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Roland Simon - Statistiken und Gefühle (zu den Krawallen im Juni 2023)
Mittwoch 12. Juli 2023
„Wenn die Statistik die Massen ergreift, wird das Gefühl zur materiellen Gewalt“ (Anonym)
Es wird keine Statistiken geben.
Die Vervielfachung der Statistiken, um wie die „lokalen Volksvertreter“, die „sozialen Schlichter“ zu sagen: „Wir hatten euch gewarnt, es wird knallen“, erklärt nichts und schafft nicht die geringste Klarheit bezüglich der Ereignisse: Es erklärt weder ihre Form oder den Moment, noch ihren Inhalt oder die Ziele. Im Feuer der Aktion existieren alle objektiven und „erklärenden“ Gegebenheiten als Gefühle, werden zu Gefühlen: vom Hass und der Rache bis zum Spiel, bis hin zum Fest und der imaginären Selbstprojektion, dass man einen Moment lang die Kontrolle über sein Leben zurückerlangt. Die Videospiele, wieso nicht? Alle agieren im Wald der Referenzen und Symbole, die Statistiken treiben nie jemanden auf die Strasse, ausser umgewandelt durch die Modalitäten des Erlebten.
Jegliche Praxis verfährt unter einer Ideologie, das Gefühl (Rache und Hass in Anbetracht der Geringschätzung, Lust an der verbotenen Ware) ist eine davon. Das Gefühl ist ein Verhältnis zu den Produktionsverhältnissen, es ist sogar die offensichtlichste Form davon, die unmittelbarste der Anrufung der konkreten Individuen als Subjekte. Aber „das konkrete Individuum“ ist kein primäres Substrat, es wird selbst in der Reproduktion der Produktionsweise in all seinen Erscheinungsformen und all seinem Fetischismus hervorgebracht. Es ist das konkrete Individuum, das sich selbst als Subjekt anruft. Die rassialisierten Teenager haben sich selbst als Subjekte angerufen, offensichtlich nicht unter der gleichen Ideologie wie ein Arbeiter oder ein Rentner. Das Gefühl: Hass, Rache, Lust, nicht nur Produkte von Aldi oder Lidl zu konsumieren, sondern auch moderne Telefone und Flachbildschirme, Spiel und Selbstbestätigung. Gegen ihre konstante Versagung ist die spezifische Ideologie der jungen Aufrührer eben genau, das „Menschsein“ für sich in Anspruch zu nehmen, die Würde ist die reinste Form des Subjekts. Das Gefühl repräsentiert nicht ihre wirklichen Existenzbedingungen, sondern ihr Verhältnis zu denselben, in diesem Verhältnis konstituieren sie sich als Subjekte und als solche agieren und kämpfen sie gemäss ihrer wirklichen Existenz, so wie sie in einer besonderen sozialen und politischen Situation definiert ist und besteht.
Nachdem sie sich in den 1970er Jahren global gegen Keynes und Ford restrukturiert hat, indem sie die Kapitalverwertung von der Reproduktion der Arbeitskraft entkoppelt hat, ist die Produktionsweise nun durch einen Rückschlag dessen unterminiert, was die Dynamik dieser letzten dreissig oder vierzig Jahre war.
Es gab die Gelbwesten, die das alltägliche Leben in all seinen Unwägbarkeiten, seinen guten und schlechten Seiten ins Zentrum des Klassenkampfes stellten und den Staat als Verantwortlichen der Distribution, des Einkommens, des Reichtums der Einen und der Armut der Anderen anriefen.
Es gab die lange Episode in Bezug auf die Rentenreform, wo der Zusammenschluss der Gewerkschaften es die ganze Zeit schaffte, der Bewegung den Rahmen zu geben, denn als tot geborene Bewegung war ihr Ziel nur die Niederlage und der Zusammenschluss der Gewerkschaften war die angemessene Form dafür. Eine Reform, die, artikuliert mit jenen der Arbeitslosenversicherung, der Lehre und der Ausbildung, der Berufsgymnasien und ihrer Finanzierung den gesamten Verlauf des Arbeitslebens modifiziert. Aber in ihrer angekündigten Niederlage zeigte sich die Offensichtlichkeit der Krise der repräsentativen Demokratie in der Akkumulation aller Notnägel der Verfassung, um eine schon vor jeglicher „Diskussion“ getroffene Entscheidung durchzusetzen.
Es gab die Covid-Periode mit ihren Lockdowns und der territorial gezielten Repression gegen jene, welche sich nicht daran hielten.
