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Gegen die Partei des Aufstands. Ein Blick auf den Appellismus in den USA
Sonntag 5. Mai 2024
Der Appellismus ist eine informelle Strömung des autoritären Kommunismus, der auf diesem Kontinent ungefähr im letzten Jahrzehnt an Boden gewonnen hat. Indem sie Elemente sowohl der revolutionären Parteistruktur als auch des aufständischen Anarchismus aufnimmt, erfindet diese Tendenz den autoritären Kommunismus als etwas neu, das wie informelle Netzwerke aussieht, aber wie eine Partei handelt.
Appellisten stellen sich in der Regel nicht als Appellisten vor. Der Begriff bezieht sich auf den Aufruf (Appel in der französischen Originalversion) vom Unsichtbaren Komitee, der von einigen der gleichen Autoren wie die Zeitschrift Tiqqun 1999 geschrieben worden ist. Deshalb werden „Appellisten“ manchmal auch „Tiqqunisten“ genannt. Beides sind Begriffe, die von Anarchisten bekannt gemacht worden sind, um der appellistischen Behauptung entgegenzuwirken, sie hätten keine Ideologie oder kein etabliertes politisches Netzwerk.
Die appellistische Verlogenheit diesbezüglich ist Teil einer breiteren Strategie, zu versuchen, nicht mehr als unterscheidbare Gruppe oder unterscheidbares Milieu sichtbar zu sein (sie nennen das „Undurchsichtigkeit“). Sie versuchen sodann, unsichtbar verschiedene Aspekte des alltäglichen Lebens in Richtung einer Form des Kommunismus zu organisieren, mit einem Schwerpunkt auf dem Aufbau von Infrastruktur und der Kontrolle darüber. Dies geht einher mit der Bemühung, entscheidend in Momenten des sozialen Konfliktes zu intervenieren, um diese Situationen eskalieren zu lassen, damit die Kämpfe an Territorium gewinnen und die Leute in ihre Infrastruktur hineingezogen werden. Appellisten werden sich typischerweise als Partisanen, Autonome oder Kommunisten bezeichnen, falls sie sich überhaupt als irgendetwas bezeichnen, obwohl es in Nordamerika gängiger ist, dass sie sich auch selektiv als Anarchisten bezeichnen.
Die bekanntesten Ausdrücke des Appellismus kommen aus Frankreich und sind Werke des Unsichtbaren Komitees, besonders Der kommende Aufstand (2007) und An unsere Freunde (2014).
In den USA sind die Hauptvertreter des Appellismus die Infoportale Ill Will Editions und Inhabit, sowie Konten auf den sozialen Medien wie Vitalist International. Neben der Promotion ihrer amerikanischen Version des Appellismus veröffentlichen diese Projekte auch Übersetzungen von Lundi matin, der zentralen appellistischen Plattform in Frankreich.
Aus der Ferne hat die „Partei des Aufstands“ [1] eine verwirrende Ähnlichkeit mit den Ideen und Aktivitäten vieler Anarchisten, denn sie übernimmt einige zentrale Konzepte des aufständischen Anarchismus wie die Autonomie und die informelle Organisation. Unterschiede zeigen sich typischerweise, wenn wir versuchen gewisse Prinzipien anzusprechen oder wenn ihre Perspektiven zur gesellschaftlichen Stellung und zu gesellschaftlichen Praktiken rund um Macht und Avantgardismus im Verlauf von Kämpfen vor Ort Bedeutung erlangen. Appellisten bewirtschaften diese Art der Verwirrung, denn Ehrlichkeit hinsichtlich ihrer Ideen ist ihrer Strategie nicht zuträglich, diese setzt voraus, dass sie ihre Perspektiven und Prinzipien je nach Gesprächspartner ändern. Klare Positionen beeinträchtigen die Rekrutierung, da sie weniger Leute ansprechen.
Die Ziele und Methoden der Appellisten sind, eher als eine ähnliche Sichtweise mit einer anderen Art des Kampfes, in Wirklichkeit inkompatibel mit anarchistischen Zielen und unterminieren hierarchiefreie Selbstorganisation. Darum dieser Text, in welchem wir versuchen, die für den antiautoritären Kampf schädlichen Methoden zu identifizieren und zu einer Kultur der Ehrlichkeit und internen Kritik zu ermutigen, was uns helfen kann, besser zu verstehen, wofür wir jeweils kämpfen und auch, mit wem und wie wir uns entscheiden, zu kämpfen.
In diesem Text werden wir grösstenteils unsere Ideen über den Appellismus im Verhältnis zu appellistischer Theorie darlegen, um zu zeigen, wie unsere Beobachtungen über das Milieu durch die Ideologie untermauert werden und ihr inhärent sind. In Tat und Wahrheit sind jedoch die meisten Leute im appellistischen Milieu keine Theoretiker und die Darlegung der Probleme des Appellismus gestützt auf die Theorie wird der Hässlichkeit des appellistischen Verhaltens, der wir im realen Leben begegnet sind, nicht gerecht. Unsere tiefsten Probleme mit der Tendenz kommen wohl oder übel von persönlicher Erfahrung und sind nur insofern verifizierbar, als sie Teil von akkumulierten Erfahrungen diverser Anarchisten sind, denen Appellisten über die Jahre auf diesem Kontinent begegnet sind.
Zusätzlich zu den spezifischen Projekten, die wir mit dieser Tendenz identifizieren können, gibt es etliche Leute in den USA, die von appellistischen Strategien inspiriert worden sind und versuchen, sie in ihren Netzwerken zur Anwendung zu bringen. Da sich diese Individuen selbst nicht Appellisten nennen und häufig die Existenz einer solchen Tendenz bestreiten, ist es verwirrend, von „Appellisten“ zu sprechen, zumindest im gleichen Sinne, wie wir von „Anarchisten“ sprechen würden, denn letztere identifizieren sich selbst als solche. Zumindest teilweise aufgrund dieser Ambivalenz denken wir, dass es nützlicher ist, den Fokus auf das Verständnis der Dynamiken und Methoden des Appellismus und die Kritik jener Projekte, welche appellistische Strategie vorantreiben, zu richten, als zu versuchen, endgültig zu identifizieren, wer ein Appellist ist oder nicht. Es gibt viele Leute, die rund um die appellistische Welt kreisen, weil sie in den gleichen grösseren Kämpfen engagiert sind oder aufgrund gesellschaftlicher Nähe, mehr denn aus ideologischer Hingabe zum Appellismus. Unsere Diskussion des Appellismus in diesem Text soll nicht dazu dienen, diese Leute vor den Kopf zu stossen, sondern einen gewissen Kontext und Bezugsrahmen anzubieten, um sie dabei zu unterstützen, ihre eigenen bewussten Entscheidungen zu treffen und nicht manipuliert zu werden.
Viele der in diesem Text diskutierten Probleme sind überhaupt nicht auf den Appellismus beschränkt. Informelle Hierarchien, schreckliche Analysen, entsetzliche Rassismuspolitik, Frauenfeindlichkeit, Missbrauch, Alibipolitik und die Instrumentalisierung der Kämpfe anderer Leute sind auch in den meisten anarchistischen Szenen in den USA weit verbreitet; wir sind ihnen alle begegnet. Was den Appellismus davon unterscheidet und wir in diesem Text aufzeigen möchten, ist die Tatsache, dass die angesprochenen Probleme durch die Ideen selbst ausgelöst und gerechtfertigt werden, statt im Widerspruch zu ihnen zu stehen – sie sind seit langer Zeit und konsistent in den appellistischen Schriften und der appellistischen Organisationsweise vorhanden. Die Konfrontation mit diesen Ideen und ihren Anhängern sollten nicht zulasten der Konfrontation mit hierarchischem Verhalten und derartigen Einflüssen aus anderen Richtungen gehen, sondern stattdessen unsere Fähigkeit zur Kritik im weiten Sinne verbessern und uns helfen, die Verankerung in unsere geteilten Prinzipien zu vertiefen.
