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Emilio Minassian - Gaza: „Eine extreme Militarisierung des Klassenkrieges in Israel-Palästina“

Freitag 16. Februar 2024

„Auf dieser Eskalationsstufe ist das Ziel des Krieges, die überschüssigen Proletarier im Gazastreifen im Bombenhagel zu ertränken, ohne einen anderen Zweck, als sie zu ‚beruhigen‘, die Hierarchie, welche die menschlichen Gruppen in dieser Region der Welt trennt, in Erinnerung zu rufen. Ein Hund beisst, man schlachtet das Rudel.“

Interview mit Emilio Minassian, 30. Oktober 2023.

1.

Du interessierst dich schon lange für das, was in Palästina geschieht, ohne jedoch ein propalästinensischer Aktivist zu sein. Was hat eine an der Revolution orientierte Kritik zu dem, worum es dort geht, zu sagen?

Erstens würde ich sagen, dass man sich bewusst sein sollte, dass es nicht zwei Lager gibt, ein palästinensisches und ein israelisches. Diese Leute leben in ein und demselben Staat und sind Teil einer gleichen Volkswirtschaft. Innerhalb dieses gleichen, sagen wir israelisch-palästinensischen Ganzen – das jedoch vollständig von Israel abhängig ist – stehen die gesellschaftlichen Klassen nicht nur in Zusammenhang mit Unterschieden des rechtlichen Status auf der Grundlage ethnisch-religiöser Kriterien, sondern sie sind „in Zonen eingeteilt“. Der Gazastreifen hat sich zunehmend in ein „Reservat-Gefängnis“ verwandelt, wo zwei Millionen Proletarier eingepfercht und an den Rand des israelischen Kapitals gedrängt worden sind. Doch letzteres bleibt in letzter Instanz ihr Meister. Die Bewohner des Gazastreifens benutzen die israelische Währung, konsumieren israelische Waren und haben Identitätskarten, die von Israel ausgestellt worden sind.

Der gegenwärtige „Krieg“ entspricht in Tat und Wahrheit einer extremen Militarisierung des Klassenkrieges.

Ein „Land für zwei Völker“, diese Sichtweise auf die Situation in Israel-Palästina ist abwegig. Nirgends auf der Welt gehört das Land den Völkern. Es gehört den Eigentümern. All das mag sehr theoretisch erscheinen, aber die blosse Existenz der gesellschaftlichen Verhältnisse verweist diese Idee der „Lager“ an jene, welchen sie zugehört: die Anführer.

Die Flüchtlingslager im Westjordanland, die man als das schlagende Herz „Palästinas“ betrachten könnte, sind weiterhin die Vorstädte Tel Avivs. Während ganzen Abenden hörte ich Tagesarbeitern eines der Lager zu, wie sie davon erzählten, wie sich die Ethnisierung der Arbeitskraft auf den Baustellen der israelischen Hauptstadt ausbreitete: die jüdisch-aschkenasischen Bauträger, die palästinensischen Anbieter von 1948 für den Durchgang der Arbeitskraft der besetzten Gebiete, die ebenfalls arabischsprachigen jüdisch-sephardischen Vorarbeiter usw. Und dann all die anderen importierten Proletarier: die Thailänder, die Chinesen und die Afrikaner, deren Situation, ohne Papiere, in Wirklichkeit am schlimmsten ist. All das kann sich nicht durchmischen, denn jede Gruppe hat einen unterschiedlichen Status und eine unterschiedliche Stellung in den Produktionsverhältnissen. Doch diese Welten sind nicht porös, sie sind ineinander verschachtelt, sie schauen sich an, kennen sich.

Dutzende Thailänder, die rund um den Gazastreifen in der Landwirtschaft ausgebeutet werden, sind von der Hamas getötet und entführt worden. Anderen wird nun von den israelischen Chefs ihre Löhne zurückbehalten, um sie zu zwingen, in einem Kriegsgebiet zu arbeiten. Jede einigermassen konsequente Sozialkritik muss, wenn es um die Geschehnisse in Israel-Palästina geht, auch den Standpunkt der thailändischen Arbeiter berücksichtigen. Dieses Land ist nicht minder dafür bestimmt, den thailändischen Arbeiter zu gehören als den palästinensischen Proletariern.

Läuft es nicht ein bisschen darauf hinaus, eine Schwierigkeit zu umgehen, wenn man versucht, die „nationale Frage“ in Israel-Palästina aussen vor zu lassen?

Israel hat es geschafft, eine einmalige Situation in der Welt hervorzubringen: die Integration eines seinerseits ethnisierten („jüdischen“) Proletariats in den Staat gegen den Rest des Proletariats, ebenfalls ethnisiert („arabisch“). Der israelische Staat hat die Akkumulation des „nationalen“ Kapitals in einer Rekordzeit und den Import des „nationalen“ Proletariats organisiert, er hat sich zum Wächter über die Existenz und die Reproduktion desselben erhoben, da es in seiner Existenz selbst durch eine andere proletarische („palästinensische“) Randgruppe bedroht sei. Doch wenn man die Brille des Trugbildes des „Staates als Garant der Existenz der Leute“ absetzt, zeigt sich, dass das jüdische Proletariat Israels eine Art Kriegsbeute in den Händen desselben darstellt.

Das gilt nicht aufseiten des palästinensischen Proletariats, innerhalb welchem die Kampfdynamiken eine gewisse Autonomie bewahrt haben und auf komplexe Art und Weise mit den instrumentalen Logiken seiner nationalistischen politischen Umrahmung koexistieren.

Es mag der Intuition widersprechen, aber ich denke, dass man die Hamas als Subunternehmer für die Verwaltung des Proletariats im Gazastreifen betrachten muss. Wie ich es gesagt habe, letzteres ist, in letzter Instanz, vom israelischen Nationalkapital „abhängig“. Solange dieses nicht die Entscheidung getroffen hat, die Entwicklung einer „palästinensischen“ kapitalistischen Entität an seiner Seite zu erlauben, ist das Proletariat des Gazastreifens, sogar eingepfercht, Teil seiner Kreisläufe. Doch diese Situation kann nicht ohne die Herausbildung einer externalisierten gesellschaftlichen Formation auskommen, die mit der Regulierung der Eingesperrten beauftragt ist – es gibt kein Gefängnis ohne Wärter.

