Diplomatie, Nr. 31, Februar-März 2016.

[161RTL, 30. Januar 2016.

[162Zur Idee z.B., dass ein „provisorisches“ Bündnis mit diesen im Kampf so talentierten jungen Leuten (Jihadisten von Al Nusra oder den Navy Seals) keine Konsequenzen haben wird.

[163Dieser Artikel ist die Fortsetzung einer Serie von Artikeln: „Kalifat und Barbarei“ (erster und zweiter Teil im Dezember 2015) und „Warten auf Raqqa“ (Juli 2016). Einige Fragen wurden darin schon behandelt (wie hier der Übergang eines sozialen Protests zu einem Bürgerkrieg, der zu einer Intervention ausländischer Akteure führt). Wir werden uns also darauf beziehen.

[164Die russische und syrische Luftwaffe haben in der Region Idlib das gleiche getan, damit keine solchen Strukturen entstehen.

[165War der IS vom gemässigten Teil der Bewegung angeführt worden? Auf jeden Fall existierte eine extremistische Tendenz innerhalb des Kalifats, doch da sie eine Minderheit darstellte, ist sie in „der Opposition“ geblieben und wurde 2017 gar niedergeschlagen. Siehe Romain Caillet, „Les dissidents radicaux de l‘État islamique“, 8. Juni 2017.

[166Romain Caillet in L‘Invité des matins, France culture, 1. November 2017.

[167Michel Goya, „Syrie: le modèle de l‘intervention russe“ in DSI, Nr. 132, November-Dezember 2017, S. 70-73.

[168Die USA und ihr jordanischer Verbündeter unterstützen diese Gruppen trotzdem, sie sind hauptsächlich FSA etikettiert und kontrollieren das Grenzgebiet zwischen Jordanien und dem Golan.

[169Die Hälfte der Bewohner dieses Gebiets sind Flüchtlinge, deren Präsenz einen Streitgegenstand darstellt. Ankara achtet darauf, dass ihnen dort humanitäre Hilfe zugutekommt und sie die Grenze nicht überqueren müssen. Das ist der HTS bewusst, sie spielt mit der Türkei das gleiche Spiel wie diese mit der EU. Flüchtlingslager sind auch ideale Orte zur Rekrutierung.

[171Tristan Leoni, „Kalifat und Barbarei: Warten auf Raqqa“, Juli 2016.

[172Die überraschende Länge gewisser Belagerungen kann durch die Besonderheiten dieses Bürgerkrieges erklärt werden: Die finanziellen Interessen, die familiären, Clan- oder Stammesverbindungen, die Korruption und die Soziologie des Checkpoints führen dazu, dass z.B. wirtschaftlicher Austausch und Handel zwischen belagerten Rebellengebieten und dem loyalistischen Territorium weitergehen.

[173Syrian War Report, 7. September 2017.

[174Drei Strassenachsen verbinden Syrien und den Irak: Die erste im Norden geht durch die Hochburgen der YPG; die zweite in Al-Tanf im Süden ist von der amerikanischen Armee kontrolliert; der dritte in Abu Kamal im Zentrum wird vom IS gehalten.

[176Ist es notwendig, zu präzisieren, dass, wenn man von den Handlungen einer politisch-militärischen Organisation (die PYD-YPG als Repräsentation lediglich eines Teils der Kurden in Syrien, wahrscheinlich einer Minderheit) spricht, man nicht „die Kurden“, das „kurdische Volk“ oder das kurdische Proletariat „kritisiert“? Wir werden hier nicht weiter auf all diese Punkte eingehen, auf welche, betreffend Rojava, im vorhergehenden Artikel „Kalifat und Barbarei: Warten auf Raqqa“, in „A Letter to Rojavist Friends“ (Mai 2016) und in „Kurdistan?“ (Januar 2015) eingegangen worden war.

[177Wahrscheinlich ist es der Einsatz von chemischen Waffen durch Damaskus, welcher es dem Westen erlaubt, Raqqa oder Tabqa mit weissen Phosphorgranaten zu bombardieren, sie sind durch alle internationalen Konventionen verboten… Luc Matthieu, „À Raqqa, des obus au phosphore blanc“ in Libération, 11. Juni 2017.

[178Luke Mogelson, „Dark Victory in Raqqa“ in The New Yorker, 6. November 2017.

[179Diese Art von Abkommen ist von einer grossen Banalität im syrischen Konflikt, doch, da die Medien damals auf Raqqa konzentriert waren, provozierte es Erstaunen und Unverständnis; die Verschwörungstheoretiker sahen darin sogar den Beweis für die Kollusion zwischen dem IS und Washington.

