Startseite > Artikel > Gilles Dauvé - Frieden ist Krieg

Gilles Dauvé - Frieden ist Krieg

Sonntag 30. Oktober 2022

„Die kleinen Länder wie Belgien wären gut beraten, sich dem stärkeren Land anzuschliessen, wenn sie ihre Unabhängigkeit wahren wollen.“ [1]
 
„Ein grosser Krieg in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts ist unvermeidbar, doch er setzt eine gereifte Wirtschaftskrise, eine ausgedehnte Überproduktion, starke Rentabilitätsrückgänge, eine Verschärfung der sozialen Konflikte und der Handelsantagonismen voraus, die gleichzeitig eine neue Aufteilung der Welt und eine Erneuerung des gesamten Systems erfordern. […] Wie in der Vergangenheit wird kein Reformismus den Marsch in Richtung eines weltweiten oder zumindest mehr als regionalen Konflikts verhindern.“ [2]
 
„Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen.“ [3]

* * *

„Den Krieg für den Frieden“, „die Sache des Schwachen gegen den Starken“, „mitten in Europa begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit […] ein Kampf für die Zivilisation“, „in der Ukraine ist ein Genozid im Gang“.

Das erste Zitat ist ein Auszug aus der sozialistischen Zeitung Droit du Peuple und das zweite aus der bürgerlichen Zeitung Times aus London, beide wurden 1914 geschrieben; das dritte stammt vom französischen Premierminister während dem Kosovokrieg 1999 und das vierte vom ukrainischen Premierminister am 9. März 2022.

Die französischen Medien werden nie von der (von Frankreich unterstützten) tschadischen Diktatur sprechen, wie sie es von der (von Russland unterstützten) weissrussischen tun. Genau wie sie nie auf die gleiche Art und Weise von den Millionen durch die französische und amerikanische Armee während dem Indochina- und dem Vietnamkrieg getöteten Zivilisten wie den Massakern an Zivilisten durch die russische Armee in der Ukraine sprechen werden.

Nichts Neues bezüglich der Indoktrination, ausser dass die Propaganda sich intensiviert, wenn der Krieg sich dem Kern Europas nähert. Russland dementiert und verbietet die Begriffe „Krieg“ und „Invasion“ (der französische Staat wartete seinerseits bis 1999, um offiziell anzuerkennen, dass er zwischen 1945 und 1962 in Algerien „Krieg“ geführt und nicht nur „Operationen“ ausgeführt hatte). Die Westmächte euphemisieren, sie liefern der Ukraine via der „Europäischen Friedensfazilität“ Waffen.

Wenn Worte inflationär benutzt werden, verlieren sie ihre Bedeutung. Insbesondere Genozid wird zu einem Synonym für Massaker, obwohl das Wort die Vernichtung eines Volkes als Volk beschreibt: Genau das tat Hitler mit den Juden, aber Stalin hatte zum Beginn der 1930er Jahre nicht die Vernichtung des ukrainischen und später Pol Pot nicht die Vernichtung des kambodschanischen Volkes zum Ziel. Und Putin nicht jene des ukrainischen Volkes.

Doch eher als geistig ist die Verwirrung praktisch. Wenn die Ideologien konfus sind, wenn alle sich auf den Sozialismus, den Kommunismus, das Proletariat oder die Revolution (Titel des 2017 vom gegenwärtigen Präsidenten der französischen Republik veröffentlichten Buches) haben berufen können, dann weil die sozialen Bewegungen bis anhin kein Programm umgesetzt haben, das mit der Ordnung der Dinge bricht. Somit ist in der politischen Mythologie und im Diskurs alles erlaubt. Da der Sozialismus 1914 national gewesen war, konnten sich die Nazis auf ihn berufen: Der Nazi ist der Nationalsozialist.

Wenn wir durch gescheiterte oder abgelenkte Kämpfe zur Passivität verdammt sind, erhalten wir als Zuschauer Informationen und Bilder von einer Realität, gegen welche wir provisorisch nicht reagieren können.

Unmögliche Prognose, theoretische Gewissheit

Wer hatte vorhergesehen, dass Russland 2022 eine Operation in diesem weiten Ausmass gegen einen derart grossen Teil des Territoriums der Ukraine lancieren würde?

„Der Gegensatz zwischen England und Amerika aber ist wirklich zu einem automatischen […] Anwachsen des Zusammenstoßes von morgen, zu einer automatischen Annäherung, zu den [sic!] blutigen Zusammenstoß von morgen herangewachsen“, erklärt Trotzki am 3. Kongress der Kommunistischen Internationale 1921.

Ein Jahrhundert später kennen wir die Bruchlinien und die Abgrenzung der an künftigen Konflikten beteiligten „Lager“ nicht. Aber wir wissen, dass die Rivalitäten zwischen grossen kapitalistischen Mächten – die heute vorherrschenden USA, China, das wiederauflebende Russland, die bisher zur Konstitution als politische Einheit unfähige Europäische Union – die Bedingungen für regionale und eines Tages Weltkriege akkumulieren.

Alles wird getan, um uns davon zu überzeugen, dass die zeitgenössischen Staaten aus Motiven auf die militärische Gewalt zurückgreifen, die ausserhalb des tiefen Wesens eines als friedensstiftend vorausgesetzten kapitalistischen Systems angesiedelt sind. Wenn Russland im 21. Jahrhundert in den Krieg zieht, so sei die Ursache davon die Rückkehr eines Nationalismus, der im Westen zum Glück überwunden sei, doch der im Osten durch eine diktatorische Macht mit masslosen Ambitionen neu belebt werde.

In Wirklichkeit war die Konkurrenz zwischen kapitalistischen Unternehmen nie sanftmütig und der internationale Handel nie ein Faktor für nachhaltigen Frieden. Im Gegensatz zu einer vor 1914 verbreiteten Meinung, die auch von gewissen Sozialisten wie Kautsky übernommen wurde, hindert die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit der grossen Mächte sie nicht daran, sich zu bekriegen. Die Dynamik der Industrie und des Handels entwickelt ein Gebiet auf dem Rücken eines anderen und schafft rivalisierende Pole, jeder davon ist auf einem Territorium basiert und stützt sich auf eine politische Staatsmacht, die auch eine Militärmacht ist.

Friedlicher Westen, kriegerisches Russland

Der amerikanische Kapitalismus hat es selten nötig, Länder zu besetzen: Ihre wirtschaftliche Überlegenheit, ihre höhere Produktivität und ihre direkten Auslandsinvestitionen erlauben der USA eine genügende Kontrolle über weite Teile der Welt, ohne Truppen dorthin zu schicken. In Italien und Frankreich nach 1945 und im Osten Europas nach 1991 stützte sich die amerikanische Macht zumindest genauso stark auf die multinationalen Konzerne wie auf die GIs. Deutschland und Japan wurden nur als Folge des Zweiten Weltkrieges besetzt und die Beibehaltung der amerikanischen Truppen hatte allen voran zum Ziel, den russischen Rivalen einzudämmen. Die USA verzichten nicht auf militärische Interventionen an ihren Grenzen, wie in Mexiko 1914, aber nur um dort zu versuchen, ihnen genehme politische Führer an der Macht zu halten oder an die Macht zu bringen: Sie brauchen den Rio Grande nicht zu überqueren, um ihre Investitionen in den maquiladoras zu fördern.

Obwohl es eine Supermacht ist, stützt sich Russland, wie damals die UdSSR, auf eine kapitalistische Dynamik, die geringer ist als jene der USA, Westeuropas (und Chinas) und seine Macht auf dem Weltmarkt kommt im Wesentlichen von Gas- und Erdölexporten. Es tendiert auch dazu, eine Kontrolle über seine Nachbarn wiederzuerlangen, um zu garantieren, dass sie in seinem Machtbereich bleiben. Es macht nicht nur aus seiner Rolle als grosser Rohstoffproduzent, wie die Länder der OPEC, eine wirtschaftliche und politische Waffe, sondern seine Militärmacht erlaubt es ihm auch (bis jetzt), die Länder Zentralasiens zu unterjochen und eine internationale Rolle zu spielen, die sich wenige Länder der Welt leisten können (China ist – bis jetzt – dazu unfähig). Es entbehrt nicht jeglicher Logik, dass die Führer eines auf dem Weltmarkt geschwächten Russlands glauben, sie könnten die Macht des Landes (und ihren Machterhalt) garantieren, indem sie direkter Waffengewalt einsetzen als ihre Rivalen. Umso mehr, weil das Russland des 21. Jahrhunderts, im Gegensatz zu jener Epoche, während welcher der Einfluss der UdSSR weltweit durch stalinistische KPs verbreitet wurde, über keine soft power wie die USA verfügt.