Was geschieht, ist kein interimperialistischer Krieg. Es handelt sich im Wesentlichen um eine „innere Angelegenheit“, innerhalb welcher die „nationalen“ Lager eine Ablenkung darstellen. In den gegenwärtigen Ereignissen gibt es keinen proletarischen Kampf. Die gemeinsam durch die Hamas und die israelische Führungsschicht hervorgebrachte Militarisierung der Antagonismen bringt einen „Widerstand“ hervor, der nicht die geringste Logik des autonomen proletarischen Kampfes enthält, nicht einmal ansatzweise.

Es ist nicht ein Krieg, sondern eine Verwaltung des überschüssigen Proletariats mit den militärischen Mitteln des totalen Krieges seitens eines demokratischen und zivilisierten Staates, der zum zentralen Block der Akkumulation gehört. Diese Tausenden von Toten dort scheinen meines Erachtens eine besondere Bedeutung zu haben. Sie skizzieren ein erschreckendes Bild der Zukunft – der kommenden Krisen des Kapitalismus.

Aber eine Verwaltung des überschüssigen Proletariats durch Bombenteppiche macht das, was gegenwärtig geschieht, durch die Art und Weise, wie sie durch die Gesamtheit der zentralen Staaten der kapitalistischen Landkarte als legitim betrachtet wird, zum Teil einer globalen Offensive. In Frankreich ist dieser globale Charakter besonders auffällig: Wir sind in eine Phase eingetreten, wo sogar politische Formulierungen hinter humanistischen Losungen niedergehalten werden – sobald sie auf eine Strassenaktivität der gefährlichen Klassen treffen könnten. Es gibt keinen „Import“ des Konflikts. Es ist eine globale Offensive. In diesem Sinne findet der Kampf für uns in Frankreich sehr wohl hier statt, gegen Frankreich. Wir müssen stets unsere eigene Nation verraten, sobald es möglich ist.

2.

Was hat die Hamas in einer solchen Situation zu gewinnen?

Vor dem 7. Oktober war meine Auffassung der Situation die folgende. Einerseits eine Offensive der kolonialen äusseren Rechten, zugleich um das Westjordanland zu annektieren und die Hebel der Macht des israelischen Staates an sich zu reissen. Andererseits zwei palästinensische Staatsapparate, die nur von Renten leben und deren einziges Interesse ihre eigene Reproduktion als solche ist. Ich dachte, dass sich diese Mächte in einem Verteidigungskampf befänden und sich allen voran auf eine Konfrontation mit einem Kontrollverlust über die von ihnen verwalteten Bevölkerungen vorbereiten würden, sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland.

All meine Gesprächspartner im Westjordanland, seien sie linke Akademiker oder bewaffnete Subproletarier, sagten mir vor einigen Monaten: „Die Hamas unterstützt den Widerstand vor Ort nicht. Sie denkt nur an ihre eigenen Interessen.“

Und tatsächlich verhielt sich die Hamas nicht wie eine Kampforganisation, sondern wie eine militärische Struktur, wie ein Staat. Doch was ihre Operation besonders macht, ist die Tatsache, dass sie notwendigerweise die Perspektive einer israelischen Antwort enthielt, gegenüber welcher sie in einer Situation gewaltiger Unterlegenheit sein würde. Die Hamas verhält sich wie ein Staat, aber ohne die Mittel eines Staates, und sie opfert einen Teil der Interessen eines Teils ihres Apparats und ihrer gesellschaftlichen Basis im Gazastreifen in der Hoffnung, in der Zukunft mehr dafür zu erhalten. Viele Anführer werden ausserdem in dieser Geschichte ihr Leben verlieren.

Die Operation am 7. Oktober stellt seitens einer herrschenden Klasse ein erstaunliches Verhalten dar, das sich jedoch meines Erachtens in erster Linie durch die Widersprüche innerhalb der Hamas selbst erklären lässt. Es ist eine Hypothese, aber es ist nicht undenkbar, dass die Operation am 7. Oktober durch den bewaffneten Flügel der Hamas ohne grosse Absprache mit der politischen Führung konzipiert worden ist. (Man kann sich auch vorstellen, dass die Grösse der Öffnung in der Mauer die Planer des Angriffs selbst überrascht hat, die vielleicht ursprünglich versuchten, eine Art Selbstmordangriff auszuführen, ohne mit einem derartigen militärischen Zusammenbruch Israels zu rechnen, der den Weg für umfangreiche Massaker geebnet hat.)

Die Operation der Hamas ist überhaupt nicht aus einem fanatischen millenaristischen Wahn entstanden. Es ist eine riskante Wette, die jedoch Früchte tragen kann. Die für Israel verfügbaren Optionen sind begrenzt. Es gibt den Verhandlungsweg, jenen des regionalen Krieges und nicht viel dazwischen. Doch es bleibt eine Herausforderung, denn es ist nicht sicher, dass sich der israelische Staat und das israelische Kapital für eine Stabilisierung entscheiden werden.

Auf jeden Fall ist die Etappe „Massaker“ durch Bombenteppich unvermeidbar, aber das ist eine andere Frage, für die Anführer ist es selbstverständlich die geringste ihrer Sorgen.

Du sagst, dass sich die Hamas wie ein Staat verhält, aber ohne die Mittel dazu zu haben. Du sagst auch, dass sie gewisse ihrer Interessen opfert, um danach mehr zu haben. Kannst du das präzisieren?

Schlicht und einfach die Anerkennung im Rahmen der Verhandlungen. Wohl kaum für ein Friedensabkommen, soweit sind wir nicht und in Wirklichkeit denke ich, dass weder die Hamas noch Israel an einem umfassenden solchen Abkommen interessiert sind. Doch die Vernichtung der Hamas ist vom israelischen Standpunkt aus nicht ernsthaft vorstellbar. Indem sie ihre militärische Kapazität zeigt, versucht die Hamas, sich als unumgänglich im regionalen Kräfteverhältnis zu zeigen.