Das Programm: Territorium und Macht
Das „Kleine orange Buch“ von Inhabit ist die klarste Darstellung der appellistischen Strategie in den USA, deshalb beginnen wir damit. Inhabit bietet ein Programm an, das aus einigen wenigen einfachen Schritten besteht und damit beginnt: 1) „Sich finden“ und 2) autonome Infrastruktur oder „Hubs“ (gewöhnlich rurale Landprojekte oder andere Räume, wo sie „die Kommune aufbauen“) erschaffen. In diesem Prozess des massenhaften „Ausstiegs“ und des schrittweisen „Abzugs von Territorium von der Wirtschaft“ erreichen wir schliesslich die Schritte 8 und 9, wo die Infrastruktur „destituiert“ wird und wir „unregierbar werden“, weil wir genügend Autonomie aufgebaut haben, um die Regierung und die Wirtschaft überflüssig zu machen. Wenn diese dann verschwinden, werden sie durch die von den Appellisten aufgebauten Kommunen und ihrer Infrastruktur ersetzt: „Die Macht ergreifen, ohne zu regieren.“
Die Erschaffung autonomer Infrastruktur war von kritischer Bedeutung für viele radikalen Bewegungen rund um die Welt und durch die Geschichte hindurch, von konfliktreichen Besetzungen und selbstorganisierten sozialen Zentren in Europa bis zu befreitem Land in Lateinamerika. Die von Inhabit hinsichtlich der Autonomie vorgebrachten Vorschläge enthalten jedoch bedeutende Probleme:
- Es wird nicht präzisiert, wen wir genau finden, wenn wir uns finden. Dies erlaubt verschiedenste Bündnisse, auch problematische, zum Beispiel mit Politikern oder Leuten, die zu rechtem Libertarismus tendieren. Es ist auch sehr schwierig, trotz der ausführlichen Aufmerksamkeit von Inhabit für die Bildsprache der Kämpfe und Vorschläge für die Zukunft, klar zu verstehen, gegen wen und was das „Wir“ von Inhabit eigentlich gerichtet ist.
- Siedler in den USA oder Kanada, die Land kaufen und ein Landprojekt starten oder Geschäfte eröffnen in Quartieren, die gerade gentrifiziert werden, stellen typischerweise keine emanzipatorischen Projekte dar, sondern reproduzieren Siedlungspolitik als Schlüsselaspekt der Funktionsweise unserer Feinde – koloniale Siedlerstaaten wie die USA und Kanada. Inhabit übergeht dieses Problem komplett und diskutiert Siedlerkolonialismus nicht.
- Indigen angeführte Kämpfe werden als inspirierende Beispiele genannt, doch Rasse oder Gender werden genau wie Kolonialisierung nie als ethische oder nicht einmal strategische Anliegen auf dem Weg zur Destitution erwähnt. Die vollständige Übergehung von Rasse in einem in den USA stattfindenden Kampf – oder in der Tat überall – ist gleichbedeutend mit einer Art farbenblindem Rassismus. Das Vorbeirauschen an jeglicher Diskussion über Geschlechterrollen in der „Kommune“ ist ein weiterer Preis für die unnachgiebige Betonung von Inhabit dessen, was wir gemeinsam haben. „Die Kommune“ wird zu einer mythischen höheren Entität, mit welcher Individuen mit all ihren chaotischen Unterschieden und verschiedenen Erfahrungen systematischer Unterdrückung für das Gemeinwohl verschmelzen sollen.
- Das Konzept der „Destitution“, das darauf hinausläuft, dass die Anhänger davon die Wirtschaft „verhungern lassen“, indem sie sich nicht an ihr beteiligen, basiert auf der Annahme, dass der Kapitalismus und die damit verbundene staatliche Macht allmählich verschwinden, wenn genug Leute sich ihres Zugriffs entziehen. Diese Idee ist historisch betrachtet hoffnungslos falsch und sie scheint uns zu ermuntern, weniger konfliktreiche Kämpfe zu führen, obwohl in Wirklichkeit der Konflikt ein wesentlicher Bestandteil jedes Kampfes gegen den Staat ist.
Die Einfachheit dieses Programm ist eine Marketingstrategie, die dafür konzipiert ist, so viele Leute wie möglich anzusprechen und genau aus diesem Ansatz entstehen viele Probleme. Mit wem wir uns organisieren und leben, mit wem wir uns verbünden, unsere Komplizität mit dem Kapitalismus und anderen Formen der Unterdrückung, die Notwendigkeit, Risiken einzugehen und Gewalt anzuwenden, das Verhältnis zwischen unseren persönlichen Wünschen und unseren Verantwortlichkeiten für andere – all das sind komplexe Fragen, durch die wir konstant navigieren, während wir uns aus dieser Welt in Richtung Anarchie bewegen. Kein kleines oranges Pamphlet, das ein nett tönendes „gemeinsames Leben“ bewirbt und die harschen Realitäten von Rassismus, Gender und Siedlerkolonialismus vertuscht, kann die Antworten darauf liefern.
Wir haben Appellisten häufig dabei beobachtet, wie sie falsche Parallelen zwischen ihren Landprojekten und indigenen Versuchen zur Verteidigung und/oder Wiedererlangung von angestammtem Territorium und traditioneller Lebensweise ziehen. Das ist für den Erfolg letzterer konterproduktiv. Wie die Autoren von „Another Word for Settle“ schreiben, diese Art der „‘Zurück-aufs-Land-Politik’ […] bereitet im schlimmsten Fall die Bühne für die Entwicklung von verdrehten Ansprüchen von Siedlern auf indigenes Land vor“, behauptet, „dass die Beziehungen, die wir mit antikolonialen indigenen Verbündeten anstreben sollten, sich auflösen werden, und läuft damit Gefahr, dass reaktionäre Siedlertendenzen, die wir bekämpfen sollten, gestärkt werden“ [2].
Die Anweisung, Eigentum zu akkumulieren, taucht im nicht minder programmatischen Text „How to Start a Fire“ wieder auf, er ist keine Anleitung zur Brandstiftung, sondern gibt den lächerlich weltfernen Rat, sich zu „organisieren, um so bald wie möglich Wohneigentum zu kaufen“ und „Raum zu mieten. Noch besser aber ist es, Gebäude zu kaufen, Eigentum zu erwerben.“ Ein grosser Teil ihrer Beschreibung davon, wie man etwas gemeinsam aufbaut, während man sich nicht „obsessiv mit der Moral oder ‚internen Dynamiken‘ solcher Projekte befassen [soll]“ könnte problemlos jede Art der Kollektivität beschreiben – einen Hauseigentümerverband zum Beispiel. Die Momente in ihren Schriften, wenn sie ausführen, wie ihre Vision einer territorialen Autonomie eigentlich aussehen könnte – zum Beispiel ihr Fokus auf die Lancierung von Geschäftstätigkeiten als Teil ihres revolutionären Projekts – zeigen, dass ihre Utopie fürchterlich langweilig, sorgfältig verwaltet und (basierend auf unserer Erfahrung) sehr wahrscheinlich auf Familienvermögen aufgebaut ist [3].
Die Perspektiven: Die Zusammensetzung der Partei
Der Appellismus ist nicht die einzige radikale Tendenz, die autoritäre Ansätze für den Kampf vorschlägt, nur eine, die Anarchisten unter Umständen weniger bemerken. Er nimmt etliche Elemente von kommunistischen und anderen linken [4] Traditionen auf, aber kleidet alte Ideen in angesagte neue Sprache und Ästhetik, womit sie sich über Umwege wieder unbemerkt einschleichen.
Anarchistische Theoretiker im Ausland haben darauf hingewiesen, dass der Appellismus spezifischer ein Nachkomme des Blanquismus ist. Diese Ideologie ist eine autoritäre kommunistische Strömung des Insurrektionalismus, die auf Louis Auguste Blanquis Idee basiert, dass die Revolution von einer relativ kleinen Avantgarde höchst organisierter Verschwörer in einer geheimen Parteistruktur, die so positioniert ist, dass sie Aufständische mithilfe einer einheitlichen Strategie anführen kann, durchgeführt werden sollte.
