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Berichte aus Istanbul

Dienstag 18. Juni 2013

Bericht und bruchstückhafte Analyse der Situation in Istanbul (16. Juni)

Istanbul: Die Bewegung ist schwach, die Repression stark (18. Juni)

Bericht und bruchstückhafte Analyse der Situation in Istanbul (16. Juni)

Ein Genosse hat uns diesen Text aus Istanbul zugesendet.

Indem sie den harten Weg gewählt hat, bewegt sich die Macht auf dünnem Eis. Die Bewegung schien nachzulassen als die Polizei gestern Samstagabend mit einer grossen Brutalität den Gezipark geräumt hat. Der aktuelle Moment ist kritisch. Heute nahm Erdogan an einem langen Treffen mit Zehntausenden seiner Anhänger teil und wiederholte, die Demonstranten seien Terroristen. Pro-AKP-Demonstrationen beginnen, sich zu formieren, sie treffen auf die anderen, das Konfrontationsrisiko ist hoch. Zum Zeitpunkt, wo ich schreibe, gehen die Konfrontationen in den Quartieren rund um den Taksimplatz weiter. Es ist ausser Zweifel, dass die Gewalt der Repression den Fortbestand einer Bewegung nährt, welche selbst als Reaktion auf eine brutale Repression entstanden ist und welche Schwierigkeiten zu haben schien, sich Perspektiven zu geben, die ihr erlauben, sich zu verbreiten und zu stärken.

Gestern Abend, nach einer Räumung, während welcher die Polizei weniger als je behutsam vorging (Dutzende Verletzte, obwohl die Besetzer sich eher friedlich verhielten), haben sich die Demonstranten im Quartier zerstreut und den pausenlos gasenden Bullen die Stirn geboten. Parallel dazu formierten sich überall in der Stadt Demozüge, sie blockierten die Achsen, schrien Parolen, schlugen auf Kochtöpfe bis spät in die Nacht. Heute bildeten die Gruppen, welche sich der Polizei gegenüberstellten, Dutzende von Gruppen in einem sehr grossen Perimeter rund um den Taksimplatz.

Indem sie sich dafür entschied, die Platzbesetzung am Montag und die Parkbesetzung (gleich neben dem Platz) am Samstag zu stoppen, hofft die Macht, einer Bewegung mit unscharfen Umrissen ein Ende zu setzen, indem sie ihr ihren Ort der Gruppierung raubt. Doch parallel dazu geht sie das Risiko ein, dass sich die Demonstrationen geographisch in der Stadt ausbreiten - sie geht das Risiko einer Sättigung und einer Verallgemeinerung der Blockaden ein.

Es ist nicht sicher, dass dieser Sprung geschehen wird. Der Beginn der Woche wird wohl entscheidend sein: Entweder wird die Konfrontation breiter und gestärkt durch die Repression, oder die Bewegung verschwindet langsam aber sicher. Von nun an kann sie nicht mehr im Park stagnieren, wie sie das die Tage vor dem Angriff am Samstag getan hat.

Die Anmerkungen, welche folgen, versuchen also, eine Zwischenbilanz zu erstellen zu einem Zeitpunkt, wo die Bewegung an einem Wendepunkt ist; sie ergeben sich aus der Beobachtung der Bewegung rund um den Park in Istanbul letzte Woche, dies ohne die Sprache zu sprechen und ohne mit dem Land vertraut zu sein. Sie sind also notwendigerweise sehr bruchstückhaft.

1. Von Anfang an vermischen sich im Protest zwei Komponenten, die eine organisiert, die andere nicht: Einerseits die politischen Organisationen, ein Mosaik von Parteien und Mikroparteien, vor allem linke, aber auch nationalistische oder gar faschistoide; andererseits ein Teil der Bevölkerung Istanbuls, welcher grosso modo einer laizistischen und westlich orientierten Mittelklassenjugend ohne politische Erfahrung zugeordnet werden kann (obwohl eine solche gesellschaftliche Kategorisierung notwendigerweise sehr grob ist und sich verändernde Wirklichkeiten abdeckt). Die Organisationen haben ihre eigene Agenda, um zu versuchen, aus der Bewegung politisches Kapital zu schlagen, doch diese Agenda ist sehr vage und die Kontrolle, welche sie über die Bewegung haben, begrenzt – auch bezüglich ihrer eigenen Truppen: Man muss die Apparate von den Aktivisten an der Basis unterscheiden, letztere sind häufig mittendrin trotz den Anordnungen der Führungsspitze.