Das Scheitern der Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen dem Iran und den USA die letzten Jahre zeigt, dass wir uns nicht in einer Zeit der „Lösungen“ befinden. Für die Hamas geht es darum, das sagen alle, die amerikanische Lösung eines israelisch-saudischen Abkommens zu blockieren. Was sie dabei gewinnen kann, ist erst einmal, dass sie sich als Gesprächspartner für die arabischen Länder in der Region aufdrängt und die PLO [Palästinensische Befreiungsorganisation, wovon die Fatah Teil ist, aber auch die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP)] im Westjordanland und im Libanon weiter marginalisiert. Somit gewinnt sie kleine Marktanteile der palästinensischen Repräsentation zulasten ihres Konkurrenten, der PLO.

Sind die auf dem Spiel stehenden Interessen tatsächlich so eng begrenzt?

Ich weiss nicht wirklich, wie ich auf diese Frage antworten soll. Selbstverständlich muss diese Militäroperation und der dadurch ausgelöste Krieg auch vor dem Hintergrund eines globalen Kontexts betrachtet werden, wo die kapitalistischen Regulationskanäle dabei sind, vor die Hunde zu gehen.

Krieg ist meiner Ansicht nach immer ein Versuch, die kapitalistische Verwertungskrise als Operation der Desakkumulation zu lösen. Doch er ist auch Ausdruck der Umwälzung des Gleichgewichts des Verhältnisses zwischen Staat und Kapital. Er ist ein Krisenmoment, wo die Kontrolle des Kapitals, des globalen Kapitals, über den Staat sich lockert zugunsten einer Aneignung gewisser besonderer kapitalistischer Sektoren durch den Staat, oder sogar durch Familienclans oder einzelne Politiker. Der Krieg zwischen Kapitalisten ist nicht nur ein Krieg zwischen Imperialismen. Er lässt diverse Akteure aneinandergeraten, die, da es keine Garantien mehr gibt, manchmal riskante Wetten eingehen, eine Karte spielen, um zu versuchen, von der Umwälzung der vorhandenen Kräfte zu profitieren. Wir können eine solche Verkettung seit dem Krieg in der Ukraine beobachten. Die eingefrorenen Fronten erwachen: Wir hatten Bergkarabach, jetzt ist es Gaza.

Die Generalstäbe schreiten voran, versuchen Pläne, testen die Widerstände, springen ins kalte Wasser. Das ist es, was sie spontan tun möchten, die ganze Zeit. Was uns seit zwei Jahren überrascht, ist die Tatsache, dass die sie zuvor zurückhaltenden Schutzmechanismen nicht mehr zu greifen scheinen.

Was ist das Wesen der Herrschaft der Hamas über die Leute in Gaza? Wie sichert sie ihre Macht, was haben ihre Anführer davon, welche (offenen oder nicht offenen) Verbindungen unterhält sie zu Israel?

Die Hamas ist aus der Bewegung der Muslimbrüder entstanden. Wie ein bisschen überall in der arabischen Welt entwickelt sie sich vor Ort und in der Diaspora innerhalb des palästinensischen Kleinbürgertums. Seit ihrem Einstieg in den Kampf gegen Israel, begünstigt von der Ersten Intifada, hat sich ihre soziale Basis auf proletarischere Segmente erweitert, bevor die Kontrolle über das Territorium Gazas und ihre Militarisierung ihr Wesen zutiefst verändern. Sie war plötzlich, wie wir es gesagt haben, in der Position eines Staatsapparats, mit der Notwendigkeit, viele verschiedene und antagonistische Interessen diverser Gruppen zu integrieren, mit ihnen zu jonglieren und Schiedsrichter über sie zu sein. Und, parallel dazu, da Gaza nicht ein richtiger Staat ist, hat sich die Hamas auch in eine Milizpartei verwandelt, vergleichbar mit der Hisbollah im Libanon.

Diese doppelte Entwicklung hat eine widersprüchliche Dimension. Ich stelle die Hypothese auf, dass der gegenwärtige Krieg gewissermassen den Sieg der zweiten Logik über die erste darstellt. Der bewaffnete Arm hat den Staatsapparat und die militärischen Rentenkreisläufe (aus dem Iran) haben die zivilen Rentenkreisläufe (aus Katar) verdrängt.

Die Hamas ist eine interklassistische Bewegung, was ihr erratisches Handeln erklärt. Die Handelsbourgeoisie im Westjordanland hat sich Mitte der 2000er Jahre massiv zu ihr bekannt; die Bewegung hat die Parlamentswahlen 2006 als Partei der Ordnung gewonnen; sie versprach, die chaotische Sicherheitslage unter Kontrolle zu bringen, und sie garantierte die herrschende Ordnung mit einer auf der Wohltätigkeit basierenden Umverteilung. Sie erschien paradoxerweise als Gegnerin der Intifada und die Mehrheit der Notabeln der beiden wirtschaftlichen Zentren des Westjordanlands, Nablus und Hebron, unterstützten sie damals, während sie mit jordanischen Wirtschaftsinteressen verbunden blieben. Die Hamas hat die gleichen Parlamentswahlen in Gaza gewonnen, aber indem sie Widerstandsparolen hervorhob und zur militärischen Einreihung aufrief und somit das Lumpenproletariat der Flüchtlingslager ansprach. Nicht in einer Logik des Aufstands oder der sozialen Bewegung, sondern in einer des militärischen Klientelismus. Im Gegensatz zum Westjordanland gibt es im Gazastreifen keine urbane Handelsbourgeoisie.

Dieser Interklassismus ist seither weitergegangen. Die Hamas hantiert weiterhin mit widersprüchlichen Logiken der Mobilisierung. Der Anführer ihres bewaffneten Arms, Mohammed Deif, ist eine Art mythische Ikone, ein Überlebender etlicher gezielter Mordversuche. Er wird zum James Bond erhoben, um zu den Teenagern in den Flüchtlingslagern zu sprechen, während die Anführer in Anzug und Krawatte ihre Zeit in den Fünfsternehotels in Katar vertreiben und sich mit Ministern und Kapitalisten der arabischen und türkischen Welt fein verköstigen. Und wenn die Fraktion um Mohammed Deif eine Operation wie jene am 7. Oktober lanciert, lässt sie die Anzug- und Krawattenfraktion machen, denn sie hofft im Geheimen, dass sie in den diplomatischen Verhandlungszimmern die Früchte davon ernten kann.