Die Autoren von „Blanqui oder die staatliche Insurrektion“ schreiben: „[Blanquis] Konzeption der Insurrektion als Resultat eines strategischen Zuges, und nicht als soziales Ereignis, brachte ihn zur Schlussfolgerung, dass der Zweck alle Mittel heiligt. Für ihn zählte nicht die Art und Weise, sondern das Resultat, mit anderen Worten, die effektive Eroberung der politischen Macht.“
Weiter: „Wenn die Insurrektion trotz des Mutes und des Enthusiasmus derjenigen, die sich an ihr beteiligen, niedergeschlagen wird, dann liegt das daran, dass es ‚an Organisation mangelt. Ohne Organisation, keine Chance auf Erfolg.‘ Das wird auch stimmen, aber wie erlangt man diese Organisation, diese Koordination, diese Abmachung unter den Aufständischen? Durch die horizontale, im Voraus stattfindende und möglichst weite Verbreitung eines Bewusstseins, einer Aufmerksamkeit, einer Intelligenz gegenüber den Erfordernissen des Moments (libertäre Hypothese), oder durch die vertikale Einrichtung eines einheitlichen Kommandos, welches die Gehorsamkeit von allen verlangt, jenen allen, die bis anhin in Unwissenheit gehalten wurden (autoritäre Hypothese)?“ Diese autoritäre Theorie des Aufstands wird angereichert mit dem Einfluss der italienischen Kommunisten der Autonomia der 1970er Jahre mit ihrem betont lyrischen Stil und ihrem Fokus auf die Bildung von Netzwerken autonomer Räume und der Situationisten mit ihrer selbsternannten Stellung als intellektuelle Avantgarde.
Der Appellismus nimmt auch die traditionellere kommunistische Idee wieder auf, dass die internationale Arbeiterklasse der Hauptcharakter des antikapitalistischen Kampfes ist, doch die Idee wird als „Imaginäre Partei“ der Aufständischen gegen das Kapital neu verpackt. Wenn sie als informell neu gedacht wird, brauchen Individuen überall auf der Welt keine Mitgliederkarte zu erwerben, um in der Partei zu sein, und in Wirklichkeit sind sie selten damit einverstanden (oder werden danach gefragt), Teil der appellistischen Strategie zu sein. Sie unterscheidet sich stark von einem anarchistischen Bezugsrahmen zum Internationalismus in jenem Sinne, dass sie tatsächlich diverse Kämpfe einschliesst und die Vorstellung erzeugt, dass alle zu einem grossen Plan beitragen, der von Anderen bereits in die Wege geleitet worden ist, statt diese Kämpfe in ihren eigenen Begriffen anzuerkennen.
Zusammen mit anderen Spielarten des autoritären Kommunismus und der breiteren Linken fordert uns der Appellismus dazu auf, uns unter irgendeiner (imaginären oder anderen) Fahne zu vereinen, unter ihr werden individuelle Meinungsverschiedenheiten oder interner Konflikt als spalterisch oder konterproduktiv hinsichtlich des vage ausgesprochenen gemeinsamen Zieles betrachtet. Im appellistischen Diskurs zeigt sich das weitgehend rund um die Idee der „Zusammensetzung“ und das vage geteilte Ziel einer internationalen „Imaginären Partei“. Das bedeutet, dass ihre Politik auf einer neu verpackten Version der Einreihung von oben nach unten basiert, in welcher Unterscheidungen zwischen links und rechts innerhalb des Proletariats weniger wichtig als unser gemeinsamer Kampf gegen die „Elite“ ist. Zusammensetzung ist ihre Theorie darüber, wie diese verschiedenen Interessen, von den guten Bürgern bis zu jenen, welche sie als „schwarze Proletarier“ betrachten, sich als „historische Kraft“ vereinen können.
Durch Zusammensetzung wird versucht, verschiedene Sektoren eines Kampfes oder einer Bewegung in die gleiche Richtung zu lenken (in Richtung der appellistischen Vision eines Sieges), indem Konsens über die Zwecke und Mittel hergestellt (und erzwungen) wird und widersprüchliche oder abweichende Stimmen zum Schweigen gebracht werden. Zusammensetzung, die oft als Rahmen für die Zusammenbringung verschiedener, für ein gemeinsames Ziel kämpfender Ansätze präsentiert wird, soll dazu dienen, ganz verschiedene Elemente in einer gemeinsamen Strategie zu vereinen, wobei grundlegende Meinungsverschiedenheiten, die „so zentral“ sind, „wie zum Beispiel das Verhältnis zu Legalität und Institutionen (Parteien, Gewerkschaften, Medien usw.), dem Einsatz von Gewalt und der Offenheit gegenüber Verhandlungen“ [5], verschleiert werden.
Der Text „The Strategy of Composition“, der von Ill Will Anfang 2023 veröffentlicht worden ist, kreiert ein falsches Dilemma, indem er Autonomie und Dezentralisierung als in einem „Non-Verhältnis (tolerante Trennung)“ resultierend präsentiert, während Zusammensetzung, „falls wir wieder einen Sieg am Horizont sehen wollen […] unvermeidbar bedeutet, Kompromisse zu akzeptieren“. Zusammensetzung legt den Grundstein für die altbekannte vollständige autoritäre Macht. Wenn die Autonomie einer Gruppe den Kompromissen der dominanten Gruppe im Weg steht, müssen die widerspenstigen Akteure auf Linie gebracht werden, sonst droht der „Zerfall“ der Bewegung. Dieser Rahmen dient als Methode, um unkontrollierbare Situationen zu befrieden, indem die klassische „Einheitsfront“ vorgeschoben wird, um Konflikte und Widersprüche zum Verschwinden zu bringen, ohne dass es dafür notwendig ist, die altmodischen „Massen“ heraufzubeschwören.
Es ist zweckdienlich, die Imaginäre Partei, das also, was sie durch Zusammensetzung zu bilden suchen, von den eingeweihten Appellisten zu unterscheiden, letztere arbeiten jene Strategien aus, welche sie breiteren Bewegungen aufzwingen wollen. Zusammensetzung betont die entfernte Vogelperspektive des Experten (der Zusammensetzer, wenn man so will), der beaufsichtigt, wo jeder hineinpasst, und somit gut platziert ist, um jenen Gruppen und Individuen, welche eigentlich aus ihren eigenen Gründen und auf ihre eigene Art und Weise kämpfen, ihre Strategie aufzuzwingen. Im Gegensatz dazu beinhaltet ein anarchistischer Ansatz nicht tolerante Trennung, sondern eher Koordination und frei Assoziation zwischen selbstorganisierten autonomen Netzwerken, die unter Umständen verschiedene Strategien und Taktiken haben.
Appellistische Autoren konstruieren ihre Argumente häufig rund um ein „Wir“, das sich nicht nur auf sie selbst bezieht, sondern auch voraussetzt, für die Gefühle und Erfahrungen eines breiteren „Wir“, zu dem auch der Leser gehört, zu sprechen. Sie sagen uns, wie „wir“ uns fühlen und der Leser wird mitgerissen in die Schlussfolgerungen des Autors und er fühlt sich dabei, als wäre er selbst darauf gekommen. Wenn der Leser einen gewissen Widerstand dagegen verspürt oder zögert, wird er dazu gezwungen, komplett auszusteigen und eine Position ausserhalb dieser romantischen Kollektivität einzunehmen, ausserhalb dieser „historischen Kraft“, was nicht unbedingt einfach ist. So wirst du, der Leser, faktisch in ihre Partei (oder Kraft, Kommune usw.) hineingezogen.
Die Theorie der „Undurchsichtigkeit“, die festhält, dass ihre Partei und ihre Netzwerke für die Aussenwelt unsichtbar sein sollen, wird benutzt, um den Widerwillen der Appellisten, die Existenz des Appellismus ausserhalb ihrer Kreise einzuräumen, zu rechtfertigen. Es handelt sich um eine Entstellung der anarchistischen Konzeptionen der Informalität und der Sicherheitskultur, um es schwierig zu machen, hierarchische Strukturen und autoritäre Ambitionen zu identifizieren.
Perspektiven zu Rasse und gesellschaftlicher Stellung: Auskopplung und Löschung
Der Titel Der kommende Aufstand ist eine Hommage an Die kommende Gemeinschaft (1990), ein einflussreiches Werk des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, der mit den Herausgebern von Tiqqun verbunden war. In diesem Buch behauptet Agamben, dass die grösste Bedrohung für den Staat eine Gemeinschaft sei, die von Individuen, die mit den uns auferlegten partikularen Identitäten gebrochen haben, gebildet worden ist, eine Gemeinschaft, die schlichtweg das Zusammensein ohne „Prädikate“ oder Zugehörigkeitsbedingungen geniesst [6].