Aber wieso sich heute an einem Krieg in Europa beteiligen?

Nach 1945 verfügte die UdSSR über ein Imperium, die USA über die Hälfte des Planeten. Das in eine neue Ära der Expansion eingetretene Amerika verspürte nicht das geringste Bedürfnis, sich den polnischen oder chinesischen Markt zurückzuholen, und Russland konsolidierte seine Kapitalakkumulation, ohne Westeuropa etwas anderes als Ideologie offerieren zu können.

Die Konfrontation fand an der Peripherie statt (Korea, Indochina, Mittlerer Osten, Afrika) und wenn sie sich einem Abgrund näherten (Raketenkrise in Kuba 1962), ruderten die USA und die UdSSR zurück. Jede Supermacht anerkannte die Hegemonie des Gegners über sein Gebiet, wo er mehr oder weniger nach Belieben handelte (Guatemala 1954, Ungarn 1956, Berliner Mauer 1961, Tschechoslowakei 1968 usw.). Die zahlreichen Krisen wurden ohne Konfrontation in Europa beigelegt, ohne Waffengewalt während der Berlin-Blockade zum Beispiel (1948-1949). Zwei Lager standen sich gegenüber, sie waren mehr oder weniger in der gleichen Situation insofern, als jedes dazu gezwungen war, das Territorium des anderen zu respektieren, aber sie unterschieden sich auf sozioökonomischer Ebene.

Der „bürokratische“ Kapitalismus hatte es geschafft, die Industrialisierung zu fördern und eine mächtige Rüstungsindustrie aufzubauen, doch er erwies sich als unfähig, Arbeit und Kapital auf produktive Art und Weise zu organisieren. Die Herrschaft einer Klasse, die sowohl das Kapital als auch den Staat kollektiv ihr Eigen nennen konnte, bremste die Konkurrenz – den Motor des Kapitalismus – und hatte zum Ergebnis geführt, dass Hochburgen entstanden, deren Kraft nicht von einer besseren industriellen und gewerblichen Produktivität, sondern von privilegierten Verbindungen zum Staat kam. Die Krise des russischen „bürokratischen“ Kapitalismus löste sich letztendlich in einem System auf, in welchem die „Oligarchen“ nur Besitzer der total von der politischen Macht abhängigen Monopole sind. Die russische Führungsschicht, die unfähig ist, auf dem Weltmarkt zu rivalisieren und im Ausland zu investieren (wie es China erfolgreich tut), hat als einzige Kontinuitätsgarantie nur die Priorität militärischer Macht. Was man auch immer vom „Bruttoinlandsprodukt“ halten mag, seine Statistiken geben eine Grössenordnung: In Dollars beträgt das BIP der USA ungefähr 20 Billionen, jenes Chinas 13, jenes Deutschlands 4 und jenes Russlands 1.6, was jenem Südkoreas oder Italiens entspricht. Russland ist nur eine (grosse) Regionalmacht.

Nach 1989 hat letztendlich die grössere Dynamik der USA und Westeuropas den osteuropäischen Raum, den die UdSSR durch den Krieg 1945 erobert hatte, friedlich von Russland zurückerobert.

Das Gleichgewicht des Schreckens war auch ein soziales Gleichgewicht in jedem der beiden Lager gewesen: Das (Wieder-)Auftauchen neuer Konkurrenten (Deutschland, Japan, China…) hat diesen Status quo unterbrochen und letztendlich die Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts im Kern Europas eröffnet.

Der sowjetische Riese hatte damals nicht das geringste Interesse, eine Wiedereroberung Westeuropas zu versuchen: Im 21. Jahrhundert entsteht durch die – relative – Schwäche Russlands ein Kriegsrisiko in der gesamten europäischen Region. Nach den erzwungenen Sezessionen peripherer Regionen (Transnistrien, Abchasien und Ossetien) und der Besetzung der Krim ist die Invasion der Ukraine eine erneute Bemühung Russlands zur Aufrechterhaltung dessen, was es mehr schlecht als recht zusammenhält.

Es ist häufig die weniger starke Grossmacht, welche die Initiative zur Offensive ergreift. Im 19. Jahrhundert, als England die Welt beherrschte, griff es nur „unterentwickelte“ Länder an und führte Kolonialkriege in Indien und Afrika. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten andere Imperialismen seine Hegemonie in Frage: Die deutsche Wirtschaftsmacht untergrub das berühmte „europäische Gleichgewicht“ und jene Japans bedrohte Asien. Nach 1945 beruhigt sich alles für einige Jahrzehnte dank der russisch-amerikanischen Aufteilung der Welt (Indien blieb abseits davon, China ebenfalls). Aber jetzt lastet das Gewicht der Europäischen Union auf den russischen Ex-Satelliten und jenes Chinas auf Asien.

Die UdSSR war in ihrem Einflussgebiet und an ihren Rändern imperialistisch und kompensierte ihre gesellschaftliche Schwäche, indem sie hinter als Puffer zwischen zwei zwar getrennten aber nie undurchlässigen Blöcken dienenden Satelliten Schutz suchte: Dieser Spielraum existiert praktisch nicht mehr.

Von Korea über Vietnam und Angola bis nach Afghanistan führten die USA und die UdSSR stets Stellvertreterkriege, aber dieses Mal ist die Peripherie sehr nahe.

Während andere Imperialismen ihrerseits nur im Mittleren Osten und in Afrika Krieg führen, hat die NATO sich progressiv in Richtung Osteuropa erweitert und Finnland und Schweden sind dabei, sich dem Bündnis anzuschliessen.

George Kennan (1904-2005), Diplomat und nach 1945 Architekt der Eindämmung (containment) der UdSSR, beurteilte diese Erweiterung als nicht sehr klug: „Wir haben uns verpflichtet, eine ganze Reihe von Ländern zu beschützen, obwohl wir weder die Ressourcen noch die Absicht haben, es ernsthaft zu tun.“ Zehn Jahre später warnte ein Bericht der CIA vor dem Eintritt der Ukraine in die NATO: Es wäre gleichbedeutend mit der Überschreitung der schlimmsten roten Linie, nicht nur in den Augen Putins, sondern der gesamten russischen Elite, und würde Russland zur Einmischung auf der Krim und in der Ostukraine ermuntern.

Die Prediger der Mässigung vergessen, dass Eindämmung und Zurückdrängung (roll back) Hand in Hand gehen, wenn die USA es für notwendig und möglich halten, wie es während ihren Amtszeiten von Truman und Eisenhower praktiziert und anerkannt wurde. Seit mehr als 20 Jahren dämmt die NATO Russland gleichzeitig ein und drängt es zurück. Es ist normal, dass ein Staat oder ein Bündnis von einem Rückschlag für einen Konkurrenten profitiert, um die eigene Stellung auszubauen (verhinderter Versuch der Erschaffung einer Autonomen Republik Aserbaidschan im Norden Irans 1945, der Ansiedlung in Asien, Afrika…). Die NATO führt ihrerseits 2022, wie damals die UdSSR als sie Nord-Vietnam bewaffnete, einen Stellvertreterkrieg gegen Russland.

Wie er auch immer aussehen mag, der russisch-ukrainische Frieden wird eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sein. Auf der Ebene Europas ist die Frage, ob die Europäische Union sich auf eine Freihandelszone beschränken oder sich mit einer politischen Führung rund um die deutsch-französische Achse ausstatten wird, die über eine „europäische“ Armee verfügt – eine Hypothese, die in Anbetracht der gegenwärtigen Entwicklung, welche die amerikanische Vorherrschaft über Europa festigt, immer weniger wahrscheinlich wird. Der Sieg (oder die Vermeidung einer Niederlage) hat ohnehin nicht die gleiche Bedeutung für Russland (eine starke, aber regionale Macht) und die USA, die sich veranlasst sehen, ihre Weltmacht gegen das zu ihrem Hauptgegner werdenden China zu fokussieren. Doch wir werden es vermeiden, Trotzki mit tollkühnen Vorhersagen zu imitieren.

