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Federico Corriente - Über den Durchgang einiger Ultralinker durch eine relativ kurze Zeiteinheit: Die Ursprünge der Theorie der Kommunisierung
Sonntag 6. Juli 2025
Der „Vorwand“ für die Niederschrift dieses Artikels war die Veröffentlichung der Übersetzung des Buches von Jean-Yves Bériou (Mitglied von Négation) Revolutionäre Theorie und historische Zyklen (1973) auf Spanisch und das Projekt einer öffentlichen Präsentation. Das Thema hat sich allerdings sehr schnell ausgeweitet, zuerst auf die Thesen der Gruppe Négation im Allgemeinen und dann auf jene der Gesamtheit der französischen Ultralinken während der Periode 1972-1974.
Auf diesem Grab müssen wir bis zum letzten Stein auftürmen, denn in Gedanken erstehen die Toten wieder auf.C.L.R. James, Notes on Dialectics.
Die Rückkehr des Verdrängten
Vor gut einem Jahrzehnt war in Frankreich die Existenz von Gruppen wie Négation, Le Mouvement communiste oder Intervention communiste kaum bekannt, geschweige denn ihre Relevanz. Noch weniger hätte man sich vorstellen können, dass sie zu einem ‚Bruch in der Theorie der Revolution‘ beigetragen hatten, wie es der Titel einer Anthologie formuliert, in der sie 2003 erneut veröffentlicht wurden.
Damit diese Gruppen eine bessere Bekanntheit erlangen konnten, brauchte es die Hervorbringung auf internationaler Ebene 2008 einer „Strömung der Kommunisierung“, die sich schon stark von der alten französischen Ultralinken der 1970er Jahre unterschied und ihre Vorfahren und Wegbereiter der Vergessenheit entriss. Und das erklärt, wieso ein Text wie Revolutionäre Theorie und historische Zyklen – wovon eben genau eine der Hauptthesen das Schicksal revolutionärer Theorien hinsichtlich ihrer historischen Periode ist – heute auf Spanisch veröffentlicht wird.
Es sollte mittlerweile eine banale Feststellung sein, dass jeder grosse Schritt nach vorne der wirklichen Bewegung, abgesehen davon, dass er mehr wert ist als ein Dutzend Programme, uns erlaubt, die Gegenwart und die Vergangenheit neu zu betrachten. Die Erklärung ist simpel: Jede Periode revolutionärer Erneuerung ist, sei es auch nur auf flüchtige Art und Weise, durch die Herrschaft der Gegenwart über die Vergangenheit, der lebenden über die tote Arbeit charakterisiert. Was jedoch weit weniger bekannt ist, ist die Tatsache, dass sie auch immer Anlass für eine kräftige Rückkehr des Verdrängten gibt, nämlich für die Auferweckung – die an sich genauso legitim wie unvermeidlich ist – der „besten Momente“ des unmittelbar vorangehenden revolutionären Zyklus, deren Erben häufig eher gewillt sind, die ihm entsprechenden Lehren und Erkenntnisse zu übermitteln als jene zu sein, welche zuhören und etwas von der neu entstehenden Bewegung lernen.
Wenn ausserdem, wie es bis anhin die Regel war, der revolutionäre Aufschwung stecken bleibt oder mit einer Niederlage endet und deswegen „die vergangne Arbeit selbständig und übermächtig der lebendigen gegenübertritt“ [1], wird diese Rückkehr des Verdrängten unabwendbar dazu tendieren, zu einer Unterdrückungskraft des Bewusstseins zu werden, in würdigem Nachgang zu dieser von Marx zu Beginn des Textes Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte erwähnten „Tradition aller toten Geschlechter“, die „wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ lasten.
Eben genau in dieser bahnbrechenden Analyse der Konterrevolution nach der Niederlage des proletarischen Aufstands im Juni 1848 in Frankreich führt Marx eiligst, nachdem er daran erinnert hat, wie die Lebenden in einer Periode der revolutionären Krise „ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf[beschwören]“, das ein, was in seinen Augen bürgerliche und proletarische Revolutionen fundamental voneinander unterscheidet: „Bei Betrachtung jener weltgeschichtlichen Totenbeschwörungen zeigt sich sofort ein springender Unterschied […] Die Totenerweckung in jenen [bürgerlichen] Revolutionen diente also dazu, die neuen Kämpfe zu verherrlichen, nicht die alten zu parodieren, die gegebene Aufgabe in der Phantasie zu übertreiben, nicht vor ihrer Lösung in der Wirklichkeit zurückzuflüchten, den Geist der Revolution wiederzufinden, nicht ihr Gespenst wieder umgehen zu machen.“ Nachdem er die proletarischen Revolutionen, die „beständig sich selbst [kritisieren]“ und „grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche [verhöhnen]“, den bürgerlichen, die hingegen „der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen [bedurften], um über ihren eigenen Inhalt zu betäuben“, entgegensetzt, erstellt Marx jedoch keinen Kausalzusammenhang zwischen der Niederlage ersterer und den darauffolgenden ideologischen Auswirkungen – die noch schädlicher sind als jene der bürgerlichen Revolutionen – was zu seiner Zeit genauso verständlich war, wie dessen Nichtbeachtung heute unverzeihlich wäre.
Tatsächlich haben es, wie wir später sehen werden und trotz ihrer vergangenen Beiträge und ihrer mühseligen Anstrengungen, um sich nach 1968 auf den neuesten Stand zu bringen, weder die Repräsentanten der neuen „autonomen“ Ideologie der „Selbstverwaltung“, noch die mehr oder weniger bordigisierten Nutzniesser des Erbes der kommunistischen Linken der Periode 1917-1923 geschafft, sich den Auswirkungen dieses „Gesetzes“ der historischen Trägheit der Konterrevolutionen zu entziehen. Das führte sie nicht nur dazu, sich bezüglich der wahrhaften historischen Bedeutung ihrer Aktivität zu täuschen, sondern auch, jede der durch den erneuten revolutionären Aufschwung der Periode 1968 aufgeworfenen beunruhigenden Neuheiten energisch zu bekämpfen.
Der Bruch mit dem Rätekommunismus und dem Bordigismus
Heute hingegen sind jene Minderheiten, welche ihren konstanten Drang nach Kommunismus erkennen lassen, noch isoliert. Man findet sie hauptsächlich in den Ghettos der lebenslangen Arbeitslosen in den USA oder den nicht entwickelten Gebieten (Watts oder Madagaskar), unter den Delinquenten, die sich der Arbeit verweigern, aber durch gewaltsames Eindringen in die materielle Gemeinschaft des Kapitals zurückkehren.„Le Voyou se présente“ in Le Voyou, Nr. 1, März 1973.
Wenn man die „vorherrschende alternative Erzählung“ der „autonomen Kämpfe“ der 1960er und 1970er Jahre beim Wort nimmt, könnte man leicht zum Schluss kommen, dass der angebliche „Bruch“, wovon die französische Ultralinke ein Teil ist, nicht existiert oder höchstes eine weitere Episode des Bruches mit der „alten Arbeiterbewegung“ sozialdemokratischer oder leninistischer Prägung darstellt. Dieser ab Mitte der 1920er Jahre von der deutsch-holländischen rätekommunistischen Strömung theoretisierte Bruch ist danach von aus der Krise des Trotzkismus der Nachkriegszeit entstammenden Splittergruppen wie Socialisme ou barbarie in Frankreich oder der Johnson-Forest Tendency in den USA, sowie, auf mehr oder weniger unabhängige und eigene Art und Weise, vom italienischen Operaismus [2] wiederaufgenommen worden.
Dieses friedliche Bild einer Art ununterbrochener Radikalisierungsprozess, wenn es auch nicht total unbegründet sein mag, hat jedoch den grossen Nachteil, dass es die Konfrontation der französischen Ultralinken während der Periode 1968-1974, nicht nur mit den Repräsentanten des Rätekommunismus, sondern auch mit jenen der anderen grossen überdauernden Tradition der kommunistischen Linken, des „Bordigismus“, die nach 1968 dank Jacques Camatte und der Zeitschrift Invariance, aber auch dank der Aktivität „orthodoxerer“ Gruppen, gewissermassen wiederauflebte, unsichtbar macht.
Diese Sichtweise ist zudem häufig von einer Banalisierung der Bedeutung der von 1968 eingeläuteten Zeitenwende begleitet, sie wird reduziert auf eine allgemeine „Rückkehr der Revolution“ oder, im besten Fall, auf einen „zweiten proletarischen Angriff gegen die Klassengesellschaft“, dessen kritischer Inhalt in jedem Fall ausgeblendet wird, nämlich die Tatsache, dass die Rückkehr des Proletariats in den Vordergrund der Geschichte mit der Todeskrise seiner Affirmation und somit dem Verschwinden des Monopols „der Arbeiter“ auf die Revolution zusammenfällt.
Dass es sich weder nur um ein „subjektives“ oder „Bewusstseinsproblem“ noch um die simple Marcusesche „Integration“ der Arbeiterklasse durch den Konsum, sondern um den materiellen Ausdruck der Tatsache handelte, dass die kapitalistische Produktionsweise in eine qualitativ neue Phase eingetreten war, erkannten einige in den USA schon seit einer gewissen Zeit. Ab Mitte der 1950er Jahre setzte die amerikanische Automobilindustrie zur Untergrabung der Kapazität der Arbeiter, den beschleunigten Arbeitsrhythmen zu trotzen, massiv die Automatisierung ein. Dadurch schaffte sie es nicht nur, eine grosse Anzahl qualifizierter Arbeiter zu entlassen und die „Streikfreude“ der noch angestellten drastisch zu reduzieren, sondern sie legte gleichzeitig, indem sie gegen 1957-1958 der Absorbierung der urbanen schwarzen Arbeitskraft – ein Teil der Bevölkerung, deren Präsenz in der Industrie seit 1940 kontinuierlich gewachsen war – ein Ende setzte, die Grundlagen der Konstitution einer Klasse permanenter Arbeitsloser, die kurzfristig die „schwarze Frage“ in ein wahrhaftes Pulverfass verwandeln wird.