Agamben und Tiqqun behaupten (richtigerweise), dass uns Identitäten wie Rasse, Gender und Nationalität zum Zwecke der sozialen Kontrolle auferlegt werden. Es ist wichtig, die Auferzwingung der Identifikation mit gesellschaftlich konstruierten Identitäten durch den Staat zu bekämpfen, obwohl sie wesentliche Teile unserer individuellen Persönlichkeiten sind. Die Autoren gehen in eine falsche Richtung, als das sie dazu bringt, „auf jede Identität [zu verzichten]“ [7]. Zwar streben wir auch danach, alle gesellschaftlich konstruierten Identitäten zu beenden, doch dies ist nicht möglich, wenn jene institutionellen Mächte, welche sie erschaffen haben und aufrechterhalten, immer noch intakt sind. Die Weigerung, zu berücksichtigen, wie unsere jeweiligen gesellschaftlichen Stellungen uns unter Umständen, unbeabsichtigt oder nicht, dazu bringen, Aspekte struktureller Herrschaft, die wir vermeintlich bekämpfen, zu reproduzieren, hilft uns nicht dabei, sie zu überwinden.
Die Haltungen von Appellisten gegenüber Identitäten wie Rasse und Gender sind sehr verschieden. Viele Appellisten und ihnen nahestehende Theoretiker übergehen Rasse überhaupt nicht und sind in der Tat sehr lautstark bezüglich ihrer Wichtigkeit – aber auf eine Art und Weise, die rassialisierte Bevölkerungen, über die sie diskutieren, für ihre eigenen Zwecke benutzt [8]. Es gibt auch den Fall von Inhabit, sie vermeiden es Rasse und Gender zu berücksichtigen, aber pochen auf Klasse als Bezugsrahmen, wie wir es weiter unten in dieser Sektion diskutieren werden.
Ill Will Editions, ein Blog aus den USA mit mehreren Konten auf den sozialen Medien, veröffentlicht Essays von einer breiten Auswahl an Autoren, die diese verschiedenen und manchmal widersprüchlichen Standpunkte zu Rasse und gesellschaftlicher Stellung aufzeigen. Eine Gemeinsamkeit, die man jedoch in vielen dieser Essays und ihrer Posts in den sozialen Medien beobachten kann, ist die Tendenz, Kämpfe anderer Leute zu romantisieren und ihren politischen Bezugsrahmen auf sie zu projizieren. Häufig nimmt man auch das Verlangen nach einer Überwindung von Rasse entlang der Linien von Agambens (weiter oben beschriebenem) Ansatz wahr, trotz der Realität ihrer kontinuierlichen Existenz als zentrale formgebende Kraft in den USA.
Diese Romantisierung und Projektion ist offensichtlich in den Kommentaren zu Aktivitäten von Subkulturen, wovon der Autor klar nicht Teil ist (zum Beispiel den Essay, den Ill Will zu Auto-Rowdies veröffentlichte). Sie behandelt die Beteiligten oft wie heroische Erneuerer, welche die neuesten Taktiken für den kommenden Aufstand entwickeln. Diese Kommentare sind anmassend und fühlen sich stark wie anthropologische Studien an. Während die Appellisten eine Identität (jene des Partisanen [9]) auf anonyme Gesetzesbrecher projizieren, können Anarchisten von anderen Rebellen lernen, ohne es nötig zu haben, sie zu etikettieren oder ihre Aktionen innerhalb unserer eigenen Strategie lesbar zu machen.
Das Verlangen nach Herabsetzung der Wichtigkeit von Unterschieden bezüglich Rasse in den verschiedenen Kämpfen kann in der Tendenz vieler appellistischen Autoren zur Unterordnung von Rasse unter Klasse in einem Argument für Einheit erkannt werden. Es ist offensichtlich im Essay von Inhabit „Kenosha, I Do Mind Dying“, veröffentlicht auf Ill Will 2021. Der Autor versucht während des gesamten Textes, die Krawalle 2020 für schwarze Leben auf den Klassenkampf zurückzuführen, er ordnet die Bedeutung von Rasse jener von Klasse immer wieder unter, doch den Kern davon erreichen wir mit der Diskussion über Kyle Rittenhouse und dem Begriff von „Brudermord“ des Autors.
„In uns allen schlummert eine erschreckende Wut, eine Fähigkeit zur Gewalt, die sowohl durch ‚legitime‘ Kanäle wie Bullen und Militär als auch durch illegale wie Gangs und Milizen zum Ausdruck kommt. Es ist kein Zufall, dass die andere Seite dieser Fähigkeit zur Gewalt das brüderliche Prinzip ist, auf ihm basieren all diese Organisationen. Der Wunsch nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft ist im Kern der wahre Treiber dieser Gewalt: Leute sind bereit, zu töten, um sich zugehörig zu fühlen […] Kyle Rittenhouse repräsentiert den Ausdruck dieser suburbanen Verzweiflung durch die widerwärtige Fiktion des Kulturkampfes.
Die Überhöhung kultureller Unterschiede als politisch – oder gar ethnisch – ist vorteilhaft für die Eliten, denn, sollte Amerika mit dem durch sie ausgelösten Verderben zurechtkommen, könnten diese Hunderte von Millionen Schusswaffen womöglich neue Ziele finden. Sie würden es bevorzugen, dass wir einen Brudermord begehen, denn ein Bürgerkrieg zwischen links und rechts ist viel einfacher zu verwalten als die Möglichkeit, dass wir unter Umständen ihre Zivilisation im Endstadium verlassen könnten und unsere Arbeit gleich mitnehmen würden.“
Hier übersieht der Autor einige zentrale strukturelle Dynamiken, scheinbar um zugunsten einer Art Einheit mit Leuten auf der Rechten mit einer ähnlichen Klassenposition zu argumentieren. Im ersten Absatz diskutiert der Autor die Exekutionen von Schwarzen durch die Polizei sowie den Mord an Black-Lives-Matter-Demonstranten durch Rittenhouse so, als ob sie das Gleiche wären wie die Gewalt von Gangs unter den ärmsten und rassistisch am meisten unterdrückten Bevölkerungen im Land. All diese Beispiele von Gewalt, so deutet es der Autor an, seien schlichtweg durch einen Wunsch nach „Zugehörigkeit und Gemeinschaft“ motiviert. Das bedingt, dass er die komplett verschiedenen Umstände diesbezüglich übersieht, zum Beispiel, dass die Polizei (und die Polizeigewalt) zum Schutze der staatlichen Kontrolle über seine Bevölkerung existieren und, genau wie Rittenhouses Morde, zur Aufrechterhaltung eines Regimes sowohl rassistischer als auch wirtschaftlicher Unterordnung.
Am Ende des Tages, so wird angedeutet, seien wir alle Brüder und unser Bürgerkrieg zwischen links und rechts ist etwas, dass wir überwinden sollten, damit wir gemeinsam den Kapitalismus zu Fall bringen können. Dieser Essay artikuliert eine Vision einer Einheit zwischen links und rechts, die in appellistischen Medien häufig wiederkehrt; jemand aus dem Umfeld der Vitalist International stellte zum Beispiel beiläufig eine Gadsden-Flagge in einem sehr kuriosen Solidaritätsvideo zur Schau, das an jene gerichtet war, welche in Hongkong kämpften. Die VI tweetete auch Folgendes über einen von Patriot Prayer am Kapitol von Oregon State in den Wochen vor dem 6. Januar 2021: „Da Demonstranten sich Scharmützel mit der Polizei liefern, um am Kapitol eine autonome Zone zu errichten, könnte die Polarisierung von links und rechts hin zu oben und unten umschwenken […] Können ‚Patrioten‘ die Identitätspolitik hinter sich lassen und gemeinsame Sache mit anderen ausgebeuteten Leuten machen?“
Es ist interessant, hier den Gebrauch des Begriffes „Identitätspolitik“ zu unterstreichen. Es könnte auch ein Zitat vom Anführer von Patriot Prayer Joey Gibson sein, der 2018, als er danach gefragt wurde, sein Verhältnis zu weissen Nationalisten zu erklären, sagte: „Ich würde das Gleiche zu ihnen sagen wie zu jeglicher schwarzen oder mexikanischen nationalistischen Gruppe, wir müssen die politische Identität hinter uns lassen und uns auf den Kern konzentrieren.“ Argumentiert die VI wie Gibson, dass weisser Nationalismus nur eine weitere Spielart von Identitätspolitik ist? Gewisses linkes Engagement mit Fragen der Identität muss aus anarchistischer Sicht natürlich heftig kritisiert werden, aber wenn man keinen Unterschied zwischen weissem Nationalismus und linker Identitätspolitik erkennen kann, hat man definitiv einige wichtige Details zur Funktionsweise von Rasse und Macht in Amerika übersehen.