Rationalität = 600 Millionen Tote

Trotzdem überraschte die russische Invasion. Die Schwäche der Rebellen im Osten des Landes hatte Russland 2014 zur militärischen Intervention gedrängt, um die Geburt der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk zu unterstützen. Aber deswegen gleich in einen grossen Teil des Landes einfallen und Kiew belagern…

War es 1982 „rational“ für Grossbritannien, eine Kriegsflotte ans andere Ende der Welt zu schicken, um ein paar kleine Inseln ohne wirtschaftlichen Wert oder strategische Bedeutung zu behalten?

Man kann rational davon ausgehen, dass Hitler keine Siegeschance gegen die englisch-russisch-amerikanische Koalition hatte, doch er hielt es für möglich, die UdSSR zu besiegen, bevor die USA all ihre industrielle Macht mobilisieren würden. Der Krieg ist, man weiss es, „das Gebiet der Ungewissheit“. Die Führungsstäbe glaubten 1914, dass es nach sechs Monaten vorbei sein würde. Als sie in Afghanistan einfielen, glaubten die Russen (1979) dann die Amerikaner (2001), dass eine massive Intervention es erlauben würde, einen Gegner zu besiegen, der logischerweise militärisch als sehr unterlegen betrachtet wurde. Durch den Sieg über ihn war das wirkliche Ziel die Konsolidierung eines Imperiums – wirtschaftlich für die USA, fast kolonial für die UdSSR – gegen einen Rivalen mit einer Kosteneinschätzung, die ursprünglich als vernünftig beurteilt worden war. Die beiden Imperialismen konnten sich beruhigen, wenn sie an ihre erfolgreichen Aussenoperationen dachten: Ungarn (1956) und Dominikanische Republik (1965).

Doch die Sache ist nie wesentlich militärisch. Die kriegführenden Mächte hörten 1918 letztendlich auf, weniger weil die Lähmung auf dem Schlachtfeld sie dazu zwang, sondern aufgrund des Zerfalls der Heimatfront, allen voran in Deutschland und Österreich-Ungarn. Im Gegensatz dazu führte das Naziregime einen „totalen“ Krieg, weil er in erster Linie für die Vorherrschaft des deutschen Volkes ausgelöst worden war und wenn dieses sich für das durch die Nazis bestimmte Schicksal als unwürdig erwies, dann verdiente Deutschland für Hitler den Untergang. Normalerweise führt man nicht Krieg, um zu zerstören, noch weniger um alles zu zerstören, doch die Logik der Nazis akzeptiert die Selbstzerstörung Deutschlands 1945. Der Krieg setzt zwei Mächte einander entgegen, keine davon entscheidet, was die andere tun wird, und die Gegenseitigkeit des Handelns enthält die Möglichkeit der Verschärfung. Die Selbstbeschränkung (verhindern, das zu zerstören, was man erobern will) ist ihrerseits mit ihren Grenzen konfrontiert. Es ist eine Sache, ein Mörder zu sein, eine andere, sich selbst zu töten, häufig schliesst das eine das andere aus, Hitler jedoch tat beides: Für ihn war das Prinzip der Politik „Alles oder Nichts“.

Putin ist nicht Hitler, aber auch für ihn ist die Grenze zwischen einem Teilziel (eine Grenze modifizieren) und einem Vollziel (eine politische Veränderung erzwingen, das Land neutralisieren) leicht überschritten: Manchmal zwingt ihn die politische Führung eines Landes, bis zu jenem Punkt und auf eigene Gefahr darüber hinauszugehen.

Aber was ist eine gewonnener oder verlorener Krieg? Und vor allem, was sind die Folgen davon? Man wiederholt, dass die amerikanischen Interventionen in Irak und Afghanistan letztendlich Niederlagen waren, doch sowohl in Bagdad als auch in Kabul handelte es sich um Polizeioperationen eines grossen Landes gegen ein kleines. Weder die zentralen Interessen der USA und noch weniger ihr Überleben standen auf dem Spiel. Der Sieg ist nicht zwingend – in Vietnam auf jeden Fall war er das nicht – gleichbedeutend mit einer Besatzung des Landes, sondern mit der Tatsache, sich nicht mehr von ihm bedroht zu fühlen: Haben die USA in Vietnam 1975 verloren, während das Land seit mehr als 20 Jahren offen ist für nach niedrigen Löhnen suchende ausländische Kapitale?

Was auch immer die Erkenntnis der russisch-ukrainischen Affäre sein mag, in ihrer Konfrontation mit Russland versuchen die USA – und mit ihnen die Europäische Union – auch, ihre Machtposition gegenüber China zu sichern. Es gab zwei nukleare Supermächte: Sie sind mittlerweile zu dritt (zu viert oder zu fünft, wenn man Indien und Pakistan mitzählt) und, obwohl ein künftiger Einsatz von Atomwaffen nicht gewiss ist, wäre es naiv, ihn auszuschliessen, weil er katastrophale Auswirkungen für die Menschheit, aber auch für die an ihrer Stellung und an ihren Privilegien hängenden Meister der Welt haben würde.

Der einzige Richter über die „vitalen Interessen“ eines Landes und die zu seiner Verteidigung gewählten Mittel ist weder die Menschheit, noch ein abstrakter Grund oder eine Definition der Souveränität, sondern die Anführer, welche sich an der Spitze des Staates befinden. Wenn er die Atombombe gehabt hätte, hätte der Nazi Hitler nicht gezögert, sie einzusetzen. Der Demokrat Truman zögerte (das ist einer der Unterschiede zwischen Faschismus und Demokratie) und setzte sie zweimal ein.

Fünf Jahre später, in Anbetracht aller in Korea erlittenen Rückschläge, erklärt der amerikanische Präsident, er ziehe alle Möglichkeiten in Betracht, „was alle Waffen mit einschliesst, die wir haben“, auch die Atomwaffe: „Wir haben ernsthaft daran gedacht.“ Die nukleare Bedrohung wird von Nixon gegen Nordvietnam und von Trump gegen Nordkorea (2017) wiederholt.

In den 1960er Jahren erwägt der amerikanische Führungsstab, der die UdSSR als unfähig einschätzt, einen ersten Atomschlag zu überleben und mit bedeutenden Vergeltungsmassnahmen zu antworten, einen Atomangriff gegen die UdSSR und China, der ungefähr 400 Millionen Tote, mehr als 100 Millionen in den Nachbarländern und ebenso viele in Westeuropa, also gesamthaft 600 Millionen Tote zur Folge hätte. Das alles ist absurd, wird man sagen, der Preis dafür wäre zu hoch… Aber für wen? Die Regierenden sind nicht verrückt und die Soldaten nicht blutrünstig. Ihr Wahnsinn hat Methode, würde Shakespeare sagen: Ein monströser Gegner verlangt gegen ihn den Einsatz von schrecklicheren Mitteln als seine.

Zu Beginn des 21. Jahrhundert haben die USA ihre Pläne aktualisiert und Russland und China haben ihre eigenen. Die staatliche Rationalität ist es, gemäss dem Interesse des Landes und jenem ihrer Anführer zu handeln, die beiden fallen zusammen. Das Ziel ist der Fortbestand, nicht der Selbstmord, doch Masslosigkeit und Exzess sind Teil der Gleichung. Die Reiche handelten 1914 nicht irrational, genauso wenig wie die Nazis 1939 oder 1941. In Vietnam hatte die Dominotheorie ihre eigene Rationalität. Das Gleiche gilt für die „Strategie des Schreckens“, im Rahmen welcher die USA, um ihre eigene Zerstörung zu begrenzen (mutually assured destruction, MAD), regelmässig versucht haben, eine Überlegenheit, und somit eine Gewinnchance gegenüber der UdSSR zu erlangen und zu erhalten. Zum Preis von hunderten Millionen Toten, doch das ist ein Preis, den man bereit ist, zu zahlen, denn, so schlimm er auch sein mag, kann er als besser beurteilt werden als die Knechtung durch „Feinde des Menschengeschlechts“, von welchen Schlimmeres zu erwarten ist.

Während dem chinesisch-japanischen Krieg 1938 lässt die nationalistische Regierung die Dämme des Gelben Flusses zur Verlangsamung des Fortschritts der japanischen Truppen zerstören: Das Ziel wird erreicht und die Überschwemmung tötet 500‘000 Chinesen. Es ist wahrscheinlich das grösste Kriegsverbrechen der ganzen Geschichte, besonders an ihm ist, dass es eine Armee ihrer eigenen Bevölkerung aufgebürdet hat. An jenem Tag, wo es eine Regierung, welche auch immer, für vernünftig hält, 500 Millionen Menschen zu töten, um eine Milliarde zu retten, wird sie es tun.