In einer Broschüre mit dem Titel Facing Reality analysiert die Gruppe Correspondence daher den „objektiven“ Aspekt der Automatisierung 1958 folgendermassen:
„Das Stadium der Massenproduktion durch Arbeiter an Fliessbändern nähert sich ihrem Ende. Das Fliessband selbst ist das letzte grosse Hindernis für die Automatisierung der Industrie. Das Wesen des Fliessbandes ist, dass es eine Nachfrage nach manueller Geschicklichkeit erschafft, während es diese gleichzeitig maximal durch das Förderband organisiert und kontrolliert. Das Wesen der Automatisierung besteht darin, die manuelle Geschicklichkeit komplett durch elektronische Befehle zu ersetzen […]
Die entscheidende Etappe ist in den 1950er Jahren abgeschlossen worden, als die Automatisierung sich in der Metallindustrie durchgesetzt hat. In den USA handelt es sich allen voran um die Automobilindustrie und dort entsteht der Begriff ‚Automatisierung‘ zur Beschreibung der Verbindung der Werkzeugmaschinen durch elektronische Befehle […]
Bis anhin initiierte jede neue technologische Etappe eine grössere Nachfrage nach Arbeitskraft. Nach jeder Krise, während welcher die alten Produktionsmittel ausrangiert worden sind, stieg der Bedarf an Arbeitskraft. Die Automatisierung ist jenes technologische Stadium, welches, unabhängig von der Masse der produzierten Güter und zum ersten Mal im Kapitalismus, keine zusätzliche Nachfrage nach Arbeitskraft schaffen wird.“
Einige Jahre später skizzierte James Boggs in The American Revolution (1963) – ein Buch, das in sechs Sprachen übersetzt worden ist und zur Spaltung der Gruppe Correspondence geführt hat – seine eigene Einschätzung des „subjektiven“ Aspekts dieses Prozesses:
„Es ist ebenfalls klar, dass die am besten organisierten Arbeiter des Landes, die ehemals gewerkschaftlich organisierten Schichten, die vom Aussterben bedrohte Gattung der in der direkten Produktion angestellten Arbeiter, gelernt haben, dass sie ab jetzt für künftige oder hypothetisch künftige Aktionen die Hilfe anderer Kräfte benötigen werden. Heutzutage muss das Problem der Kontrolle über die Produktion oder der Befriedigung konkreter lokaler Forderungen von breiten Schichten der Bevölkerung in die Hand genommen werden. Mehr als je zuvor sind diese Fragen heutzutage gleichbedeutend mit einer Konfrontation mit der Gewerkschaft, der Gemeinderegierung, der Regierung des Bundesstaates und der nationalen Regierung. Die Frage ist nicht, ob die Arbeiter revoltieren können oder nicht. Ein isolierter Arbeiter kann auch revoltieren. Aber die Arbeiter sind keine Dummköpfe. Genau wie die Arbeiter im Rest der Welt, und manchmal vielleicht sogar noch eher, wollen die amerikanischen Arbeiter auch gewinnen. Wenn sie kämpfen, wollen sie sicher sein, dass sie einen unmittelbaren Erfolg feiern können. Sie kennen die Struktur der Gesellschaft und wissen, dass sie sich, um gewinnen zu können, mit anderen vereinen müssen […]“
Aber seine Analyse bleibt hier nicht stehen und, abgesehen von der Frage, wer diese „anderen“ sein könnten und was sie zum revolutionären Prozess beitragen werden, zeigt er die einem Aufkommen einer solchen Konjunktur inhärenten Hürden auf:
„Es gibt schon Millionen junger Männer und Frauen, die nie Arbeit hatten und von der Hand in den Mund leben, entweder von der Wohltätigkeit oder der Kleinkriminalität, d.h. auf Kosten jener, welche arbeiten […]
Wir haben keine Illusionen bezüglich der Leichtigkeit der Verwirklichung der Einheit zwischen diesen Aussenseitern und jenen, welche noch im System sind, weil sie arbeiten. Wie wir es schon betont haben, trennen die gewerkschaftlichen Organisationen selbst die Lohnarbeiter von den Arbeitslosen und können für letztere nichts tun […] Das bedeutet, dass wir uns betreffend der notwendigen Veränderungen, des Zugangs zum radikalsten, d.h. tiefsten Denken, diesen Aussenseitern zuwenden müssen […].“ [3]
Die Thesen von Boggs sind nicht unbemerkt geblieben und es ist mehr als wahrscheinlich, dass sie Gruppen wie Négation und Invariance, deren Schriften Verweise auf Boggs und sein Buch enthalten [4], beeinflusst haben, Gruppen, die 1968 nicht als Signal für den Beginn einer neuen „revolutionären Epoche“ begreifen, sondern eher als Ende eines langen konterrevolutionären Zyklus, „denn die Konterrevolution beginnt selbst, ihre eigenen Grundlagen zu untergraben“ [5].
Für den mehr oder weniger orthodoxen Rätekommunismus und Bordigismus – deren Einschätzungen von 1968 sich übrigens radikal voneinander unterscheiden – beschränkten sich die Ereignisse in diesem Jahr im Wesentlichen darauf, die von ihnen seit mehreren Jahrzehnten verteidigten Thesen zu bestätigen, zudem erlaubten sie ihnen, ihr Publikum und die Verbreitung ihrer Ideologie beträchtlich auszuweiten. Anders gesagt, sie haben für sie keine neuen theoretischen Probleme aufgeworfen und ihren „konzeptionellen Rahmen“ nicht wesentlich verändert.
Die „Ultralinke“ ihrerseits hatte kaum Zeit, die Mängel und Anachronismen ihrer Vorgänger hervorzuheben, bevor sie mit jener revolutionären Erneuerung verschwunden ist, welche ihr Erstehen erst ermöglicht hatte, und hinterliess nur eine Handvoll Texte voller scheinbar extravaganter Behauptungen, in welchen die „revolutionären Organisationen“ mit mafiöser Schutzgelderpressung verglichen und die Politik und der Aktivismus als „konterrevolutionäre“ Aktivitäten bezeichnet werden… [6] Die Ultralinke, welche die traditionellen Parteien, Gewerkschaften und Organisationen im Visier hatte, ist so schnell verschwunden und hatte so wenig Einfluss, dass diese Organisationen es nicht einmal für nötig hielten, diese neue „Kinderkrankheit des Kommunismus“ explizit zu verurteilen.
Als aussagekräftiges Beispiel und anschauliche Illustration der angesprochenen „Exzesse“ – wenn man die konkrete Erfahrung ausser Acht lässt, auf welche sie sich beziehen – verdienen es diese Aussagen Bérious, zitiert zu werden:
„Die Theorie, welche immer Theorie einer historischen Bewegung ist, kann, wenn diese historische Bewegung unmittelbar konterrevolutionär ist, nur durch verschiedene Vermittlungen und Ideologisierungen revolutionär sein. Sie lebt nicht durch die Gnade der Geschichte, von der konterrevolutionären Wirklichkeit verschont, sie geht sogar so weit, dass sie diese in gewissen Aspekten ausdrückt; als Überlebende eines konterrevolutionären Zyklus wird sie übrigens zum Ausdruck der Konterrevolution während dem erneuten revolutionären Aufschwung: So wurden der Bordigismus oder der Rätekommunismus zu konterrevolutionären Ausdrücken der gegenwärtigen wirklichen Bewegung und sie werden sich schon bald aktiv an der praktischen Konterrevolution beteiligen.“ [7]
Diese konkrete Erfahrung ist nichts anderes als die Krise des Rätekommunismus, die Négation als Mitglied des Netzwerks der wichtigsten französischen rätekommunistischen Gruppe Informations et correspondance ouvrières (ICO) von innen erlebte. Nach 1968 wuchs die Mitgliederzahl von ICO von etwa 20 auf mehrere Hunderte verteilt über das ganze Land. Viele von ihnen – deren Positionen vom eher „orthodoxen“ Anarchismus bis zum Linkskommunismus oder klar von den Situationisten beeinflussten Ansätzen reichten – drückten schnell ihre zunehmende Unzufriedenheit gegenüber der in diesen Jahren beliebten Ideologie geprägt von Rätekommunismus und Selbstverwaltung aus, während es zu immer mehr wilden Streiks kam und die Arbeiter nicht die geringsten Bestrebungen zeigten, die Verwaltung der Produktion zu übernehmen.
Die Dinge beschleunigen sich als zu Beginn der 1970er Jahre in den USA immer mehr Presseartikel und soziologische Studien über eine unter der neuen Generation der Arbeiter stark zunehmende „Revolte gegen die Arbeit“ veröffentlicht werden. Gruppen wie Négation und Intervention communiste betonen, dass diese Kämpfe, neben der Tatsache, dass sie die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften untergraben – was Boggs schon als eine der Auswirkungen der Automatisierung unterstrichen hatte –, das klassische revolutionäre Programm der Arbeit und des Aufbaus einer „Arbeitermacht“ infrage stellen. So seien diese Praktiken weit davon entfernt, das Auftauchen einer „neuen Arbeiterbewegung“ anzukündigen, sie kündigen stattdessen das Ende sowohl der „alten“ als auch der „neuen“ Bewegung an. Von diesem Zeitpunkt an sehen Négation und ihre Weggenossen in der Verweigerung der Arbeit, den Krawallen und den wilden Streiks die Zeichen einer möglichen unmittelbaren und bevorstehenden Zerstörung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die sie als „Selbstnegation des Proletariats“ theoretisieren.
„[H]eutzutage wieder von Verwaltung zu sprechen, ist eine rein konterrevolutionäre Ideologie, und in den USA mehr als sonst irgendwo, denn in diesem Land sind die Produktivkräfte auf einem Niveau angekommen, wo die neuen, im Text ‚Contre-planning‘ beschriebenen Kampfformen erscheinen und sie fühlen sich offensichtlich nicht zur Verwaltung berufen; sie drücken die Kritik der total dem Kapitel unterworfenen Arbeit aus, genau wie die Räte die Verherrlichung einer Arbeit ausdrückten, welche damals noch eine relative Autonomie in ihrer Entwicklung hatte […] Auf das Bewusstsein des Produzenten (des gesellschaftlichen Reichtums) folgte das Bewusstsein des Proletariers (als Produzent des Mehrwerts) und der Inhalt der Kämpfe, jenseits ihrer ähnlichen Ursachen, hat sich verändert: früher strebten sie nach Verwaltung und waren positiv, sie sind nun immer zerstörerischer, rein negativ geworden.“ [8]
Die simultane Existenz von wilden Streiks – manchmal ohne Forderungen – und Krawallen von vom unmittelbaren Produktionsprozess ausgeschlossenen Proletariern, ohne dass man ein Zusammenfliessen der beiden Kampfformen sehen könnte, wirft das dringende Problem der konkreten Grenzen der laufenden Revolte auf, diese weitet sich immer mehr auf die ausserberufliche Sphäre aus – wie die Schule, das Gefängnis, die Familie oder die psychiatrische Klinik –, ohne jedoch die Reproduktion des Systems zu gefährden. Insbesondere betreffend der Krawalle sieht Négation eine unbestreitbare Manifestation des „Drangs nach Kommunismus“ und zeigt sowohl die Neuheit dieser Bewegungen als auch ihre Grenzen auf:
„Sofern es nicht zu einer verallgemeinerten Krise kommt, […] stellen diese Proletarier aufgrund des Lohndrucks die für die allgemeine kapitalistische Expansion notwendige industrielle Reservearmee dar; der grundlegende Unterschied betreffend diese gleiche Armee im 19. Jahrhundert ist allerdings die Tatsache, dass sie sich aufgrund des wegen der Entwicklung der Produktivkräfte in den Produktionsverhältnissen erreichten Grenzpunkts in den meisten entwickelten kapitalistischen Metropolen als Gemeinschaften relativ stabiler lebenslanger Arbeitsloser akkumulieren kann. So bestehen und entwickeln sich seit etwa 20 Jahren in den USA die Ghettos schwarzer Proletarier, die wie in den Jahren ab 1965 ihren Drang nach menschlicher Gemeinschaft manifestieren können, indem sie sich erheben, aber diese Revolten sind unmittelbar mit ihrer Grenze und ihrem Scheitern konfrontiert aufgrund der Unmöglichkeit […], im Herz des Kapitalismus zuzuschlagen: den Produktionsverhältnissen.“ [9]
Négation knüpft hier auf ihre Art und Weise an das gleiche, schon von Boggs in The American Revolution angesprochene Anliegen an, letzterer hatte davon schon die grundlegenden Entwicklungslinien antizipiert:
„Je mehr sich die Automatisierung ausbreitet, desto mehr wird sie die Krisen des Kapitalismus intensivieren und die Konflikte zwischen verschiedenen Sektoren der Bevölkerung verschärfen, besonders zwischen jenen, welche arbeiten, und jenen, welche nicht arbeiten, zwischen jenen, welche Steuern zahlen, und jenen, welche keine zahlen. Dieser Konflikt wird eine konterrevolutionäre Bewegung hervorbringen, die aus jenen gesellschaftlichen Schichten bestehen wird, welche von den permanenten Kosten für den Unterhalt dieser überflüssigen Elemente erdrückt werden, aber entschlossen sind, jenes System aufrechtzuerhalten, welches sie erschafft und vermehrt.“ [10]
Parallel dazu bildet sich eine diffuse Ideologie der „Selbstverwaltung der Arbeiterkämpfe“ innerhalb der ICO heraus, sie ist begleitet von einer anderen, welche die Selbstverwaltung der verschiedenen Kämpfe rund um Fragen wie die Sexualität, die Familie, die Ökologie oder die Antipsychiatrie propagiert, doch die „nicht nur die gegenwärtigen Trennungen respektiert, sondern auch die Kategorien (Arbeit, Freizeit, Sexualität, Familie), die von diesen Trennungen determiniert werden“ [11].