Vielleicht ist die VI tatsächlich verwirrt aufgrund von Gibsons Behauptungen, Patriot Prayer sei bloss eine Gruppe, die sich für „Liebe und Frieden“, „Freiheit“ und Jesus einsetze, doch die Verbindungen zwischen Patriot Prayer und expliziter faschistischen Gruppen ist alles andere als ein Geheimnis. Lange vor der Kundgebung 2020 vor dem Kapitol von Oregon State haben Antifaschisten ausführlich dokumentiert, wie Patriot Prayer Anhänger der weissen Vorherrschaft und Neonazis in ihren Rängen willkommen heisst. Hinzu kommt, dass das appellistische Bedürfnis, jedem gesellschaftlichen Konflikt ihre eigenen Ideen aufzudrücken (z.B. die Beschreibung des Krawalls am Kapitol von Oregon State als „eine autonome Zone am Kapitol“) zu einigen störenden Auslassungen hinsichtlich der tatsächlichen Dynamiken vor Ort führt. Weit davon entfernt, antistaatliche Rebellen zu sein, sind Gibson und seine Gruppe Patriot Prayer eher regelmässige Kollaborateure lokaler Polizeibehörden. Sie sind bekannt dafür, Informationen über Antifaschisten der Polizei von Portland zukommen zu lassen und Antifaschisten physisch den Bullen der Aufstandsbekämpfung während Kundgebungen von Patriot Prayer zu übergeben. Dass „Patrioten“ und die Polizei auch wiederholt aneinandergeraten sind, ändert nichts an der Tatsache, dass das Projekt ersterer schlichtweg die Verteidigung einer anderen (faschistischeren) Vision des Staates ist, und nicht eine Infragestellung der Staatsgewalt. Während der blutigen Geschichte des 20. Jahrhunderts kämpften die Faschisten auf der Strasse häufig gegen die Polizei. Das hat aus ihnen nie unsere Freunde gemacht.
Anderswo bezogen sich Appellisten auf Gefühle, die, falls nichts rechtsaussen, so zumindest Markenzeichen des amerikanischen Patriotismus sind. In Ill Wills „The Next Eclipse“ steht, dass „Amerika – obwohl voller Mängel und unvollständig verwirklicht – untrennbar von einer inspirierenden Vision menschlichen Fortschritts war“. Mitglieder des Kollektivs Woodbine hielten es 2012 für angebracht, amerikanische Flaggen an einen Protest nach dem Mord an Trayvon Martin mitzubringen. Woodbine flirtete auch mit dem Dritten Weg in ihrem Text „Nomos of the Earth“ (2014), wo sie die Theorien des Nazijuristen Carl Schmitt als zentralen Bezugspunkt ohne jegliche kritische Distanz benutzten.
Während der Kapitalismus freilich von rassistischen und kulturellen Spaltungen innerhalb wirtschaftlich unterdrückter Klassen profitiert, ist die Idee, dass Rassismus nur als Werkzeug des Kapitalismus existiert, heutzutage weitgehend überholt und anstössig. Kommen wir zurück auf „Kenosha, I Do Mind Dying“, der Autor dieses Texts vermeidet es von Klasse im traditionell kommunistischen Sinne zu sprechen, stattdessen benutzt er den Begriff „die Eliten“, womit letztendlich eine alte Idee wieder aufgewärmt wird. Die Weigerung jener von uns, welche gegen alle Unterdrückung und für totale Befreiung kämpfen, Leute wie Rittenhouse als „Brüder“ zu betrachten, ist nicht nur ein historischer Fehler, der die potenzielle Vereinigung der Arbeiterklasse vereitelt hat. Wir sollten aus Prinzip nicht mit Rassisten sympathisieren, doch sogar, wenn wir strategisch denken, waren rassistische Bürgerwehren stets ein fester Bestandteil der Aufrechterhaltung dieses Landes, das wir zu zerstören versuchen.
Der Appellismus hat einige sehr starke populistische Untertöne; wie wir gesehen haben, ist seine Obsession, zu „normalen“ Leuten zu sprechen, gleichbedeutend mit der Übernahme der Sprache des Liberalismus, des Patriotismus oder der reaktionären Rechten. Gleichzeitig können fast alle und alles Teil der Imaginären Partei sein. Dies führt zu einer unkritischen Unterstützung für eine Reihe von populistischen Bewegungen, während ihre reaktionären Elemente schöngeredet werden.
Man betrachte zum Beispiel einen anderen Text von Woodbine über die Maidan-Bewegung in der Ukraine 2014:
„In seiner sonderlichen tarngrau und eisblau gefärbten Tonalität ist der Maidan bloss die jüngste Ausführung dessen, was wir in den letzten Jahre gesehen und wovon wir Teil waren, es manifestiert sich in verschiedenen Sprachen, an verschiedenen Orten […] In Anbetracht dieser unglaublich Sequenz von Aufständen verfehlt die Frage ‚Wer sind die Aufständischen? Sind es die Arbeiter, nein, es ist die Mittelklasse, die Armen, halt, wo sind die Armen? Die Weissen, die Schwarzen, nein, halt, wo sind die schwarzen Leute?‘ das Thema gänzlich, sie behandelt eine Situation als ein Objekt, das beurteilt werden muss, lebendige Wesen als eine Masse von Subjekten […]
Was sich heute weltweit entfaltet – was man in den Augen des jungen Mannes sieht, der gerade vom Maidan zurückgekommen ist, im Grinsen mitten im Tränengas, das den Taksim-Platz Nacht für Nacht gefüllt hat, in den Fussballvereinen, die Kairo verteidigen, in dir oder mir im Zucotti Park um vier Uhr morgens, im Jugendlichen, den wir dort, da er es auf Reddit gesehen hat und einfach gehen musste, auf dem Weg zur Verteidigung des Parks getroffen haben, in diesen Frauen, die dem Begriff Cocktailparty eine gänzlich neue Bedeutung geben – das ist absolut einzigartig. Somit historisch. Somit alltäglich.“ [10]
Sowohl der Maidan als auch Occupy waren komplizierte und häufig widersprüchliche Momente gesellschaftlicher Aufruhr. Jede Bewegung erhielt mehr oder weniger sowohl emanzipatorische als auch reaktionäre Interventionen und Einflüsse. Wir können begeistert sein vom heftigen Widerstand der Demonstranten auf dem Maidan gegen massive staatliche Gewalt oder von den neuen Möglichkeiten für die Selbstorganisation und den Angriff, die in einigen Gefilden der amerikanischen Occupy-Bewegung ausgearbeitet worden sind, doch es wäre verantwortungslos, nicht auch die in beiden Bewegungen präsenten reaktionären Elemente zu untersuchen. Die Beteiligung der Neonazis an der Maidan-Bewegung oder die tendenziell nebulöse Rhetorik Occupys gegen die Eliten, um Elemente der Reaktion und der äusseren Rechten anzuziehen, sollten nicht nur störend sein, sondern uns auch dazu motivieren, anarchistische Visionen der Freiheit, die solchen Feinden keinen Platz lassen, zu artikulieren und gemäss ihnen zu handeln.
Leider scheinen die Appellisten selten an dieser Art der kritischen Beteiligung an gesellschaftlichen Kämpfen interessiert zu sein. Für sie „verfehlt“ so etwas „das Thema gänzlich“. Der gleiche populistische Impuls, alles und alle unter ihre Commons, ihrer wie auch immer gearteten Singularität oder ihrer Partei zu subsumieren, führt nicht nur zu einer Auslöschung der gesellschaftlichen Stellung, sondern auch einer Gleichgültigkeit gegenüber bedeutenden politischen Unterschieden. Jene von uns, welche den rassischen Kapitalismus und die Klassengesellschaft vollständig zerstören wollen, und die Faschisten, welche uns lieber tot sehen möchten, haben nichts gemeinsam.