Die USA sollen über ungefähr 1‘350 einsatzbereite Atomsprengköpfe verfügen (etwa hundert davon auf Stützpunkten in Deutschland, Italien, Belgien und den Niederlanden), gegen 1‘400 auf russischer Seite. Auf diesem Niveau der „Überzerstörung“ hat der Unterschied in den jeweiligen Kapazitäten zum overkill keinen Sinn mehr.

Wenn die Nation unvollständig ist

Was man auch immer über eine Globalisierung wiederholen mag, die Staaten und Grenzen unter der Herrschaft einer kosmopolitischen Finanzoligarchie und trans- und multinationaler Konzerne absorbiert haben soll, der Planet ist nicht deterritorialisiert. Er ist weiterhin in staatlichen Entitäten organisiert: Obwohl sie nicht dem amerikanischen „Schmelztiegel“ ähneln, funktionieren einige davon ziemlich gut als Nationalstaaten, andere nicht, und jene Länder, welche die Welt beherrschen, gehören zur ersten Gruppe. Die USA, China, Russland, Indien sind Nationalstaaten und eine bis jetzt nicht überwundene Schwäche der Europäischen Union ist es, kein nationales Gebilde zu sein – föderal oder nicht.

Ein Staat ist eine politische Macht, die fähig ist, sich auf einem von ihr kontrollierten Territorium durchzusetzen. Was spezifisch ist an einem Nationalstaat, ist die Tatsache, dass er „häufig aufgrund der Sprache, der Herkunft oder der Religion sehr verschiedene Bestandteile dank der Möglichkeit einer selbstzentrierten kapitalistischen Entwicklung innerhalb eines sowohl militärisch als auch fiskalisch beherrschten Territoriums vereint. […] Die Nation setzt diese moderne Schöpfung namens Individuum voraus, ein Wesen, das seiner von der Geburt abhängigen Bindungen entledigt und im Prinzip ‚frei‘ ist, Bourgeois oder Proletarier zu werden, und sie ist die Antwort auf die Notwendigkeit, diese Individuen in einer neuen Gemeinschaft miteinander zu verbinden, wenn die vorherigen sich aufgelöst haben. […] Jenseits der Individuen vereinigt die Nation die Klassen […] durch eine flüssige Zirkulation sowohl des Kapitals als auch der Arbeit, einem relativen Ausgleich der Produktivitätsniveaus der Regionen […] Ein Markt allein genügt nicht: Die Addition der Konsumenten ergibt keine Kohäsion.“ [4]

Weil sie sich nicht damit begnügten, Rohstoffe zu exportieren oder ausländische Kapitale zu empfangen, sondern über eine kompetitive industrielle Macht verfügten, waren die USA fähig, die zwischen 1845 und 1848 von Mexiko eroberten Territorien zu integrieren, was sechs zusätzliche Staaten im Bund bedeutete. Es ist die Kapazität, sich ins globale kapitalistische System einzufügen, die es erlaubt, die Gesamtheit der Bevölkerung einzuschliessen, indem man ihr jenseits der Kriterien der Sprache, der Geburt oder der Religion die Zugehörigkeit zu den „Vereinigten Staaten von Amerika“ gibt. Von diesem Zeitpunkt an ist der Spanischsprachige nicht zuerst oder wesentlich „spanisch“ oder „latino“, er ist amerikanisch. Wir schreiben die Gesamtheit der Bevölkerung, nicht die Totalität, und diese Gesamtheit fluktuierte: den neuen Einwanderer gegenüber feindlich gesinnter „Nativismus“, Beschränkung der asiatischen Einwanderung, Quoten gegen die Juden in den Eliteuniversitäten bis in die 1950er Jahre und man ist besser weiss als African American… Trotz allem fördert der Kapitalismus eine (sehr relative) Gleichstellung, auch an der Spitze (farbige Männer und Frauen sind Staatssekretär, Armeechef oder Präsident der USA geworden).

Dort, wo eine solche sozioökonomische Vereinigung des Landes und somit eine politische Befriedung unmöglich oder unvollendet sind, ermutigen die Entwicklungsunterschiede das politische Zentrum dazu, die unterentwickelten Gebiete zu ignorieren oder sogar zu diskriminieren, was Zentrifugalkräfte begünstigt, die dazu tendieren, sich von einem Zentrum abzutrennen, das seinerseits unfähig ist, sie zu beherrschen.

Die im 20. Jahrhundert aus den sukzessive vom Osmanischen Reich abgetrennten Regionen entstandenen Länder erlebten eine permanente Instabilität, besonders Griechenland, und Serbien, wo 1903 die Königsfamilie massakriert und durch eine neue Dynastie ersetzt wird. Diese unvollständigen Nationen sind Teil des Spiels jener Mächte, welche stärker sind als sie, allen voran Frankreich und England. Die Allianzen ändern sich, Grossbritannien befürchtet, dass die Unabhängigkeit der neuen slawischen Staaten Russland stärkt: Im Krimkrieg (1853-1856) – die Krim war und ist für die russische Marine eine Halbinsel von strategischer Bedeutung – verbünden sich Frankreich und England mit der Türkei gegen Russland.

Im Osten und in der Balkanregion stellen „Minderheiten“ ein Problem dar. Engels schreibt Bernstein am 22. Februar 1882 folgendes: „Teilen sich die Serben in 3 Religionen […] Bei diesen Leuten geht aber Religion noch vor Nationalität und jede Konfession will herrschen. Solange hier kein Bildungsfortschritt, der wenigstens Toleranz möglich macht, heißt Großserbien nur Bürgerkrieg.“ Die Annexion Bosniens und Herzegovinas, wo eine Million Serben lebten, durch Österreich nährt einen Gegensatz zwischen dem österreichisch-ungarischen Reich und Serbien – eine explosive Situation, aus welcher der Funke 1914 entsteht und die am Ende des 20. Jahrhunderts erneut brodelt.

Die Bewegung der „Nationalitäten“ damals, dann der nationalen Befreiungskämpfe im 20. Jahrhundert, war eine historische Neuheit mit weltweiter Bedeutung, doch die Erschaffung eines nationalen Gebildes ist nur dort möglich, wo die kapitalistische Entwicklung relativ homogen und kohärent ist: Sonst „geht […] Religion [oder jedes andere identitäre Kriterium] noch vor Nationalität“.

Die Mehrheit der neuen Staaten leidet nicht nur an Zwietracht, sondern, wie es Wilhelm II. gegenüber dem König der Belgier 1913 bemerkte, es ist zwar häufig notwendig für ein kleines Land, sich einem Lager anzuschliessen, doch das Spiel ist riskant.

Im Allgemeinen wird die Unabhängigkeit dank einer Grossmacht erlangt und häufig danach durch eine andere, mit ersterer rivalisierenden, garantiert. Der entstehende israelische Staat kam 1948 in den Genuss von tschechischen Waffen, die mit dem Einverständnis einer zur Schwächung der englischen Vorherrschaft über die Region gewillten UdSSR geliefert wurden: Danach suchte Israel anderweitig Unterstützung. Genauso wurde Ägypten von einem, dann vom anderen Lager bewaffnet. Mit der Gefahr einer Kursänderung: Die Kurden wurden von den USA in ihrem Kampf gegen den Islamischen Staat unterstützt, aber was wird aus Rojava werden, wenn für die Amerikaner die Türkei, eine Stütze der NATO in der Region, zur Priorität wird?

Der Schutz eines „kleinen“ Landes durch ein „grosses“ bürgt nicht notwendigerweise für Sicherheit. Die NATO kündigt im April 2008 an, sie sei bereit, Georgien und die Ukraine aufzunehmen: Im August greift Russland Georgien an. Die Unterscheidung Angreifer/Angegriffener deutet auf den Ort, wo der Konflikt ausgebrochen ist, nicht auf seine Ursache oder seine Logik.