In Anbetracht dieser Entwicklung, die Négation als „Konterrevolution der Selbstverwaltung“ in ihrem Text zum Bruch mit ICO [12] bezeichnet, hielt es die Gruppe für angebracht, zu präzisieren, was sie unter Konterrevolution versteht: „Die Konterrevolution platziert sich immer auf dem Terrain der Revolution. Sie ist der extremste Punkt, wohin die revolutionäre Bewegung gehen kann, ohne mit dem Kapitalismus zu brechen. Umgekehrt ist es der extremste Punkt, wohin der Kapitalismus gehen kann, ohne zerstört zu werden.“ [13] Anders gesagt, es sind die Grenzen der Revolution selbst, die notwendigerweise eine mächtige Konterrevolution entstehen lassen – sie ist nichts anderes als der Reproduktionsprozess der Kategorien des Kapitals auf einer höheren Ebene – und ihr einen Inhalt geben.
Auf jeden Fall ist mit der Rückkehr der Krise Ende 1973 nicht nur die so sehr gepriesene Macht der informellen Basisorganisationen, auf welche die Rätekommunisten und „Autonomen“ spekuliert hatten, von einem Tag auf den anderen verpufft, sondern die mit der „Verweigerung der Arbeit“ verbundenen Praktiken wurden auch brüsk von einem verallgemeinerten Rückzug auf das Terrain der Arbeitsplatzsicherheit und der Aufrechterhaltung der bestehenden Lohnniveaus unterbrochen: Die Offensive der organisierten Arbeiterklasse hat sich als unfähig erwiesen, aus ihrer gegenseitigen Verstrickung mit dem Kapital herauszutreten, und ist gelähmt worden. Ab 1974-1975 ist es klar geworden, dass eine kapitalistische Restrukturierung im Gange war, sie zeigte sich im Angriff gegen die „Inflexibilität“ der Arbeiterklasse in den grossen Fabriken, der Dezentralisierung und der Reorganisation der Arbeitsprozesse, den massiven Entlassungen, den Frührenten und der Delokalisierung eines grossen Teils der Produktion in die „Schwellenländer“ einerseits und der Verbreitung der Marginalisierung, Prekarität, Teilzeitarbeit und Flexibilität andererseits.
In Anbetracht eines solchen Umschwungs ist die Theorie der Selbstnegation des Proletariats (der symptomatisch eine Herausbildung einer „universellen Klasse“ als Resultat der Fusion der proletarisierten Schichten der Mittelklassen und der aus dem Produktionsprozess ausgeschlossenen Proletarier mit der eigentlichen Arbeiterklasse vorausging) nicht mehr haltbar und tritt schnell in eine Krise ein. Die unmittelbare Folge davon ist das Verschwinden der ultralinken Gruppen (oder, wie im Fall von Invariance, die Veränderung ihrer Positionen). Paradoxerweise haben die Krise von 1973 und die darauffolgende Flaute, die sowohl für die Ultralinke als auch den aus 1968 entstandenen Neoleninismus fatal waren, die Neugliederung der „wiederauferstandenen kommunistischen Linken“ und der „neuen“ autonom-rätekommunistischen „Bewegung“ begünstigt [14] und es ihnen erlaubt, bezüglich des tieferen Prozesses im Gange weiterhin die Augen zu verschliessen, nämlich der Todeskrise der Affirmation des Proletariats, welche die Ultralinke ihrerseits übereilt mit seiner unmittelbar bevorstehenden „Selbstnegation“ verwechselt hatte.
Diesbezüglich ist die vom amerikanischen Linkskommunisten Loren Goldner in seinem Artikel von 1981 „The Remaking of the American Working Class“ aufgestellte Bilanz sehr aufschlussreich. Der ursprünglich auf Französisch verfasste und somit für das „posträtekommunistische“ Milieu Frankreichs bestimmte Texte fasst die laufenden Debatten im Land damals zusammen:
„Aber trotz ihrer Reichhaltigkeit (wir denken an die Texte von Invariance von 1968-1972, jene von Le Mouvement communiste, Négation, der Internationalen kommunistischen Strömung während der gleichen Periode) ist die Debatte im Allgemeinen in lange Erörterungen über den Wert und die Selbstauflösung des Proletariats abgeschweift […]“
Wie dem auch sei, es ist schade, dass sich Goldner, nachdem er die „Reichhaltigkeit“ dieser Debatte gewürdigt hat, nicht ein bisschen mehr mit ihren Themen befasst und seinen Lesern nichts über die wirklichen und konkreten Alternativen zu diesen „langen[n] Erörterungen“ gesagt hat, nicht minder schade ist es, dass die Ultralinke schon klar die Grenzen der Zeit nach 1968 aufgezeigt hatte. Somit könnte die Schlussfolgerung, mit welcher er die ganze Sache abfertigt, unbefriedigender nicht sein und sie sagt uns, jenseits der allgemeinen Berufung auf den „Mangel an Bewusstsein“, nichts über die konkreten Gründe des Verschwindens der Ultralinken:
„Die französische Ultralinke wusste also kaum mehr über das spezifische Wesen der Krise nach 1973 als der Linksradikalismus; nachdem sie manchmal auf brillante Art und Weise die Dummheiten letzteres angeprangert hatte, ist sie von der gleichen historischen Bewegung mitgerissen worden.“
Aber was in der Bilanz Goldners am stärksten hervorsticht, ist die Tatsache, dass er nie darauf hinweist, dass in dieser von ihm begutachteten Periode der Flaute und Reorganisation des Kapitals, während die Ultralinke „mitgerissen“ worden war, viele andere Protagonisten der „Krise des Rätekommunismus“ auf der Grundlage des Erbes der kommunistischen Linken oder rund um das neue Evangelium der „Autonomie“ neue Organisationen gründeten – was ihm wahrscheinlich bewusst war. Zum Glück für uns, und obwohl er mehrere Jahrzehnte später geschrieben worden ist – im Zusammenhang mit einer Abrechnung mit der Situationistischen Internationalen – verfügen wir über den wertvollen Erlebnisbericht eines bedeutenden Protagonisten: Henri Simon, der Gründer von ICO und später Initiator von Échanges et Mouvement.
„Während dieser Flaute, die in Wirklichkeit das Scheitern eines revolutionären Aufschwungs war, tauchten die traditionellen Dämonen wieder auf: Man musste sich politisch und gewerkschaftlich organisieren, um den Kampf fortzusetzen […] In verschiedenen Formen florierten politische Gruppen rund um einen neu bekräftigten und wieder eingeführten Leninismus mit einem Zentralismus einer starken Partei [15]. Die Weigerung einer Fraktion von ICO, sich mit einer ‚revolutionären Perspektive‘ zu engagieren, was den Aufbau einer wahrhaften Organisation voraussetzte, führte zum Zerfall der Gruppe mit einer Polarisierung rund um alte politische Strömungen: einerseits jene Elemente, welche sich auf den Marxismus bezogen und die IKS [Internationale kommunistische Strömung] gründeten, eine sehr zentralistische Organisation leninistischer Art, andererseits die anarchistischen Elemente, welche sich nach mehreren Anläufen in einer Organisation wiederfanden, der OCL [Organisation communiste libertaire; die erste, von 1971 bis 1976]. [16]
Angesichts dieser Zeilen scheint es also angebracht, zum Schluss zu kommen, dass Goldner einerseits, und sei es implizit, der Tatsache, auf „organisierte“ Art und Weise die Flaute zu überstehen, einen stillschweigenden Wert beimisst, und dass andererseits jene, welche sich darum gekümmert haben – dazu gehören Dauvé und Goldner selbst –, die aktualisierte „autonome“ Ideologie oder das wiederverwertete Erbe der kommunistischen Linken den folgenden Generationen zu übermitteln, auch dazu beitragen haben, einige der wichtigsten Beiträge der auffälligsten Protagonisten des letzten Bruches der kommunistischen Bewegung unter den Teppich zu kehren.
Bruch in der Kritik der politischen Ökonomie: formelle und reelle Herrschaft des Kapitals
Nach jedem besiegten revolutionären Angriff liquidiert die sich ausbreitende Konterrevolution ein bisschen mehr die Vermittlungen zwischen der kommunistischen Bewegung und dem kommunistischen Programm.J.-Y. Bériou, Revolutionäre Theorie und historische Zyklen.
Ab Mitte der 1930er Jahre (nach der Krise von 1929) und während der gesamten Periode der „boomenden“ Wirtschaft der Nachkriegszeit bis 1968 waren die Krisentheorie und sogar die schlichte Betrachtung des Kapitalismus in Begriffen des „selbstverwertenden Werts“ in der theoretischen Debatte der radikalen Minderheiten fast vollständig inexistent, sie konzentrierte sich fast ausschliesslich auf die unterschwelligen und informellen Organisationsformen der Arbeiter und den Kampf gegen die gewerkschaftliche und politische Bürokratie der „Arbeiterorganisationen“. Es mangelte nicht an Theoretikern, die, wie Castoriadis, sogar zu beweisen suchten, dass der Kapitalismus seine Krisen definitiv überwunden habe. Andere, wie die Situationisten, waren der Ansicht, dass die Kritik der politischen Ökonomie sich darauf beschränken sollte, die Allgegenwart des Warenfetischs auf der Ebene der Gesamtheit der kapitalistischen Gesellschaft anzuprangern, aber ohne die Schlüssel zur Transformation der Klassenverhältnisse in der Nachkriegszeit näher zu erörtern. Das hat sie dazu gebracht, eine „klassische“ Definition des Proletariats, basierend auf der Stellung des „variablen Kapitals“ in den Produktionsverhältnissen, einer anderen, abstrakten und humanistischen, die das Proletariat mit jedem empirischen Subjekt gleichsetzte, das Träger eines Widerstands gegen die Entfremdung war, gegenüberzustellen.