Seit der ersten Räumung letzten Dienstag marschieren die Organisationen zerstreut, einige versuchen, sich als respektable Gesprächspartner der Bewegung zu präsentieren, verhandeln hier und da, kündigen das Ende ihrer Präsenz an der Parkbesetzung an; doch es scheint, dass die Macht sich parallel dazu stark genug fühlt, um weiterhin die Bullen zu schicken, um die Situation zu verwalten, ohne den Willen zur Vermittlung zu beachten. Sie weiss faktisch, dass die AKP nach wie vor eine starke gesellschaftliche Basis hat und die Zeit scheint gekommen, um diese zu mobilisieren.

Die Bewegung ist wesentlich auf der Grundlage dieser Polarisierung und der von der Macht zur Schau getragenen Verachtung für die Demonstranten aufgebaut (trotz begrenzten Konzessionen, die von Erdogan mit einer nicht versteckten Herablassung eingeräumt wurden: er hat die Organisation eines Referendums in Istanbul über die Transformation des Parks zugestanden). Diese Polarisierung läuft Gefahr, in Anbetracht der martialischen Reden des Premierministers und des klar unverhältnismässigen und wenig demokratischen Einsatzes der Polizeigewalt, sich zu verstärken.

2. Jenseits des Fixpunkts, welcher der Gezipark und der Taksimplatz darstellen (darstellten?), fühlt man in einem Teil der Stadt eine besondere Atmosphäre. Die Mauern sind ziemlich überall mit Parolen bedeckt, die Kochtopfkonzerte zu fixen Zeitpunkten gehen weiter, am Samstagabend ging man zu Fuss auf weit vom Stadtzentrum entfernten Schnellstrassen.

Die Forderungen sind divers, unscharf und unwesentlich. Wie in jeder Bewegung eines gewissen Ausmasses ist die Freude über das Auftauchen einer kollektiven Kraft jenseits der Gewalt der Repression spürbar und stellt die zentrale Dynamik des Kampfes dar. "Schulter an Schulter gegen den Faschismus", skandieren die Demonstranten. Sie sind auf den Geschmack des Gases, des Katz-und-Maus-Spiels mit der Polizei gekommen und zeigen eine grosse Einheit in den Momenten der Konfrontation: Sie helfen sich gegenseitig; es gibt keine Konfrontationen zwischen jenen, welche sich direkt der Polizei entgegenstellen und den anderen; die Masken und die Schutzbrillen sind ein Erkennungszeichen, das von Tausenden geteilt wird; und schliesslich haben die Leute in den zwei Wochen gelernt, sich zu widersetzen: Man sieht eine gewisse Intelligenz in der Art und Weise, wie auf die Gasangriffe und die Angriffe allgemein reagiert wird. Letzten Dienstag sah man Omas, welche Steine verteilten, damit sie auf Bullen geworfen werden können und andere, welche zeigten, wie die Tränengasgranaten in die Wasserkübel geworfen werden müssen, um sie zu neutralisieren; man sah Alte mit Gasmasken, wie sie halfen, beeindruckende Barrikaden zu bauen. Man sah Junge auf Baumaschinen von der Menge bejubelt. Man sah auch alle Arten von Leuten, wie sie ohne die geringste Panik zwischen Gas und Barrikaden herumspazierten und gestern Abend, während das Quartier rund um den Taksimplatz vom Gas überflutet war, ging das Leben in einer besonderen Atmosphäre weiter: Die Bars und die Buden blieben offen, man hörte ziemlich überall Musik und das Gas schien Teil eines Quartierfests zu sein.

Der Riss, welcher sich im Alltag geöffnet hat, die Freuden der Menge, wo jeder zu einem Genossen wird, die Worte, welche zwischen den Leuten zirkulieren usw.: Es gibt nicht den geringsten Zweifel, dass wir es mit einem grossen Moment der Volkskommunion zu tun haben – jedoch ziemlich klar begrenzt. Denn sie enthält auch die Selbstbeschränkung einer Bewegung, welche bis anhin kaum über die Ufer getreten ist – wir werden in den nächsten Tagen erfahren, ob ein solcher Prozess schliesslich eintritt.