„Es gibt so viele wirtschaftliche, finanzielle, politische und militärische Aspekte, welche die Innen- und Aussenpolitik eines Staates determinieren, dass dieser – vor allem, wenn er sich in einem geopolitischen Gebiet von grosser Bedeutung für die interimperialistischen Rivalitäten wie Osteuropa befindet – gezwungen ist, seine ‚Unabhängigkeit‘ und somit sein Territorium, seine Wirtschaft und seine Regierung an einen der imperialistischen Pole zu verkaufen, an jenen, welcher am ehesten die nationalen Interessen begünstigen oder ihn zumindest vor den Begehrlichkeiten feindlicher Länder beschützen kann.“ [5]

Was ist ein „Ukrainer“? Was ist ein „Russe“?

„Unsere Geschichte ist anders!“, sagte ein Ukrainer, um zu erklären, dass man die Lenin-Statuen niederreisst, während das Portrait Stepan Banderas überall eine Blütezeit erlebt. Der bolschewistische Anführer symbolisiere Diktatur und ausländische Herrschaft. Der nationale Aktivist hingegen, was auch immer seine Verantwortung für den Tod hunderttausender Juden (und zahlreicher polnischer Zivilisten) sein mag, verkörpere den ukrainischen Freiheitsdrang. Geboren im Jahr 1909, repräsentiert er allen voran den allen nationalen Bewegungen inhärenten Zickzackkurs. Bandera, der abwechselnd mit den Deutschen verbündet, dann ihr Gegner war, von ihnen 1941 inhaftiert wird, weil sie keine unabhängige Ukraine wollen, dann an ihrer Seite kämpft, daraufhin kurz gegen die Sowjets, nach 1945 mit dem deutschen und dem britischen Geheimdienst zusammenarbeitet, die bis 1955 Widerstandsgruppen in der Ukraine unterstützten, stirbt 1959, wahrscheinlich ermordet vom KGB: Zuerst war er Anhänger eines ethnischen Nationalismus, letztendlich einer gewissen Sozialdemokratie. Den Umständen entsprechende Ideologie, Suche nach inkompatiblen Verbündeten – der Nationalismus stützt sich auf das, was er finden kann, und wechselt die Unterstützer, manchmal mit Erfolg, gegebenenfalls zu seinem Nachteil.

So wie sie heute existiert, ist die Ukraine nicht die einzige staatliche Realität in der Region: Vor 1914 dachte kaum jemand, dass ein weissrussisches Volk existiert, für welches es gerechtfertigt wäre, einen unabhängigen Staat zu gründen, und in Vilnius, der Hauptstadt des aktuellen Litauens, sprachen kaum einige Prozent der Bewohner litauisch. Transkarpatien, (ehemals österreichisches) Galizien im Westen, Krim im Süden – die Bestandteile der Ukraine variierten im Verlauf des 20. Jahrhunderts, genau wie das, was heute den Namen Russland, Ukraine, Polen, Weissrussland und Litauen trägt, seit 1917 Grenzen in ständigem Wandel hatte.

Doch die aus dem Russischen und dem Osmanischen Reich entstandenen Staaten leiden nicht nur an den häufig in Frage gestellten Aussengrenzen, sondern auch oder sogar noch mehr an dem, was man innere Trennungen nennen könnte.

Die kapitalistische Produktionsweise sammelt und vereinigt die Bevölkerungen dort, wo das Lohnverhältnis, eine Zirkulation der Arbeit sowie des Kapitals und die endogene Entwicklung es erlauben. In Ländern wie Frankreich, Grossbritannien oder den USA existieren verschiedene Sprachen und Religionen nebeneinander, aber eine Sprache herrscht vor, manchmal zwei (Französisch und Deutsch in der Schweiz). Spanisch ist die Muttersprache von 40 Millionen Amerikanern von 330 Millionen und sie bekennen sich in einem mehrheitlich protestantischen Land zur katholischen Religion, ohne dass deswegen ein „Ethnokonfessionalismus“ entstehen oder eine Gesellschaft gespalten würde, welche durch „diese Variabilität […] und den Uebergang aus einem Zweig in den andren […] [d]ie beständige Bildung neuer Arten der Arbeit […] daher fortgehende Teilung der Arbeit im Ganzen der Gesellschaft“ [6] charakterisiert ist.

Mangels dieser Bedingungen leiden die nach 1914-1918 entstandenen Staaten in der Zwischenkriegszeit (und, trotz den Bevölkerungstransfers, immer noch) an einem minoritären „Nationalitätenproblem“.

Wir werden nicht auf jene Episoden 1918 eingehen, während welcher sich Bolschewisten, weisse Russen, Polen und diverse Parteien und Regionen dessen einander entgegenstanden, was heute die Ukraine ist, die damals unter dem Einfluss der Gewinner von 1914 bis 1918 stand, besonders Frankreich. Polen, mit der Unterstützung eines Teils der lokalen Bevölkerung, fällt 1920 mit der Hoffnung ins ukrainische Territorium ein, dort einen Pufferstaat zu kreieren, der es vor Russland beschützt. Polen scheitert, aber annektiert die westlichen Regionen des Landes und einen Teil Litauens und Weissrusslands.

Die polnische Grenze wird 1945 weiter nach Westen versetzt, was die Umsiedlung von Millionen Einwohnern zur Folge hat: erzwungener Aufbruch der „Deutschen“ in Richtung Deutschland und der in der Ukraine, in Weissrussland oder Litauen wohnhaften Polen in Richtung Polen, das soeben Ostpreussen, Pommern und Schlesien zugesprochen bekommen hat. Eines der Ziele ist es, Staaten mit einer homogenen Bevölkerung aufzubauen: „Alle Länder werden nach nationalen Prinzipien aufgebaut, nicht nach multinationalen“, erklärt im Mai 1945 Gomulka, der Anführer des neuen Polens.

Obwohl die der UdSSR angehörige Ukrainische sozialistische Sowjetrepublik einen Drittel der Industrieproduktion der Union lieferte, blieb ihre Wirtschaft zu abhängig von Russland für eine selbstzentrierte Entwicklung, die eine gesellschaftliche und politische Kohäsion des Landes begünstigt hätte. Nach dem Verschwinden der UdSSR hat die Mehrheit der ukrainischen Bürger eine gute Praxis der russischen Sprache und Millionen von ihnen arbeiten und leben in Russland. Doch wenn sich im Donbass einige Millionen Einwohner „russisch“ nennen – im Gegensatz zu jenen Kiews – und Russland einen separatistischen „Ethnonationalismus“ manipulieren konnte, dann weil diese Region und ihre Bevölkerung nur sehr beschränkt in den Rest der Ukraine integriert worden sind.

Die nationale Unfertigkeit widerspiegelt sich im politischen Leben. Die berühmten russischen „Oligarchen“ haben ihre Pendants in der Ukraine. Eine „Gasprinzessin“ (Julia Timoschenko) war dort Premierministerin und ein „Schokoladenkönig“ (Petro Poroschenko) Präsident der Republik. Der ukrainische Parlamentarismus ist weit von den Praktiken Westeuropas entfernt. Obgleich die Ukraine eine bedeutende Militärindustrie und eine exportierende Landwirtschaft besitzt, streiten sich Monopole, manchmal gestärkt durch mediale Imperien, um die wirtschaftlich-politische Macht und teilen sie untereinander auf und es kam vor, dass der Staat direkt einen Oligarchen zum Gouverneur einer Region ernennt. Die Orange Revolution 2004 hat dem keinen Riegel geschoben, Maidan 2014 auch nicht.