Ein weiteres Beispiel der unbefriedigenden Art und Weise, wie sich Appellisten und viele ihrer kommunistischen Gefährten auf die gesellschaftliche Stellung in den USA beziehen, ist der Begriff der „Partei von George Floyd – die Zusammensetzung, die sich im Aufstand 2020 manifestierte“, der die Organisation Spirit of May 28 jüngst populär zu machen versuchte. Die Organisation, die sich in der Zwischenzeit aufgelöst hat, benutzte den Namen eines schwarzen Mannes, der von der Polizei ermordet worden ist, als Markenzeichen ihrer Partei und etikettierte den darauf folgenden Aufstand als ein Beispiel ihres eigenen präexistierenden Bezugsrahmens, statt zu versuchen, die Bewegung für schwarze Leben und gegen die Polizei in ihren eigenen Begriffen zu verstehen. Die Schriften der Organisation suggerieren, dass ihre Mitglieder von armen und schwarzen Bevölkerungen erwarten, in den USA eine neue „revolutionäre Öffnung“ anzubieten, eine Erwartung, die dafür bestimmt ist, noch mehr rassistisch aufgeladenes Ressentiment und Enttäuschung zu verursachen [11].
Die Praxis: Zwischen Vereinnahmung und Autoritarismus
Appellisten sind häufig in die gleichen Kämpfe oder Szenen involviert wie Anarchisten, aber ihre Praktiken sind inkompatibel mit dem Anarchismus. Es ist nicht unser Ziel, alle, die unter Umständen von ihren Ideen beeinflusst sein könnten, als Appellisten zu etikettieren, sondern eher jene zu kritisieren, welche wie verdeckte Politiker agieren und gemäss der uralten Logik operieren, wonach der Zweck die Mittel heiligt. Wir beziehen uns hier auf jene, welche einem das erzählen, was sie glauben, dass man es hören will, dann weitergehen oder sehr vage werden, wenn die Diskussion beginnt, zu stark anarchistische Ideen zu berühren, womit ihre Entfernung von anarchistischen Prinzipien für viele Leute zuerst nicht leicht bemerkbar ist. Basierend auf unserer Erfahrung betrachten die Appellisten Anarchisten in den meisten Fällen verächtlich als naiv und schauen auf sie herab [12], sie bezeichnen die Zusammenarbeit mit ihnen als eine ihrer vielen „unheiligen Allianzen“.
Der Anarchismus ist für den appellistischen Mythos zentral. Der Appellismus präsentiert sich selbst als die logische Entwicklung des Anarchismus, den sie als jugendliches Sprungbrett für ihre reiferen strategischen Schlussfolgerungen betrachten. Die Geschichte geht etwa so: Wir versuchten den Anarchismus, bis es klar wurde, dass er nicht „funktioniert“, d.h. uns nicht zu jener Art von Sieg führt, welche sich die Appellisten zu eigen gemacht haben. Dieses Narrativ zieht Leute an, häufig mit akademischem und aktivistischem Hintergrund, die bereit sind, Kompromisse einzugehen, um Resultate zu erzielen. Im Text „How to Start a Fire“ erklären die Autoren, dass sie, nach vier Jahren gemeinsamem „Machtaufbau“, erkannt haben, dass „die uns angebotenen politischen Identitäten – Anarchist, Umweltaktivist, Marxist, Sozialist – für einen überholten historischen Moment konstruiert worden sind. Während Jahrzehnten haben sie sich nicht die Mittel gegeben, um tatsächlich zu kämpfen. Wir lassen jenen Tross, welcher uns geschwächt hat und eine Bürde war, hinter uns, aber halten an dem fest, was uns Kraft gegeben hat.“
Appellisten reduzieren den Anarchismus, manchmal explizit und manchmal eher subtil, auf eine blosse zusätzliche beschwerliche „Identität“, die nur zu „Ohnmacht“ [13] und „Purismus“ führen kann, ein Hindernis für eine wirksame Strategie. Diese theoretische Gymnastik ist notwendig, um die für anarchistische Perspektiven grundlegende Ethik hinter sich zu lassen. Ohne den „Tross“ einer „Identität“ sind sie frei, mit den Massenmedien zu sprechen, als Protestordner (Atlanta) zu agieren, die Spitze der Gentrifizierung von Ridgewood (NY) mit einem Yuppie-Kaffelokal zu bilden, konfrontative Kämpfe in Verhandlungen mit dem Staat zu kanalisieren, sich hierarchisch zu organisieren oder für den Stadtrat zu kandidieren wie der Autor von Ill Will Nicholas Smaligo [14]. Man weiss auch von Anarchisten, die einige solche Dinge getan haben, deshalb geht es in diesem Text nicht nur um Appellismus, sondern auch um die Entwicklung ehrlicherer und kohärenterer Praktiken als Anarchisten. Es gibt einen grossen Unterschied zwischen dem vehementen Festhalten an der Möglichkeit der Autonomie und dem Schwenken des Anarchismus als eine „identitäre Fahne im Markt der revolutionären Prozesse“ [15].
In Wirklichkeit sind die einzigen wertvollen Erkenntnisse, die in den appellistischen Schriften zerstreut sind, wie das Blut der Vampire von der anarchistischen Tradition ausgesaugt: informelle Organisation, Autonomie, Betonung auf der Logistik und den Infrastrukturen der Herrschaft usw. Im ersten Teil diskutierten wir darüber, wie der appellistische Fokus auf dem Aufbau von Infrastruktur, etwas, das auf den ersten Blick scheinbar unseren Zielen ähnelt, in Tat und Wahrheit dazu tendiert, bestehende, für das kontinuierliche Funktionieren des Staates grundlegende rassistische und koloniale Beziehungen zu Land und Orten zu stärken. Darüber hinaus tendiert der appellistische Ansatz dazu, sich vom Horizontalismus anarchistischer Praktiken wie gegenseitiger Hilfe zu entfernen. Während Projekte gegenseitiger Hilfe zum Ziel haben, Ressourcen als Teil des Aufbaus vertrauensvoller Beziehungen im Verlauf eines gemeinsamen Kampfes zu teilen, tendieren Appellisten dazu, materielle Ressourcen und den Zugang zu ihnen in den Händen eines Individuums oder einer Gruppe zu konzentrieren. Damit verschaffen sie sich eine Position als Türhüter materieller Ressourcen, um ihre eigene dominante Stellung in Schlüsselmomenten gesellschaftlicher Kämpfe zu garantieren.
Appellisten streben auch nach Macht und Kontrolle durch die Identifikation von Anführern und jenen in Machtpositionen in liberalen Nichtregierungs- und legalistischen Organisationen und der unsichtbaren Organisation mit ihnen, d.h. unter Anführern (eine Methode, die durch die Theorie der Zusammensetzung gerechtfertigt wird). Indem sie diese Verbindungen auf Räume beschränken, wo sie die gesellschaftliche, politische und Entscheidungsmacht innehaben, benutzen Appellisten diese Räume scheinbar horizontaler Begegnung, um ihr Programm zu bestätigen und ihre Macht zu vergrössern, während sie jegliche Räume der Entscheidungsfindung delegitimieren, wo sie nicht die Macht haben.
Dieses Streben nach Macht bedeutet auch, dass viele ihrer Praktiken von optischer Symbolik angetrieben werden, einem Bedürfnis, den Kampf den Medien und „der Öffentlichkeit“ als legitim und/oder spektakulär zu präsentieren. Das ist teilweise der Tatsache geschuldet, dass die Strategie der Zusammensetzung die Rekrutierung einer grossen Anzahl Leute impliziert, doch es suggeriert uns auch, dass ihr Verlangen nach Macht dazu führt, dass sie bezüglich gewisser Prinzipien übermässig kompromissbereit sind. Dieses Interesse an optischer Symbolik und öffentlicher Legitimität führt häufig dazu, dass sie sich weit vom Projekt des Aufbaus von Autonomie gegenüber den gesellschaftlichen Herrschaftsinstrumenten (wozu die Medien und die Spektakularisierung von Kämpfen gehören) entfernen.
In Frankreich spitzte sich diese Inkompatibilität zwischen dem anarchistischen Streben nach Autonomie und dem appellistischen Verlangen nach Macht und Legitimität während einem kritischen Moment im Kampf um die Verteidigung des als ZAD („zu verteidigende Zone“) von Notre-Dame-des-Landes bekannten Territoriums zu. In diesem Fall agierten die Appellisten hinter dem Rücken anderer Verteidiger der ZAD, drängten auf einem Deal mit dem Staat, um legal Land zu erwerben, und machten die Arbeit der Bullen an seiner Stelle, indem sie die Verteidigungseinrichtungen der Zone selbst als eine Geste des Vertrauens abbauten, um den Weg für Verhandlungen zu öffnen (und gleichzeitig für die Polizei die Strasse freizumachen, damit sie das Territorium überfallen konnte, was sie auch in den folgenden Tagen tat). Wie wird es in den USA aussehen, jetzt, wo die Appellisten, welche den Ausgang der ZAD als „Sieg“ [16] verkünden, bekanntermassen präsent sind in einigen bedeutenden, breiten Kämpfen?