Ab 1968 und dem italienischen heissen Herbst haben die massive Rückkehr der Arbeiterkämpfe und ihre neuen Eigenschaften die Vertiefung der Krisentheorie notwendig gemacht – die Symptome der Krise, wie die Aufhebung des Goldstandards des Dollars (März 1968) oder die Rezession 1969-1971 in den USA, summierten sich schnell – sowie die Analyse der kapitalistischen Entwicklung in ihrer Gesamtheit, um diese neuen Kämpfe, die plötzlich nicht mehr nur in den Fabriken ausbrachen, sondern auch ausserhalb davon, richtig verstehen zu können. Die Epoche, während welcher es genügte, die Arbeiterklasse vom „immediatistischen“ Standpunkt des unmittelbaren Produktionsprozesses aus zu studieren, wie es Socialisme ou barbarie oder – in einem gewissen Masse – der italienische Operaismus jahrelang taten, war hinter uns.
Jacques Camatte und die Zeitschrift Invariance haben diesbezüglich durch die Festlegung einer neuen Periodisierung der kapitalistischen Entwicklung – in einer auf 1964-1966 datierten Arbeit, die aber erst 1968 in Invariance Nr. 2 veröffentlicht worden ist – eine bedeutende Rolle gespielt, sie wurde daraufhin von fast allen ultralinken Gruppen damals übernommen [17]: die Unterscheidung zwischen formeller und reeller Herrschaft des Kapitals. Schauen wir uns an, worum es sich handelt.
Die prinzipielle Eigenschaft der formellen Herrschaft ist die Tatsache, dass, da der Verwertungsprozess des Kapitals den unmittelbaren Produktionsprozess noch nicht vollständig beherrscht, das vorherrschende Element dieses Prozesses, dessen Herzstück in den Händen der qualifizierten Arbeiter liegt, das variable Kapital, die Arbeitskraft ist. Diese Situation entspricht der Vorherrschaft der absoluten Mehrwertextraktion, d.h. der Verlängerung des Arbeitstages und seiner Intensivierung durch Mittel ausserhalb des Arbeitsprozesses selbst, sowie der Anstellung einer zusätzlichen Arbeitskraft, häufig Frauen und Kindern, das alles begleitet von so tiefen Löhnen wie möglich.
Die formelle Herrschaft ist auch durch das Fortbestehen vorkapitalistischer Produktionsweisen (wie die kleine Warenproduktion oder die halbfeudale Landwirtschaft) gekennzeichnet, was die Existenz von Klassen, mit welchen das Kapital zwingend seine Herrschaft teilen muss, und gewisse, nicht direkt unter seinem Einfluss stehende Elemente des Verwertungsprozesses – wie die für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Waren – impliziert. Zu Beginn dieses Entwicklungsstadiums des Kapitals hat die Arbeiterklasse keine politischen Rechte und nachdem sie sie erhalten hat, zwingt sie ihre Schwäche dazu, Verbündete zu suchen, „zu versuchen, seine entstehende Kraft und seine Momente der Revolte in der parlamentarischen Sphäre zu konkretisieren“, wo – wie es Bériou unterstreicht – „keine Klasse fähig ist, ihre Forderungen diskussionslos zu diktieren“.
Eine andere grundlegende Eigenschaft der formellen Herrschaft – eine direkte Folge der Tatsache, dass die Arbeit der massgebliche Faktor im unmittelbaren Produktionsprozess und die Reproduktion der Arbeiterklasse nicht in den Zyklus des Kapitals selbst integriert ist – ist die Autonomie des Proletariats und seiner Organisationen. Die natürliche Konsequenz daraus ist, dass die Revolution – nachdem die Illusionen über die Möglichkeit der Emanzipation innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft einmal überwunden worden sind – als Kampf der Arbeit gegen das Kapital, als Affirmation der Arbeiterklasse und ihre Transformation in die herrschende Klasse konzipiert ist. Der Begriff der „Diktatur des Proletariats“ ist eine direkte Folge der Unmöglichkeit für das Proletariat, seiner Bedingung direkt ein Ende zu setzen; seine „Diktatur“ stellt also einen Kompromiss dar, die Konsequenz der Notwendigkeit einer Übergangsphase, während welcher das Proletariat seine Bedingung auf den Rest der nicht ausbeutenden Schichten ausweitet, bevor es Zugang zur „höheren Stufe“ des Kommunismus hat. Anders gesagt, unter der formellen Herrschaft ist die Existenz einer totalen Diskontinuität zwischen Kapitalismus und Kommunismus nicht konzipierbar.
Gemäss der Ultralinken ist also das, was jederzeit die historische Tätigkeit des Proletariats diktiert – und somit seine Aufgaben, seine Organisationsformen und die konkreten Modalitäten seiner „Diktatur“ – der Entwicklungsgrad des Kapitals (und somit die entsprechende „Klassenzusammensetzung“). So war das Ziel des Pariser Proletariats 1848, sich als virtuelle und geheime Partei zu organisieren, um die Republik gegenüber der provisorischen Regierung durchzusetzen und sich danach gegen den unvermeidlichen Gegenangriff der Bourgeoisie zu verteidigen, und während der Kommune 1871 wurde daraus die Zerstörung des Räderwerks des Staates und die gleichzeitige Organisation der direkten Demokratie als Verständigungswerkzeug der anderen Unterklassen. Aber in keinem dieser Fälle kam es zu einem Versuch, die Wertproduktion zu lähmen oder die Macht ausgehend von den wertproduzierenden Zentren auszuüben (die Wahlbasis der Kommune war das Quartier, nicht die Fabrik): Alles drehte sich – manchmal auch auf negative Art und Weise, wie im Falle der Anarchisten und ihrem Beharren auf der Frage der „Autorität“ und des Staates – rund um die politische Herrschaft, den Sturz der bestehenden politischen Macht, sei es um sie durch eine andere zu ersetzen oder sofort abzuschaffen.
Ab 1871 beginnt eine neue Ära. Die „Bündnispolitik“ nimmt ein Ende und es beginnt eine Periode, während welcher, in den „fortgeschrittenen“ Ländern, „das Proletariat […] keine Kompromisse mehr mit anderen gesellschaftlichen Schichten zu schliessen [braucht], es muss entweder Teil von ihnen werden, sie zerstören oder von ihnen zerstört werden. Es muss seine Diktatur bekräftigen […] die einzige übrig bleibende politische Frage ist der Inhalt seiner Diktatur und diese Frage bleibt politisch, denn es ist noch nicht gesellschaftlich vorherrschend […]“ [18]
Indem es jedoch das Kapital dazu zwang, zwischen 1890 und 1945 seine Produktivität zu erhöhen – was es erlaubte, die Forderungen nach Lohnerhöhungen und reduzierter Arbeitszeit zu befriedigen –, hat die Arbeiterbewegung nicht nur zur Verallgemeinerung des Proletariats und seiner Transformation in eine gesellschaftlich vorherrschende Klasse beigetragen, sondern ist auch zu einem objektiven Verbündeten des Kapitals im Übergang zu reellen Herrschaft geworden.
Die reelle Herrschaft ist gekennzeichnet durch die komplette Absorption des Arbeitsprozesses durch den Verwertungsprozess des Kapitals, der die Ware Arbeitskraft auf eine gänzlich austauschbare abstrakte Form reduziert, deren einzige relevante Kapazität jene ist, auf produktive Art und Weise während der Arbeitszeit konsumiert zu werden und eine maximale Mehrwertextraktion zu erlauben.
So ist das vorherrschende Element des unmittelbaren Produktionsprozesses nunmehr das fixe Kapital, das die Arbeitsdisziplin innerhalb des Produktionsprozesses selbst durchsetzt und zunehmend die technischen Kenntnisse und die Geschicklichkeit des Arbeiters in das Maschinensystem einbezieht, an dessen ständige Verbesserung er sich anpassen muss. Das immer abstraktere Verhältnis des Arbeiters zum Produktionsprozess, dessen konkreter Inhalt ihm gleichgültig ist, führt dazu, dass er darin nur einen Verwertungsprozess sieht, der ihm erlaubt, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Infolgedessen kann sich sein Bewusstsein in Bezug auf die Transformation seiner Situation und die Organisation der Arbeit nur durch direkten Widerstand gegen die Mehrwerterpressung ausdrücken und das geschieht in Form einer Revolte gegen die Arbeit:
„Dieses Bewusstsein zeigt sich schon auf unmittelbare Art und Weise in den zahlreichen organisierten Sabotageakten, welche die Mehrheit der modernsten Fabriken in Europa betreffen (Fiat, Turin, 1969), und vor allem in den USA, wo sie immer mehr Teil durch die Arbeiter organisierter Kampfbewegungen sind und von den Gewerkschaften nicht verteidigt werden können […] Es ist eine Kritik der Mehrarbeit […] Diese Bewegungen haben nicht zum Ziel, die Produktion durch den bestehenden Produktionsprozess und innerhalb desselben zu reorganisieren; sie zeigen nicht die geringste Affirmation gegenüber der Verwaltung; die materiellen Grundlagen der Arbeiterselbstverwaltung sind mit dem unmittelbaren Produzenten verschwunden.“ [19]
Schon 1947 bemerkte der Mitbegründer der Johnson-Forest-Tendenz C. L. R. James – nachdem er mehr als ein Jahrzehnt in den USA gelebt hatte – dass, obwohl er seine Überzeugungen bezüglich der Notwendigkeit einer Reorganisation des Produktionsprozesses als integraler Aspekt der Arbeiterkämpfe nicht abgelegt und nachdem er die neue „strategische Achse“ dieses Kampfes identifiziert hatte, dieser qualitative Sprung unweigerlich alle der vom revolutionären Prozess geerbten Konzeption bis anhin zugrundeliegenden Begriffe umstürzen würde:
„[G]egenwärtig ist das Proletariat, das eine neue Stufe erreicht hat, zur finalen Erkenntnis gelangt. Seine Revolte ist nicht mehr gegen die Politik und die Art der Aufteilung des Mehrwerts gerichtet, sondern gegen die Wertproduktion selbst. Es hat nun seine eigene Lesart des Dreh- und Angelpunkts, um welchen sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht […]
Das Proletariat strebt nicht mehr, wie während der Kommune, nach einer einfachen politischen Form zur Verwirklichung der Emanzipation der Arbeit und auch nicht mehr, wie in den Jahren 1917-1923, nach Sowjets als Mittel der revolutionären Politik, des Umsturzes des Privateigentums […]
Genau wie die Kommune über die Ebene der europäischen Gesellschaft hinausreichte und die Sowjets 1905 eine politische Form erschufen, von welcher Lenin nicht einmal zu träumen gewagt hätte, ist das Proletariat noch nicht in seine neue Schaffensperiode bezüglich politisch-ökonomischer Organisation eingetreten [20]. Die Produktionsverhältnisse und die politischen Probleme von 1947 haben ein Bedürfnis nach Lösungen geschaffen, die weit über jene der bescheidenen Anfänge zu Marx’ Zeiten hinausgehen.“ [21]
„Einerseits kam es eben genau wegen der vollständigen Absorption des unmittelbaren Arbeitsprozesses durch das Kapital und der Tatsache, dass die zunehmende Subsumtion des Reproduktionsprozesses der Arbeitskraft in den eigentlichen Kreislauf des Kapitals gleichbedeutend mit einer faktischen ‚Integration‘ der Arbeiterklasse ist, zu diesem qualitativen Sprung. Der andere Aspekt dieses Prozesses ist, dass seine Fähigkeit zur autonomen Affirmation – die paradoxerweise und von einem gewissen Standpunkt aus scheinbar ihren Höhepunkt erreicht und sogar ideologisch formalisiert wird – zunehmend in eine Krise eintritt. Diese ‚Integration‘ hat allerdings nicht mit dem ‚Bewusstsein‘ der Arbeiter oder ihren Konsumniveaus zu tun, genauso wenig wie sie eine Schwächung des konfliktreichen und antagonistischen Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit zur Folge hat.“ [22]
Diese Eigenschaft der reellen Herrschaft – eine direkte Folge der Tatsache, dass das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit rund um die Verwertung des Werts organisiert ist – verdammt auch jede Organisation, die für den Verwertungsprozess nicht funktional ist, schnell zu verschwinden oder an den Rändern dahinzuvegetieren. Die Tatsache, dass die autonomen Organismen, welche die sozialen Kämpfe initiiert haben, kurzlebig sind oder schnell vom Ausbeutungssystem integriert werden, kommt also nicht daher, dass sie sich „korrumpieren“ oder „bürokratisieren“; diese Entwicklung ist in Wirklichkeit schlichtweg die logische Folge ihrer notwendigen Unterordnung unter den Verwertungsprozess [23].