Es gab die ökologische Radikalität gegen die grossen Baustellen des Kapitals. Eine sympathische Bewegung, wenn man darin nicht zwischen den Zeilen die Nostalgie des Bauern, des Kleinhandels und der kleinen Warenproduktion wiederfinden würde: die Mittelmässigkeit in allem.
Es gab die Inflation, dieses magische Phänomen, das wie von einem anderen Planeten gekommen ist, um die gängigsten Konsumgüter hart zu treffen.
Und jedes Mal gibt es den Staat und seine verschiedenen bewaffneten Banden. Der Staat, das ist der Knüppel. Hinter jedem seiner Apparate, seiner „Dienste“, steht die Gewalt. Er ist eine Maschine, welche die gegenseitige Gewalt, die alle Facetten des Klassenkampfes säumt, in die einzig legitime Gewalt verwandelt, jene der Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise. Mit dem Zerfall der „Arbeiterbewegung“, ihrer Instanzen und Institutionen, bricht die repräsentative Demokratie gleichzeitig mit der Politik, welche das wechselseitige Verhältnis des Staates mit der Zivilgesellschaft (die Transkription der Produktionsverhältnisse in staatliche Begriffe) darstellt, zusammen. Die Neofaschisten werden zu Liberalen, verfolgen eine Sparpolitik, schliessen sich der EU und der NATO an, während sich die Linke und die Rechte mit „Reformen“ des Arbeitsrechts und der Altersvorsorge überbieten.
Die befriedete Repräsentation als „Gemeinwille“ einer als notwendigerweise als konfliktreich anerkannten Gesellschaft (hier liegt die gesamte Kraft der Demokratie) ist eine Arbeit und nicht ein Widerschein. Das heisst, dass in der demokratischen Funktionsweise des Staates die Verdinglichung und der Fetischismus Tätigkeiten sind, es ist die Politik als Parteien, Debatten, Beratungen, Kräfteverhältnisse in der spezifischen Sphäre der Zivilgesellschaft, Entscheidungen. All das ist verschwunden. Das Problem der Demokratie ist aktuell, dass sie nur noch eine Besonderheit der gesellschaftlichen Totalität kennt, die fähig ist, am Wettbewerb teilzunehmen, das Verschwinden der Arbeiteridentität und ihrer Repräsentation hat alle anderen in ihrem Untergang mitgerissen, auch die Vereine, die Fronten oder Bewegungen der „Vorstädte“ oder „Quartiere der einfachen Leute“. Doch alleine, als politische Besonderheit, ist die herrschende Klasse nichts, sie bewirtschaftet das Universelle nicht mehr. Im Verschwinden des demokratischen Spiels geht es für die Bourgeoisie um ihre Universalität. Es besteht ein grundlegendes Unbehagen in der politischen Repräsentation. Überall bröckeln die Vermittlungen der Gewalt der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Es ist die Repräsentationsarbeit, welche in der Krise ist. Überall ist es das Verschwinden der Arbeiteridentität und dadurch ihrer sozialdemokratischen und/oder kommunistischen Repräsentation, die das politische Fundament des demokratischen Staates destabilisiert. Dieses ist gleichbedeutend mit der Befriedung einer gesellschaftlichen Kluft, welche die Demokratie vom Moment an, wo sie davon die Repräsentation als Auseinandersetzung zwischen Bürgern ist, als wirklich anerkennt. Die Demokratie ist die Anerkennung des auf unüberwindbare Art und Weise konfliktreichen Charakters der „nationalen Gemeinschaft“, von diesem Standpunkt aus war die Anerkennung der Arbeiterklasse historisch im Zentrum des Aufbaus der Demokratie, sie war der Motor und das Kriterium davon. In den gegenwärtigen politischen Formen des Verlaufs der Krise kann man eine Krise der Hegemonie der kapitalistischen Klasse feststellen. Herrschaft und Hegemonie sind nicht identisch, es kann Herrschaft ohne Hegemonie geben. Die Hegemonie besteht darin, den unumgänglichen Rahmen der Debatten und Oppositionen hervorzubringen, sie bedeutet, dem Anderen die Begriffe selbst seiner Opposition aufzuerlegen. Wenn das zusammenbricht, bleibt für jene, welche im Spiel am schlechtesten platziert sind, nur der Knüppel übrig.