Wie wir in diesem Teil diskutiert haben, werden appellistische Ideen implementiert durch ein breites Spektrum an autoritären Verhaltensweisen und verdeckt hierarchischen gesellschaftlichen Abmachungen, die sie vor Kritik schützen und die ideologische Grundlage verschleiern, auf welcher sie operieren [17]. Die Idee der „Undurchsichtigkeit“ wird typischerweise als eine Fetischisierung der Normativität und Respektabilität umgesetzt, das Resultat davon sind Räume, wo gesellschaftliche Normen wie Frauenfeindlichkeit und Missbrauch ungehindert fortbestehen können. Diese Verhaltensweisen beschränken sich nicht auf Appellisten, sondern sie werden von Manipulatoren und Managern aller Couleur reproduziert. Das spezifische Wesen des appellistischen Autoritarismus, der nach aussen subtil ist, aber explizit entwickelt wird, macht sie jedoch besonders erfolgreich im Einschmuggeln solcher Verhaltensweisen und Abmachungen in antiautoritäre Räume.
Der relative Mangel an (jüngerer) anarchistischer Analyse in den USA hat eine Lücke geöffnet, welche die Appellisten schnell gefüllt haben. Wir denken, dass es wichtig für uns ist, keine appellistischen Schriften neu zu veröffentlichen oder zu verteilen (ausser mit der Absicht, sie kritisch zu analysieren) oder zu ihren Projekten beizutragen, damit ihnen keine zusätzliche Legitimität gegeben wird oder sie nicht weiterhin in anarchistischen Räumen rekrutieren können. Häufig scheinen Leute, mit denen wir gesprochen haben und die appellistische Texte verteilen oder lesen, die Theorie zu schätzen, ohne notwendigerweise die damit verbundenen Praktiken zu befürworten. Wir möchten die Leute dazu ermutigen, die von Autoren aus Analysen gegenwärtiger Situationen gezogenen Schlussfolgerungen und die praktischen Implikationen derselben aufmerksam zu betrachten. Man braucht keine glänzende Homepage, um Schriften zu veröffentlichen, und Anarchisten sollten ihre eigene Infrastruktur für Druck und Vertrieb aufbauen.
Stattdessen...
Anarchistische Ideen können nicht durch ein einfaches Programm in die Praxis umgesetzt werden, doch das ist Teil dessen, was wichtig ist bezüglich Anarchie. Anarchie ist eher eine Reihe von Fragen, die wir durch unsere alltägliche Leben und unsere Kämpfe gegen Autorität und Unterdrückung tragen – das wird häufig „Projektualität“ genannt, im Gegensatz zu „Strategie“, denn Strategie ist ein Begriff, auf den man sich häufig beruft, um die Notwendigkeit zu bezeichnen, die Mittel für den Zweck zu opfern oder die Aktionen anderer Leute zu manipulieren.
„Der wesentliche Unterschied zwischen einer Einfluss nehmenden, aufständischen Minderheit und einer Avantgarde- oder populistischen Gruppe ist, dass die erstere ihre Prinzipien und horizontalen Beziehungen zur Gesellschaft wertschätzt und versucht, ihre Prinzipien und Modelle zu verbreiten, ohne sie als Besitzstand zu wahren. Eine Avantgarde hingegen versucht, diese zu kontrollieren – sei es durch Zwang, Charisma oder das Verbergen ihrer wahren Ziele. Eine populistische Gruppe bietet einfache Lösungen und nährt aus Angst vor Isolation die Vorurteile der Massen […] Die Einfluss nehmende Minderheit wirkt durch Resonanz, nicht durch Kontrollen. Sie nimmt Risiken auf sich, um inspirierende Modelle und neue Möglichkeiten zu schaffen und um bequeme Lügen zu kritisieren. Sie genießt keine wesenhafte Überlegenheit, und auf die Annahme einer solchen zurückzufallen, würde zu ihrer Isolation und Irrelevanz führen. Wenn ihre Schöpfungen oder Kritiken niemand inspirieren, wird sie keinen Einfluss haben. Ihr Zweck ist nicht, Anhänger zu gewinnen, sondern soziale Gaben zu schaffen, die andere Menschen frei nutzen können.“ [18]
Eine derartige Betrachtung unserer Projekte ist viel schwieriger, aber sie gibt uns die Werkzeuge, um kritisch zu denken und für uns selbst zu handeln. Individuen und Kollektive, die sich auf diese Art und Weise selbst ermächtigen, sind zentral für den letztendlichen Erfolg des anarchistischen Projekts, das von der Fähigkeit der Leute abhängt, nuanciert und kritisch zu denken. Es erlaubt eine präzisere Einschätzung der Welt um uns herum und unserer Rolle darin, was viel wirksamer ist, als die Beschönigung gewisser Realitäten, um die Welt weniger verwirrend zu machen und einfachere Handlungsmöglichkeiten zu finden.
Einige Fragen, die wir uns selbst stellen könnten, während wir unsere Opposition gegen Autorität in all ihren Formen im Gedächtnis behalten, sind folgende:
- Wie stellen wir uns die potenzielle Wirkung unserer Projekte vor? Inwiefern bewegt sich mein bestimmtes Projekt in Richtung Anarchie, Aufstand und kollektiver Befreiung?
- Wie können wir Praktiken der Fürsorge, Beziehungen und Kollektive entwickeln, die uns Stärke in unseren Differenzen finden lassen, statt nach Gemeinsamkeit durch falsche Homogenität zu streben?
- Welche Projekte und Beziehungen können wir aufbauen, die rassialisierte und subkulturelle Spaltungen zwischen verschiedenen aufständischen Gruppen unterminieren, während wir trotzdem rassistische und andere fortbestehende unterdrückende Dynamiken berücksichtigen?
- Wie sieht es aus, wenn man auf Momente jenseits des Aufstands ausgerichtet ist, wenn es nicht mehr um die Verteidigung der Barrikade, sondern um ihren Nachschub geht? Wie beeinflusst die Vorbereitung auf diese Phase unseren Ansatz in der Gegenwart?
Die Struktur als „Imaginäre Partei“ der Appellisten bedeutet, dass jenen unten, welche die Anführer in dem, was sie tun, unterstützen, faktisch nicht die gesamte Strategie anvertraut wird. Während diese Anführer unter Umständen Respekt einflössendes Charisma und einen Sinn für Organisation ausstrahlen, werden viele in ihrem Milieu auch den gleichen Frustrationen begegnen, wie sie in traditionell linken Organisationsräumen präsent sind: Hierarchie, Mangel an Handlungsfähigkeit, befremdende Normalität, sexuelle Gewalt und andere Formen der Unterdrückung. Genau wie Anarchisten oft versuchen, in linke Rekrutierungsanstrengungen durch die Vermittlung von Kritik an die Basis und das Aufzeigen einer Alternative durch unsere eigenen Projekte zu intervenieren, können wir das gleiche mit jenen tun, welche in die Imaginäre Partei eingeweiht werden. Während wir dazu ermutigen, autoritäre Praktiken und die Macker des appellistischen Milieus abzulehnen, lassen wir es die Leser entscheiden, wie sie mit dem Rest dieser Netzwerke umgehen wollen.
Indem wir jene Prinzipien identifizieren, die für eine anarchistische Ethik grundlegend sind und auf dieser Grundlage mit anderen zusammenarbeiten, können wir unsere Kämpfe für jene mit autoritären Ambitionen unwirtlich machen, seien es Appellisten, Tankies oder Liberale der DSA.
Literaturverzeichnis
„Another Word for Settle: A Response to ‚Rattachements‘ and ‚Inhabit‘“, 2021 (zur appellistischen Strategie als Ausläufer des Siedlerkolonialismus).
„Decisions, Compositions, Negotiations“ in Decomposition: For Insurrection Without Vanguards, 2023 (für einen genaueren Blick auf die Logik und die Praxis der Zusammensetzung).
Breaking Ranks: Subverting the Hierarchy and Manipulation Behind Earth Uprisings, 2023 (für eine weiterführende Diskussion über manipulative und avantgardistische Praktiken, die Spektakularisierung des Kampfes und die Benutzung Radikaler als Schocktruppen).