Daraus resultiert, dass der Kampf sich unter der reellen Herrschaft in eine Revolte sowohl gegen die Arbeit als auch gegen das Kapital transformiert und dass die Revolution immer weniger ein „Organisationsproblem“ als solches hat, denn – genau wie das Absterben des Staates in der klassischen marxistischen Theorie – kann die Abschaffung des Werts nicht „organisiert“, sondern nur vollbracht oder nicht vollbracht werden; die „revolutionäre Organisation“ ist also eine Schimäre. C.L.R. James war auch hinsichtlich dieser Frage – ab 1948 – sehr nahe daran, sie in ihren wirklichen Begriffen zu formulieren:
„Es gibt nichts mehr zu organisieren. Die Arbeiter können organisiert werden. Eine spezielle Organisation für revolutionäre Arbeiter kann gegründet werden. Aber wenn wir diese beiden Elemente einmal haben, sind wir am Ende. Die Organisation, so wie wir sie gekannt haben, ist an ihr Ende gekommen. Die Aufgabe besteht nun darin, die Organisation abzuschaffen […]
Die Organisation, so wie wir sie gekannt haben, hat ihre Mission erfüllt. Ein Ziel, welches das Proletariat innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft widerspiegelte.“ [24]
Zehn Jahre später lieferte James auch eine perfekte Beschreibung für die durch den Übergang von der formellen zur reellen Herrschaft diesbezüglich herbeigeführten Wende:
„Was stellen wir heute, ein halbes Jahrhundert später, fest? Der professionelle Agitator, der revolutionäre Sozialist zu Zeiten Lenins ist heute die Grundlage der bürokratischen Maschine der Gewerkschaften, politischen Parteien und Regierungen geworden […] Das ist die marxistische Dialektik in ihrem tiefsten Inhalt. Der gesellschaftliche Typus, die spezifische Persönlichkeit, die Speerspitze der Arbeiterbewegung und des Sozialismus zu Beginn des Jahrhunderts stellt heute den harten Kern der bürokratischen Reaktion in allen Sektionen der Arbeiterbewegung dar.“ [25]
In jenem Masse, wie sich die reelle Herrschaft konsolidiert und fortschreitet (zum Beispiel durch die Verallgemeinerung der Automatisierung), wird die gesamte Problematik der „Übergangsphase“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus ebenso komplett verändert.
Bevor diese Fragen von Jacques Camatte und Négation erörtert wurden, gab James Boggs zum Thema die wahrscheinlich konkretesten und innovativsten Anregungen. In The American Revolution behauptete er, dass die Automatisierung der Industrie eine genügende Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen für die Gesamtheit der Bevölkerung erlauben würde und dass deswegen die Vorbedingungen für den Aufbau einer „klassenlosen“ Gesellschaft „ohne Arbeit“ schon erfüllt seien [26]:
„Im 19. Jahrhundert erklärte Marx, es solle eine Übergangsgesellschaft zwischen der kapitalistischen Klassengesellschaft und der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft geben. Diese Übergangsgesellschaft, die er Sozialismus nannte, würde immer noch eine Klassengesellschaft sein, doch statt der Kapitalisten würden die Arbeiter die herrschende Klasse sein […] Als herrschende Klasse würden die Arbeiter die Produktivkräfte bis zu jener Stufe entwickeln, auf welcher die uneingeschränkte Entwicklung jedes Individuums möglich sein und das Prinzip ‚jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen‘ verwirklicht werden würde. Auf dieser Stufe könne eine klassenlose Gesellschaft, d.h. der Kommunismus, erreicht werden. In den USA sind die Produktivkräfte schon so weit entwickelt, dass sie die Verwirklichung jener klassenlosen Gesellschaft erlauben, welche gemäss Marx nur durch den Kommunismus erreicht werden kann.“
Boggs hatte jedoch gezeigt, dass diese Fortschritte im Bereich der Automatisierung und der kybernetischen Kontrolle auch die Macht der Gewerkschaft und der Organisation der Arbeit auf der Ebene der Werkstatt geschwächt hatten und dass die Schattenseite dieses Prozesses die zunehmende Akkumulation – in den USA – einer Bevölkerung von hauptsächlich in den schwarzen urbanen Gemeinschaften konzentrierten „lebenslangen Arbeitslosen“ war.
Aber für Boggs platzieren die diesen ausgeschlossenen Proletariern auferlegten Bedingungen sie nicht nur jenseits der Ideologie der Arbeit, sondern ermächtigen sie potenziell auch dazu, heterogene Kräfte des sozialen Protests miteinander zu einer universellen Bewegung zu verbünden, nicht nur, weil „sie die Möglichkeiten der Gesellschaft, in welcher sie leben, in ihrer Tiefe kennengelernt haben und auch wissen, dass sie zahlreich genug sind, um eine Bedrohung darzustellen“, sondern auch, weil „das Auftauchen dieser neuen Gruppe radikale Konzepte hervorbringen wird, welche die Vorstellung von uns allen übersteigen“:
„Derart radikale Konzepte können nicht von der organisierten gewerkschaftlichen Bewegung hervorgebracht werden. Der Klassenkampf der amerikanischen Arbeiter – vereinigt, organisiert und diszipliniert durch den Produktionsprozess – hat seinen Höhepunkt mit der Gründung des CIO [Congress of Industrial Organizations] in den 1930er Jahren erreicht. Heutzutage, in den 1960er Jahren, ist die amerikanische Arbeiterbewegung am Ende ihres Weges angelangt. In Anbetracht der gegenüber den stattgefundenen revolutionären technologischen Veränderungen notwendigen gesellschaftlichen und ideologischen Anpassungen ist die organisierte Arbeit heutzutage genauso reaktionär geworden wie es das organisierte Kapital vor 30 Jahren war. Der fundamentale Grund hierfür ist die Tatsache, dass sie sich immer noch an der Idee festklammert, dass der Mensch arbeiten muss, um zu leben, in einer Epoche, in welcher es technisch möglich wäre für den Menschen, sich damit zu begnügen, die Hand auszustrecken, um zu bekommen, was er braucht.“
Im Gegensatz zu Boggs, der die Illusion aufrechterhielt, dass die ausgeschlossenen Proletarier sich „organisieren werden müssen“ und dass sie schon bald dazu gezwungen sein würden, haben Négation – und schon zuvor Jacques Camatte – verstanden, dass, aufgrund ihres rein zerstörerischen Charakters und weil „der Feind, dessen Opfer sie sind, nicht dieser oder jener spezifische Kapitalist ist, sondern die kapitalistische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit“ [27], diese Kämpfe als potenzielle Negation der kapitalistischen Ordnung politisch unorganisierbar seien und dass genau darin ihre zutiefst revolutionäre Bedeutung liege:
„Diese Bewegungen sind nie verwertbar oder ‚flankierbar‘; sie kommen und gehen, und wenn sie wieder auftauchen, dann nur, um sich auf eine für das Kapital immer verheerendere Art und Weise zu verallgemeinern.“ [28]
Formelle Partei, historische Partei und „Notwendigkeit“ des Kommunismus
Wozu sollte man heutzutage den Arbeitern sagen, dass sie ein Korps an Berufsrevolutionären brauchen, die sich ganz dem politischen Kampf hingeben, auf internationaler Ebene vereint und Todesfeinde des traditionellen Reformismus und so weiter sind? Die Arbeiter wissen es. Die kommunistischen Parteien sind eben genau solche Korps. Ihre Politik ist verdorben. Doch die Organisation, ihr grundlegender Typus, ist das, was Lenin wollte. Wer sich auf dieser Stufe dafür entscheidet, das nicht zu verstehen, soll zur Hölle fahren […] Dieser ganze Diskurs über die Transformation kleiner Abspaltungen in Parteien, die sich nach und nach in Parteien verwandeln werden, welchen die Arbeiter sich werden anschliessen können, ist der Inbegriff der Torheit. Wir haben keine Illusionen mehr, Gott sei Dank.C.L.R. James, Notes on Dialectics.