[181Andrew J. Tabler, „Eyeign Raqqa. A Tale of Four Tribes” in The Washington Institute, März 2017, S. 7-8.

[182Im Juli 2017 versuchte die Türkei, Washington zu stören, indem sie durch die Presseagentur Anandolu die Lokalisierungsdaten und die Anzahl stationierter Truppen von zwölf im syrischen Kurdistan stationierten Stützpunkten (in einem davon sind die französischen Spezialkräfte stationiert) bekanntgab.

[183Alexandre Alati, „Objectif Raqqa. Les moyens d‘appui US en Syrie“ in Raids, Nr. 375, Oktober 2017, S. 48-57. Ende November wurde der Rückzug eines Bataillons von Marines angekündigt, siehe Laurent Lagneau, „L‘EI ayant été défait à Raqqa, plus de 400 militaires américains vont quitter la Syrie“, 30. November 2017.

[185Die Schliessung des Azaz-Korridors im Februar 2016 durch eine gemeinsame Offensive der AAS, der Hizbollah und der YPG gegen die „Rebellen“ kann als Prämisse für eine Erstickung der Stadt betrachtet werden, wovon er eine bedeutende Versorgungsachse darstellte. Im Juli in Aleppo unterstützen die YPG die Truppen aus Damaskus vom kurdischen Quartier Scheich Maksud ausgehend dabei, die strategische Strasse von Castello zu unterbrechen, die letzte Versorgungsachse der rebellischen Quartiere, die nun komplett umzingelt sind und allmählich von der AAS zurückerobert werden.

[186Kämpferinnen, die manchmal innerhalb spezifischer Einheiten gruppiert werden, den YPJ, deren wirkliches Gewicht schwierig einzuschätzen ist, da sie von den Kommunikationsverantwortlichen der PYD dermassen mediatisiert worden sind (und auch von der westlichen bürgerlichen und Aktivistenpresse). Wenn man einen auch nur minimal aufmerksamen Blick hat, merkt man, dass die Frauen der YPG-YPJ zwar massiv während Zeremonien, Presseterminen und Reportagen von akkreditierten Journalisten hinter der Front präsent sind (in der Regel in ihren eigenen Uniformen), doch viel seltener auf den Bildern aus der Hitze des Gefechts.

[188Wird das Wort „Rojava“ gar nur im Westen gebraucht? Der Eid der Demokratischen Föderation Nordsyriens ist folgender: „Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und beim Blut der Märtyrer*innen, den Gesellschaftsvertrag und seine Bestimmungen zu befolgen, die demokratischen Rechte des Volkes zu bewahren und die Werte der Märtyrer*innen, die Freiheit, den Frieden und die Sicherheit auf dem Territorium der Demokratischen Föderation Nordsyrien und des föderalen Syrien zu schützen und zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit im Einklang mit den Prinzipien der demokratischen Nation beizutragen.“

[189Fabrice Balanche, „Un Kurdistan indépendant peut-il vraiment émerger du chaos syrien?“ in Le Figaro, 26. August 2016.

[190Im Oktober führte das gegen die Einwohner von Raqqa ausgesprochene Verbot, in ihre Stadt zurückzukehren, zu Demonstrationen in den Flüchtlingslagern. Es war aufgrund der Probleme der Minenräumung und polizeilichen Notwendigkeiten ausgesprochen worden, denn die YPG mussten (unterstützt von den westlichen Diensten) unter den Durchschnittszivilisten die Anhänger, Funktionäre oder Kämpfer des IS ausfindig machen. Nach drei Wochen erhielten die ersten Einwohner die Erlaubnis, nach Hause zurückzukehren. Doch aufgrund des Zustands von Raqqa und der mangelnden Vorbereitung auf die Verwaltung der Flüchtlinge ist es wahrscheinlich, dass Zehntausende von ihnen den Winter in aus Zelten bestehenden Lagern verbringen werden.

[191Tom Perry, „Syrian Kurdish YPG Aims to Expand Force to over 100’000” in Reuters, 20. März 2017.