Ich bin vorsichtiger betreffend dessen, was die Kompradorenbourgeoisie von Gaza-Stadt davon hält, während ihre Villen von den Bomben zerstört werden.

Was sind die Eigenschaften der Ausbeutung der Proletarier im Gazastreifen?

Ich habe ziemlich viel Zeit im Westjordanland verbracht, aber ich kenne den Gazastreifen nicht direkt. Aufgrund seiner politischen und geographischen Situation gleich neben einem Raum intensiver kapitalistischer Akkumulation könnte man sagen, dass der Gazastreifen ein grosser „Mülleimer“ Israels ist. Doch sogar in den Mülleimern der Kapitalisten gibt es gesellschaftliche Spaltungen.

Ist es unter dem Strich eine Art Ghetto? Konkret, haben die Proletarier im Gazastreifen Arbeit (formell oder auch nicht) oder müssen sie mehrheitlich als überschüssig betrachtet werden?

„Überschüssig“ in dem Sinne, dass die Arbeit im Gazastreifen fast nirgends kapitalistische Akkumulation erlaubt. Die Kapitale, die dort zirkulieren, kommen im Wesentlichen aus Renten (und zwar aus sehr kleinen Renten): Rente der Aussenhilfe (Iran und Katar), Renten aus Monopolsituationen (die Tunnels). Die generierten Profite sind nicht das Resultat der Ausbeutung von Arbeit durch Kapitalisten. Reproduktion der Proletarier und Verwertung sind zwei unterschiedliche Prozesse, wie der bärtige Alte sagen würde. Die Chefs sind grossmehrheitlich kleine Chefs und der Staat reguliert nichts.

Der Gazastreifen ist ein Raum, der in Bezug auf die Kreisläufe der kapitalistischen Verwertung komplett abseits steht, wie viele andere Peripherien der Welt. Es gibt keine „nationale Bourgeoisie“, denn es gibt keine Kapitale aus dem Gazastreifen. Es gibt auch keine „traditionelle Bourgeoisie“, wie im Westjordanland oder Jerusalem – diese alten Familien, die auf einem verstaubten alten Handels- und Bodenkapital sitzen, das jedoch in den gesellschaftlichen Verhältnissen noch wirksam ist. Im Gazastreifen gibt es hingegen sehr wohl eine neue Form der „Kompradorenbourgeoisie“, die auf Zirkulationsrenten sitzt. Sie ist jedoch keine Klasse im engen Sinne, sie ist eine gesellschaftliche Gruppe, die ein enormes Einkommen aus ihrer Stellung als Zwischenhändlerin im Handel mit den ausländischen Kapitalisten zieht (im Gegensatz zu einer Bourgeoisie, die ein Interesse an der Entwicklung einer Nationalökonomie hat).

Ein Teil dieser Bourgeoisie ist deckungsgleich mit dem politischen Apparat der Hamas, denn die zirkulierenden Kapitale kommen zu einem grossen Teil von einer geopolitischen Rente, sie kommen von Staaten wie Katar und dem Iran. Doch es gibt auch andere Renten, zum Beispiel jene, die mit der Grenzzirkulation mit Ägypten zusammenhängen. Aus den Schmuggeltunneln sind Vermögen entstanden und hier handelt es sich eher um die Figur des globalisierten Feudalherren – typischerweise ein Verhältnis zwischen Chef und Arbeiter. Es kam 2007 zu heftigen bewaffneten Konfrontationen zwischen gesellschaftlichen Clanstrukturen und dem politisch-militärischen Apparat der Hamas in Rafah, im Süden des Gazastreifens, es ging um die Besteuerung der Warenzirkulation.

Die Hamas ist, im Gegensatz zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), nicht verantwortlich für die öffentlichen Dienste, sie zahlt die Löhne nicht: Diese werden immer noch von der PA gezahlt. Das ist übrigens Gegenstand permanenter Erpressung: Die PA friert die Löhne der Funktionäre in Gaza regelmässig ein oder reduziert sie, um die Hamas zu schwächen.

Es kommt auch regelmässig, und wahrscheinlich zumindest teilweise als Folge davon, zu „sozialen“ Mobilisierungen, die Würde fordern – typischerweise Wasser, Elektrizität und die Löhne. Die Hamas schlägt sie nieder, auf mehr oder weniger heftige Art und Weise, aber immer mit einer gewissen Zurückhaltung, die einem zum Schluss kommen lässt, dass sie kein Öl ins Feuer giessen will. Die gegenwärtige militärische Offensive folgt auf eine Episode dieser Art, die sich diesen Sommer abgespielt hat. Es ist leicht vorstellbar, dass es eine Verbindung zwischen diesen beiden Arten von Ereignissen gibt oder dass sie zumindest einer gewissen Logik unterliegen.

Der Protest gegen die verwaltende Hamas und die Unterstützung für die kämpfende Hamas sind überhaupt keine Gegensätze. Erstere greift deine Würde an, während letztere sie rächt. Ohne die kämpfende Hamas wäre die verwaltende Hamas im Gazastreifen wahrscheinlich mit bedeutenderen Protesten konfrontiert.

Du sagst, dass du das Westjordanland besser „kennst“ als den Gazastreifen. Gibt es zwischen diesen beiden Territorien bedeutende Unterschiede oder handelt es sich im Gegenteil um zwei Varianten einer gleichen Logik?