3. Das scheint wesentlich mit ihrer besonderen Klassenzusammensetzung zu tun zu haben. Der Türkei ist die Krise weitgehend erspart geblieben. Die Jugend der Mittelklasse, welche den Kern der Bewegung darstellt, demonstriert nicht, weil sie sich in ihrer wirtschaftlichen Zukunft, sondern weil sie sich in ihrer Lebensweise durch die aggressiven Projekte der "islamo-konservativen" Regierung bedroht fühlt: Beschränkungen des Alkoholkonsums, Wille der Wiederaneignung des Stadtzentrums von Istanbul, um ihm seinen "osmanischen" Charakter zurückzugeben, begleitet von einer aggressiven Vermarktung des öffentlichen Raums. Dies alles in einem Kontext, der seit zwei Jahren von einer Art islamistischen Verschärfung geprägt ist, beispielsweise Drohungen gegen das Recht auf Abtreibung und auch eine starke Personalisierung Erdogans, der die Tendenz hat, sich als "Diktator" aufzuführen (was nicht ohne Folgen auf seine eigene Partei ist, Spannungen zeigen sich mittlerweile unterschwellig in der Verwaltung der Krise – ein Kräftemessen, das sich momentan innerhalb der Macht abspielt). Es geht um einen Kampf auf dem Terrain um die Hegemonie, in welchem sich zwei Klassen gegenüberstehen: jene, welche mit dem kemalistischen Staat verbunden und auf Europa ausgerichtet und jene, welche mit der AKP verbunden, konservativ und fromm ist und einen beträchtlichen Teil der bis anhin marginalisierten Volksschichten hinter sich hat. Es ist nicht unbedeutend, wenn die Demonstranten und die Gegendemonstranten beide das gleiche Symbol zur Schau tragen, nämlich die türkische Flagge. Es existiert eine starke Polarisierung rund um die nationale Identität

4. Doch jenseits der Frage der "Bewegung für die Bewegung", der Frage danach, was bezüglich Bruchs der Alltäglichkeit und Wiederaneignung der Stadt auf dem Spiel steht, waren die Spannungen innerhalb der Bewegung in den letzten zwei Wochen divers und latent – und ihr Nicht-Ausbrechen ist gleichzeitig die Stärke (die "spontaneistische" Einheit) und die Schwäche der Bewegung (Selbstbeschränkung).

Zum Beispiel bezüglich der Frage der Gewalt. Obwohl allgemein eingeräumt wird, dass es normal ist, gegenüber der Polizei Widerstand zu leisten, ist der Ablauf der Operationen manchmal überraschend. Letzten Dienstag standen sich die Bullen und die Demonstranten auf statische Art und Weise hinter den Barrikaden gegenüber und überall darum herum waren Bullen in kleinen Gruppen stationiert, einige machten sogar ein Mittagsschläfchen, während um sie herum andere Demonstranten mit Gasmasken zirkulierten. Im allgemeinen sind die offensiven Praktiken gegenüber der Polizei im Moment begrenzt. Die Konfrontation bleibt defensiv: Es geht darum, weiterhin den Raum zu besetzen.

Es gibt auch nicht wirklich Akte des Vandalismus. Die Demonstranten haben somit die Unterstützung der Händler des Quartiers rund um den Taksimplatz, welche selber vom Prozess der Osmanisierung des Quartiers betroffen sind (z.B. die Terrassen der Bars). Zu wissen, dass, wenn man dem Gas ausgesetzt ist, man sich in die Buden und die Hotels zurückziehen kann, gibt den Demonstranten eine reale Kraft. Doch es handelt sich schliesslich um ein eher reiches Quartier, welches in vielen Aspekten dem Quartier latin in Paris gleicht. Und nur wenige Demonstranten auf dem Platz kommen aus dem angrenzenden Quartier Tarlabasi, ein armes Kurden- und Zigeunerquartier, welches von Gentrifizierung bedroht ist, obwohl das Gas sich in dessen Strassen ausbreitet. Es ist nicht ihr Kampf.

5. Man kann dennoch die Bewegung nicht auf die Komponente der verwestlichten Mittelklassenjugend reduzieren; faktisch gibt es auch einen Teil, den man als aufständisch bezeichnen könnte und der paradoxerweise zum organisierten Teil der Bewegung gehört. Organisiert, oder zumindest erfahren, was die Konfrontation mit der Polizei betrifft. Sie verteidigten die Barrikaden, welche bis zum letzten Dienstag den Zugang zum Platz beschützten; sie waren am konsequentesten in den Konfrontationen mit der Polizei; sie sind auch das Ziel der Repression.