Vor 20 Jahren schrieb Emmanuel Todd: „Die kulturellen Unterschiede zu Rußland sind ausreichend groß, damit sich die Ukraine als eigenständig definieren kann. Aber mangels einer eigenen Dynamik vermag sie sich dem russischen Einfluß nicht zu entziehen, ohne unter den einer anderen Macht zu geraten. Die amerikanische Sphäre ist zu weit entfernt und materiell zu wenig präsent, um das russische Gewicht auszubalancieren. Europa […] ist eine reale Wirtschaftsmacht, aber in militärischer und politischer Hinsicht nicht dominant. Falls Europa eine einflußreiche Stellung in der Ukraine anstrebt, liegt es nicht in seinem Interesse, sie zu einem Satelliten zu machen. […] Hier können wir ermessen, wie wenig die Vereinigten Staaten im Herzen Eurasiens wirtschaftlich konkret präsent sind: […] Vom Export einiger Militärgüter und Computer abgesehen, haben die USA ihr wenig zu bieten. […] Amerika kann hier nur die Illusion einer Finanzmacht verbreiten – und zwar über die politische und ideologische Kontrolle des Weltwährungsfonds. […] Dagegen offenbaren die wirtschaftlichen Verflechtungen der Ukraine deren Abhängigkeit von Rußland, Europa […] Die Vereinigten Staaten befinden sich, gelinde gesagt, nicht mehr in einer Situation der Überproduktivität wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit, weshalb sie denn auch nicht als Geberland eines neuen Marshall-Plans auftreten konnten, wie ihn die im Umbau begriffenen ehemaligen kommunistischen Länder benötigt hätten.“

Um nach 1914-1918 ihre Unabhängigkeit zu erlangen, stützte sich die nationale ukrainische Bewegung aufeinanderfolgend auf Deutschland, die Entente, d.h. die Gewinner des Krieges, dann 1920 auf Polen. Ein Jahrhundert später hat „die Ukraine […] lange von den Widersprüchen zwischen Russland und dem Westen profitiert, doch das erwies sich letztendlich als gefährliches Spiel. Die Ukraine zählte für Russland mehr als jedes andere Land.“ [7]

Russland hatte 2014 versucht, die Ukraine zu seinem Vorteil zu föderalisieren: Doch mit der Annexion der Krim „gelang es nicht, die Unterstützung der Russischstämmigen ausserhalb des direkt von der russischen Armee kontrollierten Gebietes zu mobilisieren“ [8]. Der Kreml erhoffte sich 2022 eine Korrektur dieses Scheiterns, indem er seine Ambitionen über den Donbass hinaus ausweitete: Der Fehler dabei war, den nationalen Faktor – beim Gegner – unterschätzt zu haben.

Die Volksrepubliken Lugansk und Donezk kamen zu den unter dem bewaffneten Druck Russlands entstandenen Mikrostaaten hinzu: Transnistrien losgelöst von Moldawien, Abchasien und Südossetien übernommen von Georgien.

Innerhalb Ex-Jugoslawiens hatte Belgrad sezessionistische Entitäten erschaffen: in Kroatien die Republik Serbische Krajina (heute verschwunden) und in Bosnien die Republika Srpska, die heute fester Bestandteil des Landes ist, obwohl der Separatismus dort lebendig bleibt. Der 2008 dank des Eingreifens der NATO unabhängig gewordene Kosovo ist seinerseits weder von der UNO noch von der Europäischen Union als Staat anerkannt.

Doch andere, obwohl diese Marionettenstaaten ihre Existenz dem Krieg verdanken, versuchen, unter dem Druck einer ihnen eine nach Separation drängende Kapazität zur Autonomie verleihenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik zu entstehen: Katalonien, Schottland, Flandern und Padanien (nur die beiden ersteren haben gewisse Erfolgschancen). Die weltweite sozialisierende Macht des Kapitalismus ist auch eine Kraft, die Bevölkerungszusammensetzungen zersetzt, bildet, auftrennt und neu formiert.

Der Krieg in der Ukraine wird wohl mit einem Kompromiss enden, der dem Donbass (womöglich ergänzt mit einem Streifen entlang des Schwarzen Meeres) einen mehr oder weniger grossen Grad an Autonomie oder gar die Unabhängigkeit zugesteht. Was den ukrainischen „Burgfrieden“ betrifft, hat er es geschafft, die Bevölkerung zu „ukrainisieren“, die „Russischsprachigen“ eingeschlossen, ausser im Südosten, was die geringe Lebensfähigkeit einer ukrainischen Nation, so wie sie in den 1945 gezogenen und 1991 bestätigten Grenzen existierte, unter Beweis stellt.

1914 und 2022

In den Jahrzehnten vor 1914 war Engels nicht der einzige, der die Möglichkeit eines europäischen Krieges in Betracht zog, wo „unsre Partei in Deutschland […] momentan von der Flut des Chauvinismus überschwemmt und gesprengt [würde], und ebenso ging’s in Frankreich“ [9]. Dieser Konflikt, „von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit“, wo Millionen Männer kämpfen werden, wird zu einem Fall der Reiche und „d[er] allgemeine[n] Erschöpfung und d[er] Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse“ führen. „Der Krieg mag uns vielleicht momentan in den Hintergrund drängen, mag uns manche schon eroberte Position entreißen. Aber […] so mag es gehn wie es will: am Schluß der Tragödie […] ist der Sieg des Proletariats entweder schon errungen oder doch unvermeidlich.“ [10] Trotz „eine[r] Verschärfung des Chauvinismus in allen Ländern und […] eine[r] Periode der Reaktion als Folge der Erschöpfung aller ausgebluteten Völker“ [11] wäre der Kapitalismus davon dermassen erschüttert, dass sein Fortbestand unmöglich wird.

In Anbetracht des Militarismus blieb die sozialistische Arbeiterbewegung nicht passiv. So wie sie im Unternehmen und auf der Strasse (und im Parlament) agierte, versuchte sie, innerhalb der Militärinstitution zu intervenieren: Die CGT schickte eine geringe Summe (den „Soldatengroschen“) an ihre aufgebotenen Gewerkschaftsmitglieder, um die Verbindung mit der Arbeiterklasse zu wahren. Doch die Parteien und Gewerkschaften zogen keine andere Aktion in Betracht als einen „Kampf für den Frieden“, der den Krieg unmöglich machen sollte: Nichts war für den – als unwahrscheinlich vorausgesetzten – Fall geplant, wo er trotzdem eintreten würde. Ob man daran geglaubt haben mag oder nicht, die Drohung, einen (pazifistischen für die Gemässigten, aufständischen für die Radikalen) Generalstreik auszulösen, war genauso wenig in der Wirklichkeit verankert wie die verkündete Absicht, die Revolution zu machen – eines Tages.

Bei den meisten künftigen Kriegsparteien ist auch der Monat, der den Mord am Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo von der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien trennt, von zahlreichen massiven Demonstrationen gegen den drohenden Krieg geprägt: Doch ihr Ziel ist es, Druck auf die bürgerlichen Regierungen auszuüben, nicht selbst als Proletariat zu handeln. Das war logisch: Die immense Mehrheit der Sozialisten und Syndikalisten (und ein Teil der Anarchisten) verhielt sich als aus der Arbeiterklasse kommender Gegner und Partner einer bürgerlichen Welt. Sie akzeptieren de facto (was man auch immer davon denken oder sagen mag) das Wesentliche der Gesellschaft und bereiten die Akzeptanz für grosse von den Anführern getroffene Entscheidungen vor – besonders den Krieg. Im Sommer 1914 verriet die Zweite Internationale vielleicht ihre Ideologie, aber nicht ihre Praxis.

In Anbetracht dessen, was das Proletariat nicht verhindern konnte oder wollte, muss jeder Revolutionär, gemäss Lenin, die Niederlage seines eigenen Landes herbeiwünschen und nach Möglichkeit dazu beitragen. In Russland wäre, vom Standpunkt der Arbeiterklasse und der arbeitenden Masse aus, das „geringere Übel“ die Niederlage der tsaristischen Monarchie. Lenin hält kommende Revolten in der Armee wie 1905 für möglich. Realitätsfremd? Nein, wenn man der Ansicht ist, dass die kapitalistische Welt sich in einer schlimmen Krise befindet, einer Krise, die provisorisch vom Burgfrieden überwunden worden ist, die jedoch unvermeidlich verschlimmert durch die Fortsetzung des Krieges wieder zutage treten wird. Von der gängigen Sichtweise eines Kapitalismus, der Kriege auslöst, kommt Lenin zu jener eines Kapitalismus als Ursache von Krieg und somit von Revolution.

Nachdem der Krieg einmal begonnen hatte, konnte nur eine kleine Minderheit basierend auf der von Liebknecht ausgedrückten Überzeugung vom Feind im eigenen Land agieren. Denn damit ein „revolutionärer Defätismus“ zu einer materiellen Kraft werden konnte, mussten die Kämpfe stecken bleiben, um die militärischen und patriotischen Energien zu verschleissen, wie Engels diese Möglichkeit geahnt hatte: „Es ist eine evidente Tatsache, daß die Desorganisation der Armeen und die gänzliche Lösung der Disziplin sowohl Bedingung wie Resultat jeder bisher siegreichen Revolution war.“ [12] „Am günstigsten wäre eine russische Revolution, die aber nur nach sehr schweren Niederlagen der russischen Armee zu erwarten.“ [13] Die bolschewistische Strategie hatte nur auf der durchdachten Gewissheit gegründet einen Sinn, „dass der Krieg in Europa eine revolutionäre Lage schafft“ [14]: Er rief zu einer Abspaltung (die damals von Rosa Luxemburg als voreilig beurteilt wurde) von einer breiten politischen Bewegung auf, die gewiss gescheitert war, doch wovon sich die „gesunden“ Teile abtrennen sollten, um revolutionäre Parteien (wieder-)aufzubauen und von der allgemeinen vom Krieg ausgelösten Krise zu profitieren, um den Kapitalismus zu stürzen.