[192Wenn in Frankreich wie in den 1970er und 1980er Jahren eine antimilitaristischer Diskurs existieren würde, würden sich die Aktivisten der dazu passenden Organisationen für diese Ereignisse interessieren. Denn viele der aus Syrien stammenden Einwanderer, welche in Europa ein Refugium gefunden haben, sind faktisch Deserteure oder Kriegsdienstverweigerer, sowohl aus dem loyalistischen als auch dem kurdischen Gebiet. Sogar die OFPRA [französische Behörde für Flüchtlinge] hat in den Dokumenten, die sie nutzt, um den Lebenslauf der Flüchtlinge zu analysieren, auf die Einführung der obligatorischen Wehrpflicht in den kurdischen Kantonen aufmerksam gemacht, siehe OFPRA-DIDR, Conflit syrien. Les régions kurdes de Syrie, chronologie et bibliographie, OFPRA, 29. Januar 2016.

[193Einige erwähnen Saudi-Arabien, unter der Bedingung, dass die YPG ein Stachel im Fleisch seiner Gegner (Türkei, Iran, Katar) bleiben. Alain Rodier, „Iran: pourquoi Téhéran tient ses Kurdes?“ in Note d‘actualité, Nr. 482, CF2R, 6. September 2017 und Aron Lund, „Winter Is Coming: Who Will Rebuild Raqqa?“, 23. Oktober 2017.

[194„Entretien avec Pierre Bance“ in Le Comptoir, 20. Oktober 2017.

[195Groupe d’amitié France-Syrie du Sénat, „Entretien avec M. Khaled Issa, représentant du Rojava en France“, Juni 2016.

[196Seite „Le contrat social“ auf der Homepage der Repräsentation Rojavas in Frankreich.

[197„Entretien avec Pierre Bance“, op. cit.

[198„Milices chiites, principale menace de l‘après-Daech?“ in Cultures monde, France culture, 7. November 2017.

[199Es würde darum gehen, den Einfluss des Irans zu beschränken, und sich dafür eventuell Saudi-Arabien anzunähern. Tim Kennedy, „Rééquilibrer les liens avec l‘Irak“ in Arabies, Nr. 367, November 2017, S. 34-39.

[200Siehe das Kapitel „Eine Wirtschaft in Fetzen“ in „Kalifat und Barbarei: Warten auf Raqqa“ und, für aktuellere Zahlen, William Plummer, Isabelle de Foucaud, „Le désastre de l‘économie syrienne après six ans de guerre“ in Le Figaro, 7. April 2017.

[202Ägypten will nicht, dass diese Investoren das Land verlassen und hat den Bau einer Industriezone für die syrischen Unternehmer angekündigt, welche 70 bis 80 Unternehmen diverser Sektoren gruppieren soll, besonders des Textil-, Lebensmittel- und Pharmazeutiksektors. „Ministry of Trade Studies Launching Syrian Industrial Zone in Egypt“ in Al-Bawaha Egypt, 4. April 2017.

[205Einige haben sich einen Vorsprung herausgeholt, so z.B. jener Zementhersteller aus Beirut, der ab 2012 Land gekauft und ein Depot in Homs gebaut hat, um am Tag X gut platziert zu sein, siehe J. Philippine de Clermont-Tonnerre, „Syrie: le Liban aux avant-postes de la reconstruction“ in TV 5 Monde, 17. September 2016.

[206Alexis Feertchak, „Pour sa reconstruction, la Syrie se tourne vers l’Asie“ in Le Figaro, 12. September 2017.

[207Jihad Yazigi, „Les pénuries mettent en lumière la fragilité syrienne“ in Le Commerce du Levant, März 2017.

[208Renaud Toffier, „Syrie, Irak : le temps de la reconstruction“, 9. August 2017.

[209Jihad Yazigi, „La Chine hésite à développer sa relation économique avec Damas“ in Le Commerce du Levant, August 2017.

[212Syria at War, Five Years On, ESCWA and University of St Andrews, 2016.

[213Und obwohl es in der Geschichte der zwischenstaatlichen Kriege grosse proletarische Bewegungen gab (Pariser Kommune, russische Revolutionen 1905 und 1917), war das im Falle von Bürgerkriegen nie der Fall. Man konnte 2003 von einer Kommune von Bagdad träumen, aber nicht von einer Kommune von Mosul 2017.

[214Besonders in Bezug auf die Schlussfolgerung unseres vorhergehenden Artikels, die wir hier grösstenteils reproduzieren könnten. Siehe „Kalifat und Barbarei: Warten auf Raqqa“, Juli 2016.

[215Zu dieser Frage, siehe Die Freunde vier Millionen junger Arbeiter, „Eine Welt ohne Geld: Kommunismus“, 1976; Bruno Astarian, „Crisis Activity and Communisation“, 2010; Gilles Dauvé, De la crise à la communisation, Genf/Paris, Entremonde, 2017.