Der Gazastreifen ist seit Langem dieser „Mülleimer“ für Überschüssige, den ich vorher angesprochen habe. Ein winziges Territorium, in das 1947-1948 ein Flüchtlingsstrom gedrängt wurde, der die lokale, hauptsächlich bäuerliche Bevölkerung überschwemmt hat. Es gibt dort überhaupt keine Rohstoffe. Im Westjordanland ist die Klassenbildung anders, mit Städten und Notabeln. Und es gibt landwirtschaftliche und hydraulische Ressourcen, die Israel sich aneignet. Die Löhne sind doppelt so hoch, es gibt einige Industrien, die auf der relativen Integration der Kompradorenklasse der PA in das israelische Kapital basieren. Die Fatah, welche die Städte regiert, ist eine Partei, die keine gesellschaftliche Kohärenz mehr hat. Sie hat 2006 die Wahlen gegen die Hamas verloren. Durch einen von Israel und den USA unterstützten Gewaltstreich 2007 konnte sie die Hebel der öffentlichen Macht in den Städten des Westjordanlands behalten, indem sie den Gazastreifen der Hamas „überliess“. Seither hat sie keine auch nur irgendwie auf eine demokratische Prozedur gründende Legitimität mehr. Ihre Macht basiert auf der Zusammenarbeit mit Israel, die hinter einem hohl tönenden nationalistischen Diskurs verschleiert wird. Sie regiert Enklaven, die voneinander getrennt und immer mehr von der Kolonialisierung umzingelt sind, die israelische Armee dringt regelmässig in sie ein. Was das Proletariat des Westjordanlands betrifft, ist es stärker ins Kapital Israels integriert als jenes des Gazastreifens. Viele palästinensische Arbeiter malochen, legal oder illegal, im israelischen Territorium oder in den Kolonien. Sie unterhalten wirtschaftliche Beziehungen zu den Palästinensern von 1948, welche die israelische Staatsbürgerschaft haben, und sprechen häufig hebräisch.

Was geschieht aktuell im Westjordanland? Was macht die Fatah? Gibt es gesellschaftliche oder politische Kräfte, die einen mehr oder weniger proletarischen Charakter haben und im Moment der Krise gestärkt daraus hervorgehen könnten?

Der Gazastreifen scheint mir im Moment hinsichtlich der Möglichkeiten einer proletarischen Aktivität verloren. Das Gleiche gilt nicht für die Städte des Westjordanlands, wo der innerpalästinensische Kampf um die politische Kontrolle seit Jahren mit autonomen Manifestationen des Klassenkampfes einhergeht. Die soziale Kontrolle wird gemeinsam durch einen von Israel abhängigen Kompradorenkapitalisten gehaltenen Sicherheitsapparat und urbanen, mit Jordanien verbundenen Baronien garantiert. Die Kohärenz dieser Klasse löst sich immer mehr auf, die Fatah reguliert überhaupt nichts mehr und alle versuchen, ihre Hochburgen zulasten anderer zu verteidigen. Das erwartete Ereignis, welches all das regeln sollte, war der Tod des paranoiden Dinosauriers Mahmud Abbas, aber jetzt wird notwendigerweise alles schneller gehen.

Die Hamas ist im Westjordanland seit 15 Jahren im Stand-by-Betrieb. Nicht die geringste direkte öffentliche oder militärische Aktivität. Sie unterhält Loyalitäten, aber diskret. Die bewaffneten Gruppen, die im Norden (Nablus, Jenin, Tulkarem) aufgetaucht sind, sind nicht mit ihr verbunden. Diese Passivität erweckte den Eindruck, dass die Hamas die Situation akzeptiert hat und den Status Quo nicht zerstören wollte. Innerhalb der bewaffneten Gruppen in den Flüchtlingslagern verschaffte ihr das einen schlechten Ruf: Sie sei die Kehrseite der Fatah, eine grosse Klappe, nichts dahinter, andere politische Interessen als jene des Volkes. Und dann diese Operation: Sie ändert eindeutig die Voraussetzungen hinsichtlich der Wahrnehmung. Ihr Image, ob man das will oder nicht, wird davon beträchtlich aufpoliert sein. Jetzt schon sieht man die Fahne der Hamas ziemlich überall an den Demos wehen, was vor einem Monat unvorstellbar gewesen wäre. Wird die Hamas direkt die Macht der PA im Westjordanland infrage stellen? Das ist wenig wahrscheinlich, weil ihre Aktivitäten nicht nur von der PA strikt überwacht werden, sondern auch von Israel, und die palästinensischen Enklaven im Westjordanland kein kohärentes Territorium bilden, es kann nicht militärisch gehalten werden, ohne das mit der israelischen Armee zu verhandeln. Doch sie kann ihre Strategie ändern und die Aktivitäten der bewaffneten Gruppen auf die eine oder andere Art und Weise unterstützen.

Was auch immer geschehen mag, die Dinge werden sich notwendigerweise verändern. Die PA wird Mühe haben, bezüglich der Sicherheit die Kontrolle zu behalten. Die Kohärenz der politischen Klasse der Sicherheitspolitik wird einer schweren Belastung ausgesetzt sein.

Die Armee und die Siedler haben parallel zur Offensive im Gazastreifen eine Reihe von Angriffen im Westjordanland lanciert. Diese Offensive wird an Intensität gewinnen und von diversen Massakern begleitet sein, sie werden örtlich begrenzter, aber wahrscheinlich auch stärker „selbstorganisiert“ als im Gazastreifen sein.

Es gibt also etliche Gründe, beunruhigt zu sein. Aber ich hoffe irgendwie auch, dass sich ein Raum für autonome Kämpfe eröffnet und die durch die PA in den letzten 15-20 Jahren hervorgebrachte Ohnmacht der Repression und des Klientelismus beendet – dass ein Zusammenbruch der palästinensischen Sicherheitskräfte die seit Jahren erwartete soziale Explosion ermöglicht. Die Klassenverhältnisse im Westjordanland sind von einer aussergewöhnlichen Gewalt geprägt. Die dortige Bourgeoisie hat lange von der Situation der Zusammenarbeit mit Israel profitiert, sie hat sich die Taschen gefüllt, es wäre angebracht, dass sie ein bisschen beginnt zu zittern.

Seit einer Weile gibt es einen sozialen Protest in Israel gegen Netanjahu und besonders gegen seine Justizreform. Welche Folgen haben diese Kämpfe (falls überhaupt) in der aktuellen Situation? Inwiefern drückt der „zivile“ Widerstand der israelischen Bevölkerung (zum Beispiel die jüngsten Kämpfe gegen die Justizreform) einen solchen Anspruch aus?