Dieser nebulöse Zusammenschluss besteht aus Aktivisten von türkischen und kurdischen linksradikalen Organisationen und Ultras (vor allem die çarsi von Besiktas, "links" geprägt und offiziell anarchistisch). Die radikale Linke hat in der Türkei eine lange Geschichte, welche aus häufig heftigen Konfrontationen mit der Polizei und gezielter Repression besteht. Sie hat auch eine gewisse gesellschaftliche Basis und Verbindungen mit den Gewerkschaften und den kurdischen Organisationen, welche stark vom Marxismus-Leninismus geprägt sind. Der Taksimplatz war schon immer ein symbolischer Ort für die Demonstrationen der "Linken" im allgemeinen und der Umbau des Platzes hat auch zum Ziel, diese Demonstrationen zu verhindern (er war am ersten Mai dieses Jahres gesperrt).

Zum ersten Mal sind ihre Praktiken Teil einer Bewegung, welche über sie hinausgeht. Das Zusammentreffen ist sonderbar und quasi surrealistisch. Die (massiv präsenten) Porträts von Atatürk stehen friedlich neben jenen Öcalans; die Grauen Wölfe (Faschisten) sind neben dem nebulösen Zusammenschluss der Marxisten-Leninisten und es wurde entschieden, sie nicht zu verjagen. Die Einmütigkeit wie auch die mystische Seite dieses "Zusammentreffens" vermitteln in diesem Sinn ein gewisses Unbehagen, umso mehr, weil die Abwesenheit von Versammlungen den Ausdruck dieser Antagonismen im Kampf verhindern.

Daneben scheint diese Bewegung auch eine gewisse Autonomisierung der Jungen in sonst stark hierarchiesierten Organisationen (was auch für die "organisierten" Anarchisten gilt – bei den anderen handelt es sich eher um eine etwas folkloristische politische Identität) zu vermitteln. Das ist vor allem bei den Kurden spürbar: Die Führungsspitze der PKK (und der offizielle Arm, die Partei BDP) hielt sich zurück und hat sich der Bewegung nicht angeschlossen, zu einem Zeitpunkt, wo fortgeschrittene Verhandlungen zwischen der Regierung und der PKK im Gang sind; das hinderte etliche junge Aktivisten nicht daran, aktiv an den Konfrontationen teilzunehmen.

6. Hinter der Fassade der türkischen Flagge, welche von jenen geschwenkt wird, welche erstmals auf die Strasse gehen, um ihre „Lebensweise“ zu verteidigen, ist eine gewisse Verdrängung am Werk. Indem die Macht die Demonstranten als „Vandalen“ und als „Terroristen“ bezeichnet hat, hat die Macht die verwestlichten Mittelklassen gegen sich vereint, sie fühlten sich beleidigt und versuchen, mit den Porträts von Atatürk das Gegenteil zu beweisen. Doch die Bewegung öffnet auch einige historische Wunden der modernen Türkei, welche von der Niederschlagung von Vandalen und Terroristen geprägt ist.

Die ganze Sache nimmt sicherlich nicht die Form einer gesellschaftlichen Explosion an: Viele volksnahe Quartiere (besonders die neuen Quartiere der Stadt) stellen sogar eine wichtige Unterstützung der aktuellen Macht dar. Faktisch scheint die Manifestierung der sozialen Frage in der Türkei nur sehr schwer eine andere als politische und identitäre Form annehmen zu können. Die ausgeschlossene kurdische Jugend schwenkt die Fahne der PKK, wenn sie revoltiert; die Quartiere, wo sich ein gewisser Widerstand gegen den Staat zeigt, sind jene, welche von den linken Organisationen gehalten werden (wovon eines, Gazi, in der Peripherie der Metropole liegt, es gibt dort regelmässige Konfrontationen mit der Polizei seit zwei Wochen).

Der wesentlich demokratische Charakter des Staates, wo die Bewegung stattfindet, ist nicht zu bezweifeln – in diesem Sinne ist es kaum möglich die Formen des Kampfes mit den arabischen Revolten zu vergleichen. Doch das muss nuanciert werden, einerseits durch die konfrontative Strategie der Macht, andererseits durch die besondere Konstruktion des türkischen Staates und die massive Absorption der sozialen durch die nationale Frage.

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net

Quelle

Istanbul: Die Bewegung ist schwach, die Repression stark (18. Juni)

Der Genosse in Istanbul hat uns einen weiteren Text zugesendet.