Der letzte theoretische Fortschritt von Négation und anderer betrifft die „Parteifrage“, und genauer die Unterscheidung zwischen formeller und historischer Partei. Diese Unterscheidung geht auf diese Passage in einem Brief von Marx im Februar 1860 an seinen Freund, den Dichter Ferdinand Freiligrath, zurück:
„Ich bemerke d’abord, daß, nachdem der ‚Bund‘ auf meinen Antrag im November 1852 aufgelöst wurde, ich nie mehr irgendeiner geheimen oder öffentlichen Gesellschaft angehört habe oder angehöre; daß also die Partei in diesem ganz ephemeren Sinne für mich seit 8 Jahren zu existieren aufgehört hat […] Ich habe ferner das Mißverständnis zu beseitigen gesucht, als ob ich unter ‚Partei‘ einen seit 8 Jahren verstorbnen ‚Bund‘ oder eine seit 12 Jahren aufgelöste Zeitungsredaktion verstehe. Unter Partei verstand ich die Partei im großen historischen Sinn.“
Präzisieren wir zuerst, dass der theoretische Bruch der französischen Ultralinken mit der Unterscheidung zwischen formeller und historischer Partei die „bordigistische“ Konzeption dieser Unterscheidung betrifft. Es wäre übrigens falsch, zu denken, die italienische kommunistische Linke sei die einzige Tendenz der kommunistischen Linken gewesen, welche die Metaphysik der Partei kultivierte, obwohl sie wahrscheinlich die einzige war, welche die These vertrat, dass die Partei „ein für allemal ausgehend von einer historischen Erleuchtung – jener der grossen Propheten der offenbarten Religionen ähnelnd – etabliert“ worden war, „was zwischen 1844 (Ökonomisch-philosophische Manuskripte) und 1848 (Revolution) eine auf alle darauffolgenden Kampfperioden anwendbare Perspektive erschaffen hatte“ [29].
C.L.R. James befasste sich zum Beispiel in den Notes on Dialectics (1948) eingehend mit dieser Frage:
„Das Proletariat erschafft diese Organisationen […] Der kapitalistische Widerspruch drückt sich jedoch innerhalb des Proletariats durch die Konzeption dieser Organisationen aus. Denn das Proletariat, ausser wenn es sich ausdrückt, indem es sich erhebt, d.h. wenn es sich aktiv revolutionär zeigt, enthält in sich selbst das Konzept und sein Gegenteil, was so sein muss. Das ist wie wir gesehen haben die Form, in welche jede Partei entartet […]
Der Anfang und das Ende des unabhängigen Wissens des Proletariats ist seine politische Partei, durch sie studiert es, was es ausschliesslich betrifft: die Wirklichkeit und Transformation seiner Stellung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft […] [30]
Doch wenn die Partei das Wissen des Proletariats ist, ist das Auftauchen des Proletariats gleichbedeutend mit der Abschaffung der Partei. Die Partei, so wie wir sie gekannt haben, muss verschwinden. Sie wird verschwinden. Sie ist bereits im Verschwinden begriffen.“ [31]
Für James sind also das Proletariat und seine Organisationen die organischen Träger des „kapitalistischen Widerspruchs“, der sich kontinuierlich weiterentwickelt und zuspitzt, während er gleichzeitig die Begriffe seines Auftauchens transformiert.
Ohne sie explizit als Gegensatz zwischen formeller und historischer Partei zu formulieren, hat Jacques Camatte die von Marx gemachte Unterscheidung in „Origine et fonction de la forme-parti“ (1961) wieder aufgegriffen, dieser Text löste eine derartige Kontroverse innerhalb des PCInt aus, dass seine Veröffentlichung von Amadeo Bordiga selbst durchgesetzt werden musste. Es war jedoch nicht Camatte, sondern Bordiga, der 1965 die Unterscheidung zwischen formeller und historischer Partei im Rahmen einer internen Polemik, während welcher er sich eben genau von Camatte abheben wollte, indem er die „formelle Partei“ verteidigte, klar formulierte. Vier Jahre später, nun ausserhalb des PCInt, übernimmt Camatte seinerseits diese Unterscheidung in einem Text mit dem Titel „La révolution communiste : thèse de travail“ (1969). Allerdings bricht Camatte im selben Jahr in einem zusammen mit Gianni Collu verfassten Text („Transition“), nachdem er die Unterscheidung formelle/historische Partei auf die Periodisierung formelle/reelle Herrschaft und die daraus folgende Transformation der „Aufgaben“ des Proletariats gestützt hatte, mit Bordigas Konzeption:
„Die Theorie der Partei – Theorie des Proletariats – kann nicht nur in den sogenannt politischen Texten von Marx und Engels wahrgenommen werden […], denn diese Werke betrachten das Proletariat vor allem in seiner unmittelbaren Wirklichkeit und halten die formelle Partei, damals, für möglich. Das Proletariat musste also seine Existenz verallgemeinern, das Kapital zur Entwicklung drängen und hätte, falls es die Macht ergriffen hätte und herrschende Klasse geworden wäre, Aufgaben erfüllen müssen, die danach vom Kapital erfüllt worden waren [32]. Heutzutage ist nur noch die historische Partei möglich. Jegliche formelle Partei ist nur eine Organisation, die sich schnell auf die Form der Schutzgelderpressung beschränkt: Das Gleiche gilt übrigens für jegliche strukturierte oder unstrukturierte Gruppe, die glaubt, auf die Neugründung der Partei oder die Erschaffung von Räten hinzuwirken.“
Diese Theorie, gemäss welcher es unter der reellen Herrschaft des Kapitals keinen Platz für eine formelle Partei habe, da sie historisch keine andere Funktion hatte – und haben konnte – als eine Vermittlung für die Affirmation des Proletariats darzustellen, ist praktisch von der Gesamtheit der Ultralinken übernommen worden. Die Tatsache, dass diese historische Vermittlungsfunktion von einer reformistischen Massenpartei oder einer angeblichen „revolutionären Avantgarde“, oder sogar von einer ausserhalb der sozialistischen Tradition stehenden Organisation erfüllt wurde, war letztendlich nur ein Indikator für die von jeder gesellschaftlichen Formation erreichten kapitalistischen Entwicklungsstufe. Und in der einen oder anderen Form blieb die Aufgabe die gleiche: die Gewährleistung der „Entwicklung der Produktivkräfte“ und des Fortbestands der Arbeiterklasse als Kategorie des Kapitals.
Es ist diese These, welche die Ultralinke von allen Formen der kommunistischen Linken unterscheidet, seien sie klassische oder „wiederbelebte“: Da das Proletariat unter der reellen Herrschaft keine vermittelnden Aufgaben mehr zu erfüllen hat und den Inhalt seiner unmittelbaren Aufgabe – seine Aufhebung – in sich trägt, ist nunmehr nur noch die historische Partei möglich, d.h. die wirkliche Bewegung der Selbstnegation des Proletariats und die unmittelbare Hervorbringung des Kommunismus.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, es handle sich hier schlichtweg um eine rein „anti-organisatorische“ Position, eine abstrakte Negation der Organisationsfrage, und nicht um einen Versuch, sie zu überwinden, wie es in der späteren Entwicklung von Camatte der Fall sein wird. Was hingegen gewiss ist, ist die Tatsache, dass die einhellige Verurteilung jeglicher „formellen Partei“ durch Négation/Le Voyou, Intervention communiste und Le Mouvement communiste (relativ im Falle letzterer Gruppe, wie wir später sehen werden) sie nicht dazu führte, jegliche Möglichkeit der „Gruppierung von Revolutionären“ schlichtweg zu verurteilen, sondern zu einer neuen Definition des Inhalts und der Formen der kommunistischen Revolution, festgelegt als das Werk einer vom Kapital hervorgebrachten Klasse, die nur innerhalb desselben existieren kann – das Proletariat, verstanden als „kommunisierende Klasse“ [33] – und die Materie seiner Tätigkeit – die historische Vernichtung des Werts – im Prozess seiner Herausbildung selbst findet.
Die Existenz einer kommunistischen Bewegung selbst setzt also die unmittelbare Überwindung der kapitalistischen Kategorien voraus. Deshalb, mangels einer konkret die Kategorien des Werts angreifenden Bewegung, ist jede – formelle oder informelle – Organisation, die von sich behauptet, einen reellen Einfluss zu haben, dazu gezwungen, Linksradikalismus zu betreiben [34], d.h. innerhalb dieser Kategorien zu verbleiben (das Unternehmen, das Quartier, die Schule usw.). Intervention communiste hat das Problem folgendermassen gelöst:
„[D]ie Praktizierung anderer Interventionen läuft nicht nur darauf hinaus, den Prozess der bürgerlichen Revolution nachzuäffen, aus der kommunistischen Bewegung eine Schutzgelderpressung zu machen, dem Proletariat eine Positivität zuzugestehen, ein Programm zu präsentieren, zu versuchen, Ideen durchzusetzen, zu sagen, der Kommunismus sei nicht dieses oder jenes, sondern auch, trotz aller schöner Reden, die formelle Partei fortbestehen zu lassen.“ [35]
Daraus folgt, dass die Möglichkeit der Gruppierung sowie die anderen Aufgaben der Kommunisten allen voran von der klaren Einordnung ihrer Periode als konterrevolutionär, revolutionär oder sich im revolutionären Aufbruch befindend abhängen. Die Revolutionäre „entscheiden“ also nicht, ob sie den revolutionären Prozess vereinheitlichen oder beschleunigen oder über seinen Grad der Zentralisierung, deshalb, wie es Le Voyou betonte, „kann die kommunistische Bewegung weder durch eine formelle Zentralisierung noch durch einen föderalistischen oder unionistischen Autonomismus ausgedrückt werden“ [36], die Zentralisierung ist nicht eine Entscheidung, sondern eine Notwendigkeit [37]. Es gibt somit auch keine Aufgaben, welche die kommunistische Bewegung als prioritär betrachten oder auf welche sie ihre Ressourcen konzentrieren muss, aber sie wird dazu gebracht, gewisse Aufgaben zu erfüllen und sie kann sie nur erfüllen, indem sie sie bündelt.