Der Krieg scheint mir auch Ausdruck eines Verlusts der Kohärenz der kapitalistischen Klasse zu sein; und gleichzeitig kaschiert die militärische Einheit denselben. Der militärische Zusammenbruch Israels am 7. Oktober scheint weitgehend eine Folge des Kampfes innerhalb der kapitalistischen Klasse Israels zu sein, ein Kampf, der zum ersten Mal auch die militärische Institution erreicht hat. In den letzten Monaten war der Kampf sehr intensiv und er hat sich auf der Strasse ausgedrückt. Das alte Israel, aschkenasisch, bürgerlich, laizistisch und militärisch, das in Tel Aviv vertikal akkumuliert, ist mit der äusseren Rechten an der Macht konfrontiert gewesen, letztere ist sephardisch, revanchistisch und akkumuliert horizontal in den Hügeln des Westjordanlands. Aber in diesen Demos ist nie etwas Proletarisches über die Ufer getreten. Schlimmer: Nichts Demokratisches, im Sinne von „zivil“, wie du es formulierst. Das Proletariat in Israel, das zwar ein hohes Niveau der Ausbeutung erdulden muss, ist durch seine existenzielle Integration in den Militärstaat mundtot gemacht worden.

Die kriegerische nationale Einheit kehrt diesen Kampf innerhalb der herrschenden Klasse provisorisch unter den Teppich: Alle sind einverstanden mit einem Bombenteppich im Gazastreifen; und auch mit der Durchsetzung einer rigiden Sicherheitspolitik. Seit der Generalmobilmachung ist die Jagd auf den inneren Feind eröffnet. Sie betrifft die wenigen Linken, die noch übrig geblieben sind, aber auch und zuallererst das muslimische Proletariat (die Palästinenser von 1948), deren kleinste Solidaritätsbekundung mit den Opfern der wahllosen Bombenangriffe verfolgt wird. Was wird in einigen Monaten geschehen? Wird der Krieg dazu führen, dass die herrschende Klasse auf die Linie der Partei der Siedler einschwenkt? Letztere ist, obwohl sie von der Mehrheit der Bourgeoisie für ihre religiöse Rückständigkeit verachtet wird, nichtsdestotrotz am ehesten im Einklang mit einer auf eine auf die Jagd auf Araber ausgerichteten Mobilisierung, die wohl nicht so schnell aufhören wird.

3.

Denkst du, dass die rein koloniale Lesart stichhaltig ist, um die Beziehungen zwischen Israel und dem palästinensischen Proletariat zu definieren?

Ja und nein, natürlich.

Wir sind in einer Situation, wo das, was auf dem Spiel steht, weniger die Ausbeutung einer eingeborenen Arbeitskraft als die Verwaltung einer überschüssigen proletarischen Bevölkerung ist, in Verhältnissen, die innerhalb der Zentren der kapitalistischen Akkumulation einmalig sind. Für jeden Arbeiter mit einem Arbeitsvertrag in Israel gibt es einen anderen, der in den grossen geschlossenen Vorstädten festsitzt, welche die Bevölkerungszentren unter palästinensischer Gesetzgebung darstellen: der Gazastreifen und die Städte des Westjordanlands. Das macht fast fünf Millionen Proletarier, die einige Kilometer von Tel Aviv entfernt eingepfercht sind, sie sind unsichtbar, leben vom Verkauf ihrer Arbeitskraft von einem Tag auf den anderen und werden von Soldaten bewacht, damit sie ihre Käfige nicht verlassen.

Diese grosse Einsperrung, diese Operation der Trennung zwischen nützlichen und überschüssigen Proletariern auf einer ethnisch-religiösen Grundlage beginnt zeitgleich mit dem Friedensprozess, der in Wirklichkeit ein Prozess der Externalisierung der sozialen Kontrolle der Überschüssigen ist. Zuvor, in den 1970er-1980er Jahren, waren die Palästinenser massiv vom israelischen Kapital angestellt worden.

In diesem Sinne ist der Begriff „kolonial“ irgendwie unpassend, um das gesellschaftliche Verhältnis zu beschreiben, das seit dem Beginn der 1990er Jahre in Israel-Palästina vorherrscht. Er hat zudem den Nachteil, dass er einen Gegensatz zwischen zwei nationalen Gebilden annimmt, die in Wirklichkeit zusammen hervorgebracht und reproduziert werden. Palästinensische und israelische Proletarier sind Segmentierungen eines gleichen Ganzen. Was sich seit dem 7. Oktober abspielt, muss als eine Verhandlung durch Gewalt zwischen dem Subunternehmer aus dem Gazastreifen und seinem israelischen Arbeitgeber betrachtet werden. Dieser Aspekt muss in diesem Sinne klar von der Aktivität des Kampfes der palästinensischen Proletarier unterschieden werden, ihnen stehen in erster Linie die Subunternehmer der Hamas und der PA gegenüber. Dieser Kampf hat nie aufgehört, aber die nationale Einreihung wird ihm einen harten Schlag versetzen, zumindest im Gazastreifen.

Jenseits jeglicher moralischen Betrachtung scheint mir der Begriff „Widerstand“, der auf die koloniale Vorstellungswelt verweist, unangebracht, um die Militäroperation am 7. Oktober zu beschreiben: Die Interessen der Hamas sind nicht jene der Proletarier, sind nicht jene – um das geltende Vokabular zu übernehmen – des „palästinensischen Volkes“. Die Proletarier im Gazastreifen, was auch immer das Resultat dieser Verhandlung sein mag, werden im Wesentlichen jene sein, welche geopfert werden – sie werden es schon jetzt. Falls sich Israel gegenwärtig dermassen im Aufwind fühlen würde, um sich seines Subunternehmers zu entledigen, würde das bedeuten, dass es bereit wäre, sich der überschüssigen Proletarier im Gazastreifen zu entledigen. Das Eine geht nicht ohne das Andere.

Andererseits denke ich jedoch, dass man nicht ohne eine koloniale Lesart auskommen kann.