Man weiss seit langem, dass nichts einem Kampf fremder ist als sein eigenes Ende. Doch wenn man einen Haufen Trottel sieht, die versuchen, weiter zu protestieren, indem sie sich in schweigende Statuen verwandeln (die manchmal ein Smartphone in der Hand halten), stellt man fest, inwiefern die ganze Sache buchstäblich versteinernd ist.

Es scheint, als ob die Konfrontationen und die nächtlichen Demonstrationen am Wochenende den Ehrenkampf der Bewegung darstellten. Die Expansion, welche der einzige Weg gewesen wäre, um weiterzugehen, hat nicht stattgefunden.

In den letzten Tagen hat die Macht die Zähne gezeigt. Nachdem sie während der Räumung Samstag vorsätzlich ein sehr hohes Niveau an Gewalt an den Tag gelegt hat (Gas im Wasserwerfer, Menschenjagd, Angriff des Hotels, welches als Spital benutzt wurde...), hat sie das Aufgebot der Polizei- und Gendarmerieeinheiten aus Kurdistan in Istanbul angekündigt. Am Sonntag waren alle Strassen aller Quartiere rund um den Taksimplatz voll von Bullen, welche alle Gruppen zerstreuten, welche sich formierten und die Konfrontation suchten. Viele Zivilbullen, viele Verhaftungen (600 gemäss mehreren Quellen), erneut viele Verletzte. Pro-AKP-Gruppen formierten sich, schüchterten die Demonstranten ein, ein Molotov wurde auf Demonstranten geworfen (von einem Schiff zum anderen). Der Gouverneur von Istanbul drohte, die Armee aufzubieten, Erdogan sagte den Demonstranten: Ihr habt dieses und jenes Quartier hinter euch, doch wir das, dieses und jenes Quartier hinter uns. Die Atmosphäre ist geprägt von der drohenden Rückkehr der dunklen Jahre, der Aussetzung der demokratischen Bräuche. Die Macht spielt mit der Angst vor dem Bürgerkrieg, obwohl die Situation weit davon entfernt ist, aufständisch zu sein. Man kann annehmen, dass das vielen Angst macht in Anbetracht der gesellschaftlichen Zusammensetzung der Bewegung – Leute, welche faktisch vom Rechtsstaat beschützt werden.

Am Montag Streik und Demo, zu welcher mehrere linke Gewerkschaften aufgerufen haben, vor allem im öffentlichen Dienst. Der Streik wird kaum befolgt, die Gewerkschaften entscheiden sich, die wenig massiven Demozüge aufzulösen, sobald sie von den Bullen blockiert werden. Die Gewerkschaften haben klar kaum mobilisiert, diese Bewegung passt nicht wirklich in ihre politische Agenda. Sie neigen nicht zu einem Kräftemessen mit der Regierung und werden von der Basis nicht dazu gezwungen. Die politischen Kräfte der Opposition bocken, sie stellen ihre Schwäche zur Schau, sie haben nie gewusst, wie sie aus der Bewegung Profit schlagen können. Sie suchen keinen unmittelbaren Sieg – das ist wohl umso besser, doch sie schafften es trotzdem, die Konfrontationsdynamik zu schwächen, weil die Bewegung nie versuchte, sie auszuschliessen.

Dienstagmorgen, Razzia bei linksradikalen Organisationen, welche von der Macht als terroristisch bezeichnet werden und sie kündigt an, Leute zu lebenslangen Haftstrafen zu verurteilen. Der Chef der Ultras Çarsi wird ebenfalls verhaftet. Das ist wohl noch nicht das Ende.

Die Repression weiss sich ihre Ziele auszusuchen. Wir sprachen im vorherigen Text („Bericht und bruchstückhafte Analyse der Situation in Istanbul“) von der doppelten Zusammensetzung der Bewegung: Einerseits die mehr oder weniger autonomisierten Aktivisten der linksradikalen Bewegung (Maoisten, Trotzkisten, Kurden), welchen sich die im Strassenkampf erfahrenen „anarchistischen“ Ultras angeschlossen haben; andererseits die europäische Mittelklasse der Stadt. Diese beiden Komponenten haben sich mit ziemlich klar verschiedenen Modalitäten eingebracht; und nun vertieft die Repression den Graben zwischen ihnen. Die erste Komponente wurde hart getroffen und wird weiterhin angegriffen werden. Sicher, alle haben Gas geatmet und die Verhaftungen waren massiv und gingen über den harten Kern der Aktivisten und der „Gewalttätigen“ hinaus, doch für die meisten war der Polizeigewahrsam kurz und folgenlos. Die Behandlung ist klar anders, vor allem seit einer Woche und die Bewegung verteidigt sich kaum.