Die Situation ist ein Jahrhundert später nicht die gleiche, besonders aufgrund des Fehlens substantieller radikaler Minderheiten, an welche sich Lenin richtete. Und der Widerstand gegen die imperialistischen Kriege (jener 2003 gegen den Irak z.B.) ist entweder schlichtweg pazifistisch oder unfähig, die Situation zu beeinflussen.

„Die Aufrufe zur Desertion, zum Defätismus und zur Sabotage des Krieges auf beiden Seiten, die derzeit von zahlreichen Milieus verbreitet werden, sind freilich vom Klassenstandpunkt aus betrachtet die einzig tragfähige Position. Sie sind also lobenswert und teilbar – und gewiss einiges würdevoller als der unilaterale Anti-Imperialismus jener, welche sich verpflichtet fühlen, jedes Mal einen ‚schwächeren‘ Imperialismus zu unterstützen. Das zumindest im Prinzip. Aber solche Aufrufe laufen Gefahr, im Grunde, wenn auch nicht ‚ideologisch‘, so doch zumindest vollständig steril zu sein.“ [15]

Revolutionärer Defätismus?

„Und was hat man von einem internationalistischen Prinzip, wenn das eigene Dorf gerade von einem russischen Panzer beschossen wird? Inwieweit geht es nicht einfach darum, dass sich Arbeiter:innen in der Ukraine gegen eine militärische Aggression zur Wehr setzen müssen? […] Könnten wir Menschen im Warschauer Ghetto, in Srebrenica oder unter Angriffen des Islamischen Staates sagen, sie sollten nicht zu den Waffen greifen, weil diese Waffen vielleicht von Nationalist:innen stammen oder weil ihr Widerstand den Interessen irgendeiner imperialistischen Großmacht entgegenkommt?“, fragte ein Teilnehmer an einer Diskussion organisiert von den Angry Workers am 10. März 2022, er antwortete darauf: „Ich denke, nein.“

(Nebenbei bemerkt, es ist übertrieben die Ukrainer, die dazu gezwungen sind, Mittel zu finden, um sich gegen die Invasion zu schützen, und die Aufständischen des Warschauer Ghettos 1943 miteinander zu vergleichen. Mit dem Rücken zur Wand, fast ohne äussere Unterstützung und zu einem sicheren Tod verurteilt, bevorzugten es die Juden im Ghetto, bewaffnet zu sterben. Die Ukrainer 2022 haben zum Glück mehr als eine einzige Option.)

Sollte die Frage legitim sein, so stellt sie sich auch im Sommer 1914 unter dem Feuer der deutschen Kanonen den Bewohnern der belgischen Dörfer, wo der Invasor tausende Zivilisten erschoss und Millionen dazu zwang, in die nicht besetzten Gebiete Frankreichs zu flüchten.

Darauf an Stelle der Ukrainer zu antworten, wäre unmöglich und zudem fast ohne die geringste praktische Folge. Wir haben keine unmittelbare Lösung für die Dringlichkeiten der Welt und die kommunistischen Minderheiten haben nicht die Kapazität, mehr zu tun als die Proletarier selbst in den Situationen und Ländern, in welchen sie sich befinden.

Gegenüber dem russischen Angreifer ist ein kollektiver Widerstand aufgebaut worden, eine gegenseitige Hilfe zwischen Dörfern und Quartieren mit basisdemokratischen Aspekten, es bilden sich Bataillone Freiwilliger, Militär- und Spitalzentren werden eröffnet, Flüchtlinge empfangen, manchmal werden die offiziellen Hierarchien umgangen, auch mit Tausch (eines Waffenlagers gegen ein Fahrzeug), ohne Diskontinuität zwischen einer „zivilen“ materiellen Solidarität und einer „bewaffneten“ Selbstverteidigung seiner Stadt und seines Lebens.

Eine verbreitete Position in den „radikalen“ Milieus besteht darin, eine Form des revolutionären Defätismus zu preisen und zu praktizieren, aber nur in einem der beiden Lager, in Russland, um seine Kriegsanstrengung zu schwächen, währenddessen gleichzeitig innerhalb der Ukraine ein mutmasslich autonomer Widerstand unterstützt oder sich ihm angeschlossen und versucht wird, ihn auszuweiten.

Doch diese vielgestaltige Reaktion ist parallel zur Militärhandlung des Staates, sie komplettiert sie, und sehr wenige Teilnehmer daran haben zum Ziel, sie zu ersetzen. Die Hoffnung, dass sich in der Ukraine eine direkte Demokratie dank der Selbstorganisation des Widerstandes verbreitet, stützt sich auf keine konkrete Tatsache. Die Situation ist so, wie sie ist, es ist unmöglich, die Bevölkerung bewaffnet zu beschützen, ohne sich auf den Staat zu stützen und ihn, ob man will oder nicht, zu stützen. Es gibt kein neben dem Staat kämpfendes ukrainisches Volk, das nicht von ihm beherrscht oder flankiert wäre. Diesbezüglich ist die Anspielung auf den Spanienkrieg besonders unglücklich: Im Sommer 1936 wurden jene Anarchisten, welche den Fortbestand einer bürgerlichen Regierung unter dem Vorwand akzeptierten, sie hätte nicht die wirkliche Macht gehabt, die sei in den Händen der den Krieg gegen Franco mithilfe ihrer autonomen Organisationen führenden Volksmassen gewesen, weniger als ein Jahr später grausam widerlegt. Mai 1937 zeigte, wer die Macht hatte: Die Republik schlug die Radikalsten nieder, schaltete die Arbeitermilizen gleich, transformierte die aufständische Bewegung definitiv in einen Frontenkrieg und gewann somit die Partie gegen die Proletarier, bevor sie sie gegen Franco verlor.

Es war 1914 nicht aus chauvinistischem Bellizismus, dass fast alle sozialistischen Parteien den Burgfrieden akzeptierten, sondern im Namen des Volksinteresses (und somit jenes des Proletariats) und somit seines Rechts, sich gegen den Invasor zu verteidigen. Einige empfehlen 2022, während sie eingestehen, dass sich in der Ukraine zwei Imperialismen einander entgegenstehen, ein Lager (da demokratisch und angegriffen) gegen das andere (da diktatorisch und Angreifer) zu unterstützen. Die Geschichte stottert.

Wir sind weder pazifistisch noch gewaltfrei: Der revolutionäre Umsturz der Gesellschaft erfordert Waffengewalt. Doch ein bewaffneter Kampf, sogar wenn er selbstorganisiert ist, reicht nicht, um die Grundlagen einer Gesellschaft in Frage zu stellen. Durch sich selbst wird eine Partisanenbewegung zwar, sogar wenn sie sehr zahlreich ist, zur feindlichen Niederlage beitragen, ohne jedoch dadurch eine Revolution auszulösen. Es ist nicht erstaunlich, dass die Priorität für gewisse unserer ukrainischen Genossen der Rückzug des Invasors ist, doch wenn sie sich davon eine tiefe gesellschaftliche Transformation erhoffen, so dürfte bezweifelt werden, dass die nationale Einheit sie begünstigt: „Das Volk“, das alle Ukrainer klassenunabhängig umfasst (nur die Kollaborateure mit dem Feind sind gegebenenfalls davon ausgeschlossen), wird sich nach dem Krieg nicht gegen die Interessen der Besitzenden wenden. Im besten Falle wird er einige Reformen zur Folge haben, sicher nicht eine breite direkte Demokratie oder Veränderungen der Strukturen.