Israel hat diese europäische Logik geerbt, die darin besteht, die Arbeitskraft auf der Grundlage rassischer Kriterien zu „vertieren“, eine Grenze zwischen zivilisierter und präzivilisierter Welt zu ziehen. Dieses Paradigma läuft in Israel auf Hochtouren und auf eingestandene Art und Weise. Gegenwärtig massakriert man die Bewohner des Gazastreifens gemäss dieser Logik: Man ertränkt sie im Bombenhagel ohne ein anderes politisches Ziel, als sie zu „beruhigen“, die Hierarchie, welche die menschlichen Gruppen in dieser Region der Welt trennt, in Erinnerung zu rufen. Ein Hund beisst, man schlachtet das Rudel.

Es muss daran erinnert werden, das die Grenzen zwischen dem Zivilisierten und dem Tierischen unbeständig sind. Sie galten und gelten immer noch innerhalb der jüdisch-israelischen Staatsbürgerschaft. Die arabischen (Mizrachim) und die äthiopischen (Falascha) Juden waren lange auf der schlechten Seite der Grenze und stellen eine Art eingeborene Hilfskräfte zur Beruhigung anderer Eingeborener dar.

Das Koloniale, als Erbe der kolonialen Periode im eigentlichen Sinne, erzeugt eine Art „Triebökonomie“, rund um welche sich die Konstruktion gesellschaftlicher Kategorien verknotet – und das ist übrigens nur das vergrösserte Bild dessen, was in der Gesamtheit der aus den zentralen Ländern der kapitalistischen Akkumulation bestehenden „Festung“ geschieht, man sieht es mit dem unmittelbaren Transfer des „Krieges der Zivilisationen“ nach Frankreich.

Die aktuelle Dynamik und ihre Logik der Zurücklegung der überschüssigen Proletarier führen eine Menge an auf Erniedrigung basierender Affekte mit sich. In Anbetracht der Unmöglichkeit, das gesellschaftliche Verhältnis kollektiv zu beeinflussen, bringt die Ohnmacht eine doppelte Logik des Ressentiments hervor: Streben nach Anerkennung einerseits, nach Rache andererseits.

Da sie keine Bourgeoisie haben, auf die sie sich stützen, und kein Proletariat, das sie selber ausbeuten, sind Politiker wie jene der Hamas dazu veranlasst, sich auf die Ausbeutung dieser Affekte zu stützen, sie werden – wohl oder übel – zur Inkarnation davon.

Um auf Israel zurückzukommen, wenn man davon ausgeht, dass die kapitalistische Akkumulation weitgehend auf der permanenten „Kriegswirtschaft“, der Aneignung von Boden und der Ausbeutung des mehr oder weniger formellen palästinensischen Proletariats gründet, muss dann jegliche „Lösung“ (z.B. die „Zweistaatenlösung“) als absolut unmöglich betrachtet werden?

Ab den 1990er Jahren, als Israel sich der Verwaltung der palästinensischen Arbeitskraft in den besetzten Gebieten entledigen will, wird sie einem Subunternehmer überlassen, der Palästinensischen Autonomiebehörde. Doch Israel respektiert jenen Vertrag nicht, welcher zu einer Form symbolischer Souveränität hätte führen sollen. Es behandelt seinen Subunternehmer schlecht. Dieser revoltiert also: Es ist die Zweite Intifada, wo sich der Kampf der PA gegen ihren Arbeitgeber und ein umfassender proletarischer Kampf gegen Israel und den Subunternehmer vermischen, letzterer wird jedoch durch die Einklemmung erstickt. Am Ende dieser historischen Sequenz spaltet sich das Subunternehmertum der PA. Ein schlecht behandelter, aber unterwürfiger Subunternehmer im Westjordanland; ein anderer schlecht behandelter und aufmüpfiger im Gazastreifen. Die Hamas kann zwar als Feind behandelt werden, es ist aber offensichtlich, dass Israel in diesem Zusammenhang nicht ohne Subunternehmer auskommen kann.

Kommen wir kurz auf diesen Prozess und sein Scheitern zurück. Warum haben die Kapitalisten die Möglichkeit zum „Frieden“, die darin bestand, einen „nationalen Prozess“ für Palästina im Gazastreifen und im Westjordanland zu unterstützen, nicht genutzt? Was sie damals hätten bekommen können, wäre die Öffnung eines regionalen Marktes mit den umliegenden Ländern und die Möglichkeit für Investitionen in Ländern mit billiger Arbeitskraft gewesen. Es hätte gereicht, der Autonomiebehörde die Attribute eines Rumpfstaates zu überlassen, der mit ausgestreckten Armen von äusseren Spendern unterstützt worden und ein interner Markt geblieben wäre. Die Antwort auf diese Frage ist meines Erachtens alles andere als klar. Ich stelle zwei Hypothesen auf. Die erste ist jene des Gewichts des „militärischen“ Kapitals, das durch die von den USA an Israel ausgezahlte militärische Rente unterstützt wird. Dieser militärische Kapitalismus, der mit dem Sektor der Spitzentechnologie verbunden ist, ist über die Köpfe des regionalen Marktes hinweg international. Die zweite Hypothese stellt das Scheitern des Friedensprozesses in Zusammenhang mit dieser grossen Katastrophe, die der durch die USA in den 2000er Jahren unternommene Versuch der Umgestaltung des Mittleren Ostens darstellte. Somit hätte sich Israel in Erwartung der Verflüssigung der Zirkulation der Kapitale in der Region auf militärischem Wege gehalten, womit die Vorstellung einherging, dass es möglich sei, das Subunternehmertum zu haben, ohne gegenüber den bestehenden Behörden in den palästinensischen Reservaten auch nur irgendwie einzulenken. Das hat fast 20 Jahre lang funktioniert. In diesem Zusammenhang eröffnete sich sogar die Perspektive der Öffnung neuer Märkte in der arabischen Welt (die sogenannten Abraham-Abkommen und die neuen Perspektiven einer Pax Americana mit Saudi-Arabien) und diese Situation ist nun wahrscheinlich geplatzt. Was sich am 7. Oktober gezeigt hat, ist, dass die Gleichung, alles haben zu wollen, nicht haltbar ist: Es wird nötig sein, mit den palästinensischen Gefängniswächtern der palästinensischen Reservate zu verhandeln, um die als Ghettos fungierenden Reservate auf ihrem Territorium zu zügeln, oder sich ihnen zu entledigen, was eindeutig ein neues Kapitel in der Geschichte der kapitalistischen Gewalt in den Ländern des Blockes der zentralen Akkumulation eröffnen würde. Das ist nicht unmöglich. Es lässt einem erschaudern.