Die Haupteigenschaft der revolutionären Erneuerung von 1968 war, gemäss der Ultralinken, die „Wieder-Erkennung“ der kommunistischen Theorie und ihre Reaktivierung, denn in der vorhergehenden Periode hatte sie nur als Gesamtheit versteinerter Prinzipien, als Programm existiert:
„[I]n einer Periode der ‚totalen‘ Konterrevolution ist im besten Falle nur die Konservierung eines Programms möglich, das seinerseits von der Periode entschärft worden ist. Seit etwa 1968 gibt es sehr wohl – wenn auch natürlich noch bruchstückhaft – eine Hervorbringung der kommunistischen Theorie, welche die Tendenzen der wirklichen Bewegung widerspiegelt. Diese Hervorbringung ist in sich selbst Praxis durch die durch sie erzwungenen Verknüpfungen, insoweit als dieser Zwang durch die wirkliche soziale Bewegung ausgeübt wird, und nicht durch die äusseren Mahnrufe irgendeines Individuums, irgendeiner Gruppe oder Zeitschrift.“ [38]
Der zweite charakteristische Zug der Erneuerung war „das Ende der theoretischen Tätigkeit als getrennte Praxis aufgrund der zwingenden Notwendigkeit der praktischen Aneignung der Theorie durch das Proletariat“ [39]. Daher „empfängt“ das Proletariat „nicht Prinzipien oder Analysen, die ihnen die Kommunisten kommunizieren – das ist das Verhältnis Arbeiterklasse/Aktivist –, sondern es eignet sich die Theorie seiner eigenen Bewegung an, weil es aufgrund seiner konkreten Situation dazu gezwungen ist, andernfalls wird es besiegt“ [40]. In anderen Worten, die natürliche Konsequenz aus dem Ende der Trennung Theorie/Praxis ist das Verschwinden der Trennung Proletarier/Theoretiker, da die Theorie Teil der gesellschaftlichen Bedingung letzterer ist, denn sie sind nur Proletarier unter anderen. Anders gesagt: Vor der tatsächlichen kommunistischen Bewegung gibt es keine Revolutionäre, sie sind eine Hervorbringung dieser Bewegung selbst und Teil der widersprüchlichen Bewegung des Kapitals. Schliesslich, wie es Bériou betont:
„Diese Aneignung/Hervorbringung der Theorie des Kommunismus als revolutionäre Bewegung entsteht nicht nur gegen das in Form von versteinerten ‚Prinzipien‘ übermittelte kommunistische Programm, welches entstellt und erstarrt und aufgrund der Wirkung der Konterrevolution und der Niederlage des letzten revolutionären Angriffs partiell und auf abstrakte Weise doktrinär geworden ist, sondern auch von diesem Programm ausgehend, durch die unter dem Druck der Ereignisse kritische Verdauung davon.“ [41]
Sobald sie erkannt hat, dass die durch 1968 eröffnete Periode eine eines revolutionären Aufschwungs war, war die Ultralinke unmittelbar dazu gezwungen, sich den Grenzen dieses Aufschwungs zu stellen und sie zu präzisieren. Obwohl sie mit der absoluten Herrschaft der Konterrevolution gebrochen hatte, war die „Notwendigkeit des Kommunismus“ [42] nicht insoweit verallgemeinert, als sie ihre ersten Manifestationen praktisch hätte überwinden können und sich fähig zeigen, die Transformation der Produktionsverhältnisse in Angriff zu nehmen.
Diese Grenzen waren die Ursache einer bedeutenden Polemik im ultralinken Milieu zwischen Négation/Le Voyou und Intervention communiste auf der einen und Mouvement communiste auf der anderen Seite (ohne dass erstere absolut gleicher Meinung gewesen wären). Die aus dem Aufschwung entstandenen Verbindungen konnten nicht unmittelbar konkret sein, nichts garantierte, dass die darauffolgenden Gruppierungen nicht rein formell waren. In Anbetracht der Wirklichkeit der Grenzen des Aufschwungs – d.h. des unmittelbar bevorstehenden erneuten Abschwungs – begann Le Mouvement communiste damit, die Notwendigkeit eines stabilen Systems permanenter Kontakte zwischen den verschiedenen Gruppen der Ultralinken zu verteidigen, sie behaupteten, dass, „obwohl es nicht infrage kommt, erneut eine formelle Organisation zu gründen, die aus den Umständen entstandenen Gruppierungen nicht mehr genügen“, sie stützten diese Anrufung der „objektiven Notwendigkeit“ mit dem „subjektiven“ Argument, gemäss welchem „die Nichtbeachtung, oder schlimmer, die Unterdrückung, die Selbstzensur des individuellen Drangs nach Kommunismus als Teil der Konterrevolution zu betrachten sind“ [43].
Die Antwort des Voyou war kategorisch:
„Ihr gebt vor, die formelle Partei zu aktualisieren, indem ihr ihre Existenz nicht mehr auf die Politik, sondern auf den (menschlichen) Drang stützt.“ [44]
Tatsächlich taten, insoweit als sie versuchten, die praktische Dringlichkeit der Krise des Klassenverhältnisses und des historischen Prozesses der Herausbildung des Proletariats durch die gemeinsame Arbeit und die systematische Verstärkung der Verbindungen, während sie gleichzeitig die persönliche Notwendigkeit des Kommunismus idealisierten, die Positionen von Mouvement communiste nichts anderes, als den programmatischen Kommunismus in neuer Gestalt erneut zu bekräftigen.
Intervention communiste ihrerseits, obwohl sie sich davor hüteten, der abstrakten Verweigerung der Argumentation ihrer Gesprächspartner zu verfallen, waren nicht minder energisch:
„Der Kommunismus ist nicht das Produkt der Handlung der ‚Leute‘, welche all jene Situationen, in die sie das Kapital hineinversetzt, als unerträglich empfinden; auf dieser Stufe wäre die Abhängigkeit zwischen Revolution und Kapital beseitigt, erstere würde sich einem Wesen entgegenstellen, das ein anderes als es selbst ist, in diesem Moment ist die Abschaffung des Tausches Strategie des ‚Revolutionärs‘ und nicht vom Kapital selbst hervorgebracht. Die Herausbildung des Proletariats ist ein Moment des Zyklus des Kapitals […]
Die Überwindung des individuellen Drangs ist nicht die Eingliederung in irgendeine kollektive Praxis, sondern der Prozess der Herausbildung des Proletariats, der aus ihm wirklicher Drang nach Kommunismus macht und, indem es ihn nicht Teil einer (allzu vagen) kollektiven Praxis, sondern einer Klasse macht, die gesamte, unter Umständen mit diesem individuellen Drang verbundene Problematik der Entscheidung beseitigt.
Es ist notwendig, den persönlichen, unmittelbaren Drang nach Kommunismus zu berücksichtigen; doch dieser Drang als Drang nach Revolution wird als persönlicher Drang negiert und konserviert, wenn man versteht, dass keine individuelle Lösung möglich, dass keine Lockerung tragfähig ist. Was erfasst werden muss, ist die Tatsache, dass dieser persönliche unmittelbare Drang nach Kommunismus ein Moment der Herausbildung des Proletariats ist, ein Moment seiner Existenz als kollektiver Drang nach Kommunismus.“ [45]
Abschliessend
So nähert sich diese kurze Einführung in die französische Ultralinke zwischen 1968 und 1974 ihrem Ende. Ich bemühte mich darin, zusätzlich zur Darstellung ihrer historischen Wurzeln – die schon in gewissen embryonalen „autonom-rätekommunistischen“ Tendenzen der Nachkriegszeit präsent waren – und der konkreten Inspirationsquellen dieser Strömung, gewisse Sophismen und Halbwahrheiten zu widerlegen, mithilfe welcher die Pseudokritik der „Theorie der Kommunisierung“ diese in der Regel erörtert, besonders hinsichtlich ihrer angeblichen „anti-organisatorischen“ Phobie, „modernistischen“ Wurzeln und ihres daraus hergeleiteten angeblichen „kleinbürgerlichen“ Charakters. Ich habe hingegen bewusst einen Aspekt aussen vor gelassen, jenen der mehr oder weniger tendenziösen Widerlegungen und verkürzten und restriktiven Aneignungen der Periodisierung formelle/reelle Herrschaft, nicht weil die Frage nicht interessant oder bedeutend wäre – ganz im Gegenteil –, sondern aus dem einfachen Grund, dass sie alleine einen monographischen Artikel verdienen würde.
Ich habe hier auch auf eine Kritik der Thesen der Ultralinken verzichtet, denn es ging darum, eine vollständige Darstellung davon vorzulegen. Doch es ist offensichtlich – oder sollte es zumindest sein –, dass eine Theorie, die ihren Zenit überschritten hat, nicht auf unbestimmte Zeit „aktuell“ bleiben kann, auch wenn sie sich als fähig erweist, den Vergleich mit noch älteren Theorien, die problemlos weiter zirkulieren und ihre eigene „Gültigkeit“ einfordern können, weil sie zu zeitlosen „Klassikern“ geworden sind, nicht scheuen zu müssen.
Auf jeden Fall hoffe ich, dass es verständlich geworden ist, dass der gemeinsame Nenner der durch die Ultralinke unternommenen Brüche nichts anderes war als eine konstante Historisierung – ausgehend von der Gegenwart, die ihr Los war – des Werdegangs der kommunistischen Bewegung, stets verbunden mit der entsprechenden kapitalistischen Entwicklungsstufe und einer konstanten kritischen Prüfung der Gültigkeit und des Inhalts ihres theoretischen Arsenals.
Schliesslich möchte ich präzisieren, dass ich hier das Konzept der Ultralinken in einem engen Sinne benutzt habe – im Gegensatz zum Beispiel zur Art und Weise, wie es häufig von der Gruppe Théorie communiste benutzt wird – und mich auschliesslich auf Invariance (1. Serie), Négation, Le Voyou, Intervention communiste und Le Mouvement communiste bezogen habe. Wie die Mehrheit jener, welche über die Ultralinke geschrieben haben, denke ich jedoch, dass es wichtig ist, zu betonen, dass die Situationistische Internationale (die einen starken Einfluss auf die Ultralinke während der Periode 1972-1974 hatte) sozusagen einen Fuss in der Tür und einen draussen hatte.
12. November 2023
Federico Corriente
Übersetzt aus dem Französischen von kommunisierung.net
[1] Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Buch III: Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion (1894) in MEW, Bd. 25, 1964, S. 412.
[2] In den letzten Jahren haben mehrere Autoren die Intensität des Austausches von Ideen, Texten und Kampferfahrungen zwischen den radikalen Milieus in Detroit und Italien während den 1960er Jahre hervorgehoben. Die Gruppe Correspondence – den Namen, der sich ab 1951 die Johnson-Forest-Tendenz, wovon zahlreiche Mitglieder in Detroit lebten, gegeben hatte – hatte einen beträchtlichen Einfluss auf den Operaismus durch den Text von 1947 „The American Worker“ von Paul Romano und Grace Lee, den Danilo Montaldi ausgehend von der in Socialisme ou barbarie erschienenen französischen Version zwei Jahre später übersetzte und der einer der Inspirationsquellen für die operaistische „militante Untersuchung“ Romano Alquatis war. Der Operaist Ferrucio Gambino (der 1967 eine Reise nach Detroit und in andere Teile der USA unternahm) seinerseits ermöglichte den Besuch des Automobilarbeiters und ehemaligen Mitglieds von Correspondence James Boggs – der mit der Veröffentlichung der italienischen Übersetzung von The American Revolution. Pages from a Negro Worker’s Notebook (1963) zusammenfiel – für zahlreiche Konferenzen in ganz Italien zusammen mit seiner Frau Grace Lee-Boggs, Mitbegründerin der Johnson-Forest-Tendenz.
[3] Von mir unterstrichen, F. C.
[4] In Le Mouvement communiste (Champ Libre, 1972) von Jean Barrot (Gilles Dauvé) kann man Folgendes lesen:
„Die Entwicklung der USA liess sehr bedeutende ‚Inseln‘ der Unterentwicklung entstehen und unterhielt sie. Diverse Gruppen und Minderheiten sind nicht in die amerikanische Gesellschaft integriert und leben am Rande der eigentlichen Arbeiterklasse, entweder im Elend als fast permanente Arbeitslose oder beschäftigt mit wenig produktiven und schlecht bezahlten Tätigkeiten (Kleinbauern, Landwirtschaftsarbeiter). Aber seit dem Krieg verändert die wirtschaftliche Entwicklung das Problem und vor allem seit einigen Jahren mit der Automatisierung, die hunderte von Millionen Arbeiter in der Produktion überflüssig macht […] Ihre Auswirkungen sind allerdings bereits spürbar, besonders unter den schwarzen Arbeitern, die zuvorderst vom Ausschluss der Produktion bedroht sind.“
In einer Fussnote zitiert Dauvé explizit das Buch von Boggs als Quelle und betont im Übrigen, dass das Problem „von den ‚Revolutionären‘ nicht ernsthaft dargestellt worden ist, ausser von der italienischen Linken in ihrer Studie der Manuskripte von 1857-1858“.