Man muss eine englische Zeitung (The Guardian, 29. Juni) lesen, um den aussagekräftigsten Zeugenbericht bezüglich der Krawalle Ende Juni 2023 zu finden: „Es war Krieg, ich denke wirklich, dass die Jugendlichen hier der Ansicht sind, dass sie im Krieg sind. Sie sehen darin einen Krieg gegen das System. Er ist nicht nur gegen die Polizei gerichtet, es geht viel weiter, sonst würden wir das nicht in ganz Frankreich sehen. Es ist nicht nur die Polizei, die angegriffen wird, sondern auch die Rathäuser und öffentlichen Gebäude, die im Visier sind. Der Tod dieses Teenagers hat etwas ausgelöst. Es gibt viel Wut, aber es ist mehr als das, es gibt eine politische Dimension, ein Gefühl, dass das System nicht funktioniert. Die Jugendlichen haben das Gefühl, dass sie diskriminiert sind und ignoriert werden.“
In Bezug auf die Verbannung in Quartiere, die von den öffentlichen Diensten verlassen worden sind und wo die einzige Präsenz des Staates die Polizei ist, die sich wie eine rivalisierende Bande verhält, wo Arbeit eine Schimäre ist, die Armut eine Banalität und die alltägliche Gewalt aller möglichen Arten des Handels die Realität, geht es darum, sich nicht nur für die objektiven materiellen Bedingungen zu interessieren, sondern auch für den Prozess der Subjektwerdung, d.h. die Art und Weise, wie die Individuen von Tag zu Tag ihre Stellung in den Produktionsverhältnissen empfinden. Die Akzeptierung eines „Systems“ in seiner Selbstvoraussetzung wird auch von normativen Prinzipien, Werten und Verpflichtungen reguliert. Die Revolte ereignet sich plötzlich, wenn die Werturteile, die Gefühle, gegenüber der Funktionsweise der Gesellschaft als übertreten geworden erscheinen, wenn das „System“ die Möglichkeit des materiellen Überlebens darin nicht mehr erlaubt, wenn die Normen und „moralischen Prinzipien“, die den „gewöhnlichen Rassismus“ von Tag zu Tag kontrollieren und bestimmen, übertreten werden. Für die Jugend der „Quartiere“ war die Tatsache, das „Frankreich unter dem Frankreich von unten“ zu sein, die Norm, doch die Ermordung, der gesundheitlich-polizeiliche Lockdown und die Inflation haben diese Norm erschüttert, der „Vertrag“ ist gebrochen, der Angriff gegen die „rivalisierende Bande“ (den Staat), das notwendige oder nicht notwendige Plündern (aber wer kann schon „Notwendigkeit“ definieren?) werden notwendig für das konkrete, als Subjekt angerufene Individuum.
Gelbwesten, Demonstranten gegen die Rentenreform, radikale Umweltschützer von Sainte-Soline, rassialisierte Teenager in den „Quartieren der einfachen Leute“, all das wird sich nicht begegnen, nicht „konvergieren“, solange jeder bleiben wird, was er ist. Nichts ist pathetischer und erbärmlicher als die Aufrufe an die „Arbeiterbewegung“, die Revolte der Jugendlichen der Vorstädte zu unterstützen. Marine Le Pen, Giorgia Meloni, Vox, AFD und Konsorten in Europa, Trump und Bolsonaro anderswo, sind für die Demokratie in Reserve als mögliches Gegenfeuer für ein eventuelles konjunkturelles Ereignis, das zu einer Osmose nicht dessen wird, was die Gelbwesten, der Widerstand gegen die Rentenreform, die radikalen ökologischen Kämpfe, die Revolte der rassialisierten Armen (was auch immer in den Ecken der Welt ihre Existenzformen sein mögen) waren, sondern dessen, was sie ausmachte. Diese seltsame Klasse, die man „Proletariat“ nennt, konstituiert sich nur in der Infragestellung durch alle Unterdrückten/Ausgebeuteten dessen, was sie definiert, und nicht in ihren Forderungen als solche.
R.S.
02.07.23
Ein Kommentar zum Artikel:
Ich möchte auf die paar Zeilen des Absatzes bezüglich des Kampfes gegen die Rentenreform zurückkommen. Ich denke, dass die Aussage "ihr Ziel war nur die Niederlage" nicht nur falsch ist, sondern auch geringschätzend gegenüber den Millionen von Leuten, die auf den Strassen waren und manchmal streikten. Man kann vielleicht sagen, dass ihr Horizont die Niederlage war, und ich denke, dass es diesbezüglich kaum Illusionen gab, doch der Horizont ist nicht das Ziel. Ein Kampf und sogar eine Demo, wie kontrolliert sie auch immer sein mag, ist immer ein Daseinsmoment einer Gruppe, wenn nicht einer Klasse, in all den Unwägbarkeiten ihrer Diversität und ihrer Existenz. Wie scharfsinnig man auch immer sein mag, man kann immer hoffen, dass man den Dingen eine andere Richtung geben oder sie aufschieben kann. Und sowieso gibt es das Glück und die Notwendigkeit, da zu sein, mit oder ohne Illusionen.R.S., 06.07.23
Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net