Es sind noch viele Spuren der Bewegung vorhanden: In den Quartieren der westlichen Mittelklasse werden weiterhin Parolen gerufen, es wird gepfiffen und auf zu fixen Zeiten auf Kochtöpfe gehämmert und von nun an verbreitet sich auch diese bescheuerte Sache der Versteinerung. Doch es ist ein toter Protest, der jegliches reales Kräfteverhältnisses entbehrt und der mehr denn je von der besonderen sozialen und kulturellen Identität der kemalistischen Bourgeoisie geprägt ist. Faktisch hat die Gesamtheit dieses Teils der Bevölkerung die Bewegung unterstützt, weil sie begreiflicherweise gegen die AKP ist. Dieser Teil hat auch teilgenommen, er war präsent, doch eine gewisse Dimension der Bestätigung der Existenz als gesellschaftliche Elite eines Landes, welches sie als „ihr“ Land betrachten und von einer Regierung bedroht ist, die sie ablehnen, spielte ebenfalls mit. Die Unterscheidung zwischen Kampfaktivität und demonstrative Unterstützung war häufig unscharf – untergegangen in einem Masseneffekt, welcher als Träger des Kräfteverhältnisses vorgesehen war.

Diese Kampfaktivität war selbst beschränkt. Versammlungen, Besetzungen, Blockaden gab es nicht. Sicher, der Park war während der ganzen Dauer des Kampfes ein „befreiter Raum“ und der Ausschluss der Polizei aus dem Perimeter machte daraus einen Ort des Austauschs, der Wiederaneignung der Zeit und des Raums, der Ausarbeitung gewisser Ausdruckspraktiken und gemeinsamer Verteidigung – und diese Besetzung führte zu einer faktischen Blockade, wenn es auch nicht ihr eigentliches Ziel war. Eine kollektive Kraft war sicher präsent; sie führte zu Euphorie sogar unter den abgehärtesten Aktivisten – und von aussen gesehen, hatte man den Eindruck, etwas unglaublich grosses zu beobachten. Die Reaktion auf die Räumung Samstagabend (spontane nächtliche Demos in der ganzen Stadt mit Blockaden von gewissen Achsen) hat sogar die Möglichkeit eines Aufbruchs des Konfrontationsraums erkennen lassen. Doch die Unfähigkeit der Bewegung, sich andere Perspektiven zu geben – welche die Entwicklung einer Konfrontation innerhalb der Bewegung selbst vorausgesetzt hätten – führte zu ihrer progressiven Schrumpfung, welches die Macht als heftige Niederschlagung in Szene setzen wollte – aus Gründen, die nur sie kennt.

Die Barrikaden sind nun weggeräumt und der Park wird nun von Kohorten von Bullen bewacht. Zivilbullen geistern in der Zone herum; sie zeigen sich; sie kontrollieren. Während vor einigen Tagen noch die Hälfte der Leute, welche man im Sektor antraf, offen mit Bauhelmen, Schutzbrillen und Gasmasken herumspazierten, ist es nun nicht mehr vorteilhaft, dass derartiges Material während einer unerwarteten Durchsuchung entdeckt wird.

Die Pfeifkonzerte zu fixen Zeitpunkten in den „laizistischen“ Quartieren können den Prozess der Normalisierung nur schlecht verbergen; die in Statuen verwandelten Leute machen das Ende der Bewegung eklatant. Vielleicht schwächt die Bewegung die gegenwärtige Macht politisch; vielleicht wird sie ihr bei den Wahlen einige Stimmen kosten. Dann wird kemalistische Bourgeoisie mit Nostalgie an dieses „Aufwachen“ zurückdenken, welches ihr Wiederauftauchen auf der politischen Bühne geprägt haben wird.

Vielleicht werden auch viele von dieser Bewegung gelernt haben, dass die Kräftelinien in der türkischen Gesellschaft sich verändert haben, dass ein Geist des Protests sich in der Jugend verbreitet hat. Es ist zu früh, um all das zu beurteilen – doch das Ende einer Bewegung enthält nur selten die Stärke der nächsten. Im Moment spüren jene, welche die Repression erdulden, – und sich von nun an ihr gegenüber als andere Fraktion der Bewegung organisieren müssen – nur allzu gut, was der Sieg des Staates bedeutet.

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net

Quelle