„Blanqui oder die staatliche Insurrektion“, 2011 (zur Zurückführung der Perspektive des autoritären Insurrektionalismus auf ihren Ursprung).
Übersetzt aus dem Englischen von Kommunisierung.net
[1] Die Formulierung „Partei des Aufstands“ wird im Vorschlag 14 des Comité d’occupation de la Sorbonne en exil (2006), in Les mouvements sont faits pour mourir (2007), „The Kazakh Insurrection“ (Ill Will Editions, 2022), „Civil War, Dialectics, and the Possibility of Revolution“ (Spirit of May 28, 2023) und „On Destituent Power“ (Tronti, Ill Will Editions, 2022) benutzt.
[2] „Die territoriale Autonomie, wenn sie als Strategie für die Zerstörung des Kapitalismus und des Staates betrachtet wird, beinhaltet die langfristige Arbeit der Entwicklung von Zonen, wo Bullen nicht hingehen können, wo man die Mittel zur Erhaltung und Reproduktion der dort Lebenden finden kann, wo eine grosse Gruppe engagierter und miteinander verbundener Leute jeden Alters die Mittel und das Bedürfnis hat, dieses Territorium zu verteidigen, über Generationen hinweg. Wir können dorthin schauen, wo dies schon während Hunderten von Jahren gemacht worden ist, um Beispiele zu sehen: das Territorium der Wet’suwet’en, Elsipogtog, Barriere Lake, Six Nations, Tyendinaga, Kahnawá:ke und Kanehsatà:ke. Nicht-indigene Gemeinschaften haben das nicht während Hunderten von Jahren gemacht und bei weitem nicht – wir beginnen bei null und auch wenn die Priorisierung unserer eigenen territorialen Autonomie als ethisch erscheinen mag, wäre es wahrscheinlich nicht von strategischer Bedeutung, denn Siedlergemeinschaften in einer Siedlergesellschaft stehen viel weniger in strukturellem Konflikt mit dem kolonialen System. Es macht uns nicht schwächer, den Kampf für die territoriale Autonomie von Gemeinschaften, von denen wir nicht Teil sind, zu priorisieren. Es macht uns stärker, wenn wir dadurch Beziehungen aufbauen, die zu revolutionären Zusammenhängen beitragen, in welchen die Ziele revolutionärer Netzwerke der Siedler mit jenen antikolonialer indigener Gruppen konvergieren.“ „Another Word for Settle: A Response to ‚Rapprochements‘ and ‚Inhabit‘“, 2021.
[3] Aus Der kommende Aufstand (2007): „Sogar in den endlosen Subventionen, die viele Eltern ihrem proletarisierten Nachwuchs zu zahlen gezwungen sind, gibt es nichts, was nicht zu einer Art Mäzenentum für die soziale Subversion werden könnte.“ Aus „The Next Eclipse“ (2018): „Eine Kleinbrauerei oder eine Eisbude mit eigener lokaler Produktion können Partisanenprojekte sein.“Aus „How to Start a Fire“ (2017): „Erwerbt Eigentum. Macht ein Piratenradio. Stellt Kochherde her. Lernt kochen. Lernt Sprachen. Erwerbt Waffen. Eröffnet Food Trucks und Geschäfte. Besetzt Häuser. Eröffnet Cafés. Imbisse. Restaurants. Pizzabuden. Buchhandlungen […] Das Familienhaus am See kann dafür genutzt werden, dass Hunderte für ein sommerliches Strategietreffen dort schlafen. Langsam wächst etwas.“
[4] Der Begriff „links“ kommt von der parlamentarischen Unterteilung (in europäischen und anderen Ländern) zwischen rechts und links unter den gewählten politischen Repräsentanten. Die Linke in den USA ist in ähnlicher Weise in die Mechanismen und Perspektiven eines radikalen Flügels einer solche Repräsentanten mit einschliessenden politischen Tendenz eingebettet. Als solche beinhaltet die Linke häufig Allerweltsorganisationsansätze, sowie eine Tendenz, Kämpfe verwalten und kontrollieren zu wollen, was letztendlich gewöhnlich zu Konflikten mit den emanzipatorischeren Prinzipien des Anarchismus führt. Wir lehnen die Einschliessung des Anarchismus in die Linke ab, um uns klar von dieser Art von kompromittierten und verwaltenden Tendenzen zu unterscheiden.
[5] „Decisions, Compositions, Negotiations“, 2023.
[6] „[W]as der Staat keinesfalls dulden kann [ist], dass Singularitäten eine Gemeinschaft bilden, ohne eine Identität einzufordern, dass Menschen mit-angehören ohne eine darstellbare Bedingung der Zugehörigkeit […]“ Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft (1990), Berlin, Merve, 2003, S. 79.
[7] Ebd., S. 80.
[8] Siehe zum Beispiel Shemon Salams Werk, diskutiert in Fussnote 11.
[9] Partisan: Angehöriger oder Sympathisant einer Partei oder Fraktion.
[10] Woodbine, „The Anthropocene“ in Short Circuit. A Counterlogistics Reader, 2015.
[11] Mitbegründer Shemon Salam veröffentlichte jüngst einen öffentlichen Wutanfall in Form eines Essays, „Lost in the American Wasteland“, der von der antistaatlichen kommunistischen Zeitschrift Endnotes veröffentlicht worden ist und in dem die schwarze radikale Tradition desavouiert wird, weil sie die Revolution für ihn noch nicht gemacht hat. Siehe auch den Text von SM28 (geschrieben von Shemon und anderen) „Akron, Jayland Walker, and the Class War“, in welchem die Autoren Akron besichtigen, nachdem ein schwarzer Mann erschossen wurde, und sich darüber beklagen, dass danach nicht mehr Leute Krawall gemacht haben.
[12] Wie es ein Interviewter von SM28 formulierte: „Ich denke, der Anarchismus ist heutzutage total verwirrt und sollte aufgegeben werden […] Anarchismus ist hoffnungslos liberal.“
[13] Ein Zitat von „‚Gegen‘ den Anarchismus: Ein Beitrag zur Debatte über Identitäten“ (2018), veröffentlicht auf Lundi matin, die Hauptplattform des Appellismus in Frankreich, dessen Inhalt von Ill Will regelmässig übersetzt und veröffentlicht wird. Der Text theoretisiert: „Sich selbst Anarchist zu nennen oder jede andere revolutionäre Identität hilft uns überhaupt nicht, es vergrössert unser revolutionäres Potenzial nicht und hilft uns nicht, uns zu organisieren. Ausserdem isoliert es uns und macht uns zu einem einfachen Ziel für Repression. Ideologische Identitäten sind Säulen, auf die sich der Feind stützt, und es hängt von uns ab, sie hinter uns zu lassen.“
[14] Bloss einige abscheuliche Dinge, welche die Autoren bei Appellisten in Nordamerika beobachten konnten.
[15] „‚Gegen‘ den Anarchismus: Ein Beitrag zur Debatte über Identitäten“.
[16] Hugh Farrell, „The Strategy of Composition“, 2023. Wir wollen nicht zu den aufgeblasenen appellistischen Ideen darüber beitragen, welchen Einfluss ihre Theorien in Kämpfen wie Stop Cop City gehabt haben sollen, deren Dynamiken vor Ort übersteigen die Intelligentsia der Zusammensetzung und können nicht von ihr eingefangen werden. Wir wollen auch nicht nur das zitieren, was sie über sich selbst sagen, da es ihrem Tun eine übertriebene Bedeutung gibt. Spirit of May 28 ist zum Beispiel grössenwahnsinnig bezüglich des George-Floyd-Aufstands: „Keine andere politische Tendenz war fähig, im Kampf Fuss zu fassen, oder hatte viel Interessantes darüber zu sagen. In der Vergangenheit hatten wir zum Ziel, Begegnungsräume für verschieden Tendenzen aufzubauen. Aber heutzutage ist es klar, dass unsere Partei alleine dasteht.“ „Among Friends: Reflections After the George Floyd Uprising“, 2021.
[17] Einige dieser Verhaltensweisen werden sehr gut in einem Interview mit dem Titel „Conflict in Movement“ auf dem Final Straw Radio zusammengefasst.
[18] „Die Feuerrose ist zurückgekehrt! Der Kampf um die Strassen von Barcelona“, 2012.