Ist die Idee eines „palästinensischen Volkes“ zur Umgehung der gesellschaftlichen Trennungen nicht trotzdem operativ, auch innerhalb der beherrschten Klassen?

Die Gesellschaftskritik ist meines Erachtens vor allen Dingen die Hervorbringung von Kategorien, die es erlauben, die Gegensätze in Begriffen der gesellschaftlichen Widersprüche zu denken. In einem Kontext wie jenem von Israel-Palästina kann das scheinbar eine Operation sein, welche die zirkulierenden subjektiven Kategorien verbiegt, auf welchen sich die Affekte des Kampfes aufbauen, auf dem, was als Identität wahrgenommen wird.

Die Idee eines „palästinensischen Volkes“ als eine Israel entgegengesetzte Kategorie wirkt natürlich in etlichen Bereichen: auf den Ausweispapieren und in dem meisten Köpfen, auch als Art der Legitimierung der proletarischen Kämpfe.

Aber die Ethnisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse hat eine Geschichte, die primär jene der herrschenden Klassen ist: Es ist die Geschichte der Herausbildung einer kapitalistischen jüdischen Bourgeoisie, die eine arabische feudale Handelsbourgeoisie vernichtet hat; die Fusion dieser Bourgeoisie mit einem Militärstaat usw. Die Proletarier sind zwangsläufig Teil dieser Ethnisierung der Gegensätze innerhalb der herrschenden Klasse.

Man darf nie vergessen, dass der „palästinensische Kampf“, auch jener unter der Flagge der Hamas, vorrangig als von den herrschenden arabischen Klassen – oder jenen, die Teil davon wollen – geführter Kampf um ihre Integration ins israelische Kapital gelesen werden muss. Die Interessen der Proletarier, die sich manchmal unter dem Banner des nationalen Kampfes wiederfinden, sind in letzter Instanz im Widerspruch zu jenen ihrer Bourgeoisie.

Ich denke, dass man nicht mit dem „palästinensischen Widerstand“ solidarisch sein sollte, sondern mit den von Proletariern gegen die ihnen auferlegten Existenzbedingungen geführten Kämpfen. Doch die Proletarier kämpfen unter jenen Flaggen, die sich ihnen anbieten. Man sollte nicht die Flagge anschauen, sondern die Kämpfe selbst. Eine palästinensische Fahne, oder sogar eine der Fatah oder der Hamas, sie alle sind potenziell Fahnen des Kampfes, die, je nach Kontext, den politischen Verwaltern entwischen. Im Übrigen ist es nicht, weil die Hamas islamistisch ist, dass man auf sie scheissen sollte, sondern weil sie ein Kontrollapparat über das Proletariat ist, ein im Entstehen begriffener Staat.

Trotzdem mag diese Sozialkritik manchmal als unglaublich kalt und weit entfernt vom Erleben der Kämpfe erscheinen, da werden andere Kategorien mobilisiert. Meine Rolle, wenn ich kalt von dialektischem Materialismus spreche, ist nicht die gleiche, wie jene, wenn die Situation sich vor meinen Augen abspielt, mit ihrer Gewalt, ihren Kämpfen, ihren Subjektivitäten.

Läuft eine materialistische Kritik, in einem Kontext, der dermassen von Begriffen der Identifikation genährt ist, nicht Gefahr, als zu herausgelöst zu erscheinen?

Es scheint mir, dass es in einem solchen Kontext nicht um eine Position geht, sondern um einen Standpunkt, eine Methode. Ein revolutionärer Blick besteht in erster Linie darin, sich nicht blenden zu lassen von der Autonomisierung der durch die Linke gehandhabten Kategorien. Ich nehme zwei davon wahr, die im Moment in den Diskussionen ein der Dialektik zugewandtes Denken konstant zu erschlagen drohen.

Die erste ist der Reflex der Wehklage über das Thema „das Proletariat ist nicht, wie wir es gerne hätten“: antisemitische muslimische Proletarier, rassistische jüdische Proletarier. Abgesehen von der Tatsache, dass dieses Denken – das darin besteht, das Innere des Proletariers von einer intellektuellen Position aus zu betrachten – in ihrem Wesen bürgerlich ist, ist es besonders unangebracht in einer Situation eines Gegensatzes, wo sich nicht die geringste Form proletarischer Autonomie manifestiert.

Was sich im Moment abspielt, ist einerseits eine Logik der Einreihung des Proletariats und andererseits ein pures Massaker überschüssiger Proletarier. Gewisse werden also die gute alte Zeit zurückwünschen, wo die politischen Formationen in Palästina (und deshalb, so mutmasst man, das Volk selbst) links waren. Das scheint mir idiotisch. Die Ideologie der politischen Gruppen, sobald man davon ausgeht, dass diese insbesondere kämpfen, damit ihre Anführer sich als herrschende Klasse aufspielen und als solche reproduzieren, ist sekundär. Betreffend der Methoden möchte ich einfach daran erinnern, dass es ein Kommando der DFLP [Demokratische Front zur Befreiung Palästinas] war, eine ideologisch extrem linke palästinensische Formation (die mit Elementen der äusseren Linken Israels verbunden war), die das Massaker an 22 Kindern in einer Schule in Ma’alot 1974 beging.

Ein zweiter problematischer Denkreflex besteht darin, die Metaphysik sich in die Analyse einschleichen zu lassen. Dieses metaphysische Denken ist in der Idee der erstarrenden und verblüffenden Wiederholung enthalten. Sie ist in den Ausführungen über die „Massaker an den Juden“ am Werk; aber auch in jenen rund um die „palästinensische Tragödie“. Diese Ausführungen, die womöglich auf autonome Art und Weise im Innersten der Psyche entstehen, sind nichtsdestotrotz reine Produkte der Art und Weise, wie das bürgerliche Denken die