[6] Die anscheinende Ausnahme, welche die konstant und ununterbrochen zirkulierenden Texte von Barrot/Dauvé darstellen, ist es nicht wirklich. Mit Ausnahme seiner Schriften in der Periode 1972-1973, in welchen der „Bruch“ sehr sichtbar ist, widmete er sich nach dem Debakel von 1973 Projekten wie La Gauche communiste en Allemagne 1918-1921 (1976) oder „Bilan“. Contre-révolution en Espagne 1936-1939 (1979), welche die Neolinkskommunisten nicht pauschal zurückweisen konnten, ohne sich ins eigene Knie zu schiessen.
[7] Jean-Yves Bériou, Revolutionäre Theorie und historische Zyklen.
[8] „Contre-interprétation du ‚Contre-planning‘ dans l’atelier“ in ICO, Nr. 118, Juni 1972, S. 3, reproduziert in Rupture dans la théorie de la révolution, Marseille, Senonevero, 2003, S. 318.
[10] James Boggs, The American Revolution, 1963.
[11] „Contre-interprétation du ‚Contre-planning‘ dans l’atelier“, op. cit., S. 28.
[12] ICO, Nr. 121, November 1972.
[13] Ebd., S. 29.
[14] Es ist kein Zufall, dass das 1974 von Henri Simon verfasste „Gründungsmanifest“ der Gruppe Échanges et mouvement – eine direkte Erbin ihrer Vorgängerorganisation, der rätekommunistisch-arbeiterorientierten Gruppierung ICO – den Titel „neue Bewegung“ und nicht „neue Arbeiterbewegung“ trägt. Daneben bietet der Text eine hervorragende Zusammenfassung der „neuen“ Ideen der Gruppe, die der Autor auf heimtückische Art und Weise jenen der Ultralinken entgegenstellt, letztere unterscheidet er kaum vom Rest der „avantgardistischen“ Tendenzen, die „versuchen“, sich der neuen Welt „der Autonomie anzupassen“.
[15] Es sei bemerkt, mit welcher Leichtigkeit Henri Simon die „aktivistische Strömung“ der Ultralinken und von ihm „sowohl in den Analysen als auch in den Konzeptionen der Organisation“ traditionalistisch genannte Gruppen unter dem Vorwand vermischt, es handle sich um „Gruppen, die Teil der avantgardistischen Ideologie sind“. Die „wiederauferstandenen Bolschewisten“ wie Révolution internationale/IKS zögern ihrerseits auch nicht, die (als „modernistische“ Strömung bezeichnete) Ultralinke und die Rätekommunisten auf der Grundlage einer angeblichen gemeinsamen Organisationsfeindlichkeit zu vermischen (siehe zu diesem Thema „ICO : un point de vue“ von Henri Simon; Internationale kommunistische Tendenz, „The Dissappointed of 1968: Seeking Refuge in Utopia“, „Critique des soi-disant ‚communisateurs‘“ Teil 1 und 2).
[16] „ICO et l’IS – Retour sur les relations entre Informations correspondance ouvrières et l’Internationale situationniste“.
[17] Barrot/Dauvé damals eingeschlossen, er benutzte den Begriff in der Mehrheit seiner Schriften dieser Zeit, bevor er ihn ohne Erklärung aufgab. Zur „Abrechnung“ – wenn man es so nennen kann – Dauvés mit der Unterscheidung formelle/reelle Herrschaft kam es erst 2004 in einer Antwort auf einen Brief der schwedischen Zeitschrift Riff-Raff zur Frage.
[18] Jean-Yves Bériou, Revolutionäre Theorie und historische Zyklen, op. cit.
[19] „Le prolétariat comme destructeur du travail“ in Négation, Nr. 1, S. 15.
[20] Von mir unterstrichen, F. C.
[21] C. L. R. James, F. Forest, Ria Stone, The Invading Socialist Society, Bewick/Ed, Detroit 1972, S. 13-15.
[22] „Das Problem war überhaupt nicht (wie es alle angesagten Ideologien damals behaupteten), dass diese Arbeiterklasse integriert war: Diese Arbeiterklasse war schlichtweg unterworfen und beherrscht durch extrem heftige Formen der Repression, Formen, die […] nicht ausserhalb der Arbeitsweise standen, sondern sie waren vollständig Teil des Produktionsprozesses.“ Toni Negri, Del obrero-masa al obrero social, Anagrama, Barcelona, 1980.
[23] C. L. R. James und Konsorten hatten es verstanden, indem sie zum Beispiel zeigten, dass nichts am stalinistischen Phänomen besonders „russisch“ war, sondern es Teil eines breiteren Prozesses war, der sich weltweit abspielte:
„Die beste Art und Weise, diese Parteien zu verstehen, ist die Erkenntnis, dass, auch wenn das stalinistische Russland nie existiert hätte und die proletarische Revolution verschoben worden wäre, eine ähnliche politische Formation wie die stalinistischen Parteien entstanden wäre.“ The Invading Socialist Society.
Mit anderen Worten, diese Parteien waren weder „Werkzeuge des Kremls“ noch eine Neuauflage der klassischen Sozialdemokratie, sondern allen voran „ein Produkt der Arbeit und des Kapitals auf dieser Stufe“ (Notes on Dialectics). Und obwohl, gemäss James, ihre Rolle hinsichtlich der Arbeiterklassen der entwickeltesten Länder schon obsolet geworden ist, behält sie ihre Gültigkeit für Länder, wo die Dekolonialisierung und der Zugang zu einer „normalen“ kapitalistischen Entwicklung noch ausstehend sind.
[24] Ich behaupte nicht, dass diese Zitate die „Organisationskonzeptionen“ C. L. R. James’ zusammenfassen, und noch weniger, dass seine Praxis ein genauer Widerschein seiner Konzeptionen war, aber ich zeige auf, dass er in seinen Überlegungen zur Frage zu Grenzen gedrängt worden ist, die später von der französischen Ultralinken erörtert worden sind. Gestützt auf eine zusätzliche Erfahrung von mehr als einem halben Jahrhundert hat Roland Simon ein viel klarere und abschliessendere Antwort auf die Frage:
„[D]as Auftauchen der Klasse, die Bewegung der Revolution als Affirmation der Klasse, kann gegenüber dem Kapital ‚kapitalisiert‘, formalisiert; in einem Wort, organisiert werden […] [D]ie Negation des Proletariats kann nie eine stabile Form erlangen [...]
Man kann revolutionäre Arbeiter gruppieren, vereinen und radikalisieren, wenn es unmittelbar die Tatsache ist, ein produktiver Arbeiter zu sein, d.h. seine eigene Existenz in der kapitalistischen Produktionsweise, die unmittelbar als revolutionäres Wesen gesetzt wird; man kann hingegen weder nach einem Krawall eine Organisation der Krawallmacher gruppieren noch wilde Streikende, welche die Arbeit verweigern als ‚wilde Streikende, welche die Arbeit verweigern‘. Eine Organisation der Saboteure von Lordstown kann nicht existieren. Wenn Plünderer der amerikanischen Ghettos Organisationen bilden, dann tun sie das, um Politik zu machen oder eine grundlegende ‚Wohlfahrt‘ zu organisieren; wenn die Saboteure von Lordstown sich ausserhalb ihrer Praxis selbst organisieren, dann tun sie es, um gewerkschaftlich aktiv zu sein.“ Siehe Fondements critiques d’une théorie de la révolution, Marseille, Senonevero, 2001, S. 566.
[25] Facing Reality, 1958, S. 89.
[26] Es ist angebracht, diesbezüglich zu anerkennen, dass die Gruppe Correspondence – deren Mitglied Boggs bis 1962 war – schon vor ihm zu diesem Schluss gekommen war: „Das Konzept einer Übergangsphase hin zum Sozialismus von Marx und Lenin hat ebenfalls heutzutage in den fortgeschrittenen Ländern keinen Sinn mehr.“ Facing Reality, op. cit., S. 98.
[27] „Lip et la contre-révolution autogestionnaire“, op. cit.
[28] „Transition“, 1969.
[29] F. Santini, Apocalipsis y supervivencia, S. 43.
[30] Von mir unterstrichen, F. C.
[31] Notes on Dialectics, op. cit., S. 172-176.
[32] Von mir unterstrichen, F. C.
[33] „Das Proletariat ist ein politisches Konzept. Alle Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen können darüber debattieren, was die kapitalistische Produktionsweise, die produktive Arbeit oder sogar die Arbeiterklasse ist. Das Konzept des Proletariats ist etwas anderes. Man kann zurecht die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise als Träger seiner Überwindung betrachten, aber diese Aussage bedeutet sogleich eine besondere gesellschaftliche und politische Positionierung innerhalb dieser Widersprüche, und nicht ihre einfache Anerkennung. Deshalb ist das Konzept immer intuitiv benutzt worden und kein einfaches Synonym der Arbeiterklasse, was auch immer die Vorbehalte gegenüber letzterem Begriff sein mögen.“ „Contribution à la théorie des classes“ in Théorie communiste, Nr. 27, S. 288.
[35] „Prolétaires et communistes“ in Bulletin communiste, Beilage zur Nr. 1 von Intervention communiste, Februar 1973, reproduziert in Rupture dans la théorie de la révolution, op. cit., S. 439-450.
[36] „Bilan critique du Voyou“, Paris, September 1973.
[37] „Les classes“ in Intervention communiste, Nr. 2, Dezember 1973, reproduziert in Rupture dans la théorie de la révolution, op. cit., S. 451-462.
[38] „L’anti-fascisme dans un verre d’eau de Vichy“, op. cit., S. 16-17.
[39] „Prolétaires et communistes“, op. cit., S. 442.
[40] Ebd., S. 441.
[41] Jean-Yves Bériou, op. cit.
[42] Die italienische Bewegung von 1977 hatte eine besondere Lesart des „Drangs nach Kommunismus“ (schon latent in den Texten von Le Mouvement communiste), gemäss welcher der „Motor“ dieses Drangs nicht das Elend (im weitesten Sinne des Begriffs) sei, sondern die Entwicklung des Drangs nach „grösster Produktivkraft“, und zwar die revolutionäre Klasse, die zu „reich“ sei, um ins Verhältnis Kapital-Arbeit zurückgeführt zu werden, und deshalb dazu tendiere, dieses Verhältnis explodieren zu lassen.
[43] „Révolutionnaire ? (notes sur la subversion)“ in Le Mouvement communiste, Nr. 4.
[44] „L’anti-fascisme dans un verre d’eau de Vichy“, op. cit., S. 4.
[45] „Les classes“, op. cit, S. 453 und 461.