Es wäre etwas anderes, wenn Gruppen auftauchen würden, die sich an die Spitze des Widerstands in Richtung einer Situation der „Doppelmacht“ setzen und schliesslich nicht nur der (ihrerseits von innen durch Tiefschläge geschwächten oder gar von Meutereien untergrabenen) russischen Armee die Stirn bieten würden, sondern auch jener eines ukrainischen Staates, welcher ebenfalls von innen in Frage gestellt wird. So weit sind wir nicht. Es gibt in der Ukraine nicht drei streitende Kräfte: der russische Invasor, die offizielle Armee und darüber hinaus einen autonomen Volkswiderstand, der in der Lage ist, sich auszuweiten. Er hätte übrigens, insofern als er sich weder in die regulären Truppen noch in die Territorialverteidigung einreiht, weder Zugang zu für den Kampfausgang entscheidenden Waffen (z.B. Panzerabwehrraketen), noch zu einer unentbehrlich gewordenen Logistik (Munition, Treibstoff, Nahrung, Evakuierung der Verletzten usw.) und würde nur eine Nebenrolle spielen. Der Widerstand und der Maquis trugen zur deutschen Niederlage bei, aber Frankreich wurde von den alliierten Armeen befreit.

Wie jede schlimme Krise setzt ein Krieg die Grundlagen einer Gesellschaft in Bewegung, doch er lässt Brüche wieder zusammenwachsen, genau wie er Spaltungen vertieft, und alles kann dabei herauskommen unter der Bedingung, dass es als Lösung erscheinen kann: die bolschewistische Partei in Russland 1917, die Faschisten in Italien 1922. Der Schock eines Krieges führt nicht ipso facto zu einer Reaktion gegen den Krieg – die absolut entgegengesetzte Formen annehmen kann, revolutionär, konservativ oder reaktionär. Genau vor hundert Jahren behauptete Lenin, der auf dem Gebiet des revolutionären Defätismus aus Erfahrung sprach, „die Vaterlandsfrage“ sei dazu bestimmt, dass „die gewaltige Mehrheit der Werktätigen [sie] unausweichlich zugunsten ihrer Bourgeoisie entscheiden wird“. Das vergangene Jahrhundert hat ihm eher recht gegeben.

Es ist im angreifenden Land, wo die Formel Liebknechts eine praktische Bedeutung hat. Nach 1918 unterbrachen die Hafenarbeiter verschiedener europäischer Länder Waffenlieferungen an die weissen Russen. In kleinerem Massstab fiel 2003 während des Irakkriegs in Grossbritannien eine Mobilisierung zur Blockade von Militärbasen mit der Weigerung der Eisenbahner zusammen, Material für die Armee zu transportieren. 2022 zerstörten russische Anarchisten Rekrutierungszentren der Armee, weissrussische Eisenbahner sabotierten Schienenstränge, die den Transport von russischen Truppen und russischem Material in Richtung Ukraine sicherten, und die amerikanischen, schwedischen und britischen Hafenarbeiter leisteten Widerstand gegen die Entladung russischer Schiffe. Wenn diese Bewegungen weitergehen könnten und sich in Russland und unter den Invasionstruppen eine Ablehnung eines aufgrund einer blockierten Situation auf dem Schlachtfeld und der Rückkehr zu vieler „Zinksärge“ unbeliebten Krieges ausbreitet, dann würden Meutereien oder gar Verbrüderungen möglich. Bis heute (Juni 2022) ist es (noch?) nicht der Fall.

Otto Rühle schrieb 1940: „Die Frage, mit der wir heute konfrontiert sind, ist, ob Liebknechts Losung ‚Der Hauptfeind steht im eigenen Land!‘ heute genauso gilt für den Klassenkampf wie 1914.“ Darauf antwortete er: „Unabhängig davon, welchem Lager sich das Proletariat andient, wird es unter den Besiegten sein. Deshalb darf es sich weder auf die Seite der Demokratien noch auf die der Totalitären stellen.“

G.D., Juni 2022

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net

Quelle

* * *

Literaturverzeichnis

Für eine präzise Analyse der Auslösung und des Ablaufs des Krieges: Tristan Leoni, Adieu Leben, Adieu Liebe … Ukraine, Krieg und Selbstorganisation.

L’Appel du vide“, 2003.

Demain, orage. Essai sur une crise qui vient“, 2007.

La Nation dans tout son état“, 2019.

Tristan Leoni, Manu militari, Le Monde à l’envers, 2020 (2018).

„Ukraine-Korrespondenz“, Teil 1, 18. März 2022.

Jean-Numa Ducange, Quand la Gauche pensait la Nation: Nationalités et socialismes à la Belle Époque, Fayard, 2022.

Zu den Internationalisten des dritten Lagers, 1940-1952 („Gruppen, die sich mit der Verweigerung jeglicher Unterstützung für irgendein imperialistisches Lager auszeichnen“).

Il Lato cattivo, „Du moins, si l’on veut être matérialiste“, 2. März 2022.

Texte der Internationalen Kommunistischen Partei.

Krieg in der Ukraine – Fragmente einer Diskussion bei den Angry Workers“, 10. März 2022.

Zur Ersten und Zweiten Internationalen in Anbetracht des Krieges 1870 und 1914, siehe Anhänge I und II von „10 + 1 questions sur la guerre du Kosovo“, 1999-2010.

Karl Liebknecht, Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“, Mai 1915.

Friedrich Engels, [Einleitung [zu Sigismund Borkheims Broschüre ‚Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806-1807‘]“->http://www.mlwerke.de/me/me21/me21_346.htm], 1887.

Georges Haupt, L’Historien et le Mouvement social, Maspero, 1980. Kapitel 6 und 7.

Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie („Junius“-Broschüre), 1915, Kapitel 8.

Lenin, „Über die ‚Junius‘-Broschüre“, Juli 1916.

Timothy Snyder, The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus 1569-1999, Yale University Press, 2003.

Serhii Plockty, The Gates of Europe. A History of Ukraine, Basic Books, 2015.

Norman Davies, White Eagle, Red Star: The Polish-Soviet War 1919-20, Pimlico, 2003.

Zu Bandera: Stephen Dorril, MI 6. Inside the Covert World of Her Majesty’s Secret Service, Simon & Schuster, 2002, Kapitel 14.

Tim Judah, In Wartime. Stories from Ukraine, Penguin, 2015.

Richard Sakwa, Frontline Ukraine: Crisis in the Borderlands, Tauris, 2015.

Emmanuel Todd, Weltmacht USA. Ein Nachruf, Piper Verlag, 2003 (2002).

Max Hastings, Catastrophe 1914: Europe Goes to War, W. Collins, 2014. Von den Ursprüngen des Krieges bis Dezember 1914.

Zum Deichbruch des Gelben Flusses 1938: Rana Mitter, China’s War with Japan 1937-1945, Penguin, 2014, S. 157-162.

Zu den Beziehungen zwischen der NATO, Russland und der Ukraine: Tariq Ali, „Before the War“, London Review of Books, 24. März 2022.

Zur militärischen Strategie der USA: Jerry Broown, „Washington’s Crackpot Realism“, New York Review of Books, 24. März 2022.

Zur Möglichkeit eines Atomkrieges: Tom Stevenson, “A Tiny Sun”, London Review of Books, 24. Februar 2022.

Otto Rühle, „Which Side to Take?“, 1940.


[1Der Kaiser Wilhelm II. an den König der Belgier, November 1913.

[2„10 + 1 questions sur la guerre du Kosovo“, 1999.

[3Marina Owsjannikowa unterbricht die Fernsehnachrichten eines der russischen Hauptsender, 14. März 2022.

[4„La Nation dans tout son état“, 2019.

[5Internationale Kommunistische Partei, 24. Februar 2022.

[6Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, 1867.

[7Richard Sawka.

[8Ebd.

[9Brief an Bebel, 22. Dezember 1882 in MEW, Bd. 35, S. 416.

[10Friedrich Engels, „Einleitung [zu Sigismund Borkheims Broschüre ‚Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806-1807‘]“ in MEW, Bd. 21, S. 350-351.

[11Brief an Paul Lafargue, 25. März 1889 in MEW, Bd. 37, S. 171.

[12Brief an Marx, 26. September 1851 in MEW, Bd. 27, S. 353.

[13Brief an Bebel, 13. September 1886 in MEW, Bd. 36, S. 526.

[14Lenin, „Die revolutionären Marxisten auf der internationalen sozialistischen Konferenz vom 5.-8. September 1915“ in Sozialdemokrat, Nr. 45/46, 11. Oktober 1915. Nach Sämtliche Werke, Bd. 18, Wien-Berlin 1929, S. 400-404.

[15Il Lato cattivo, 2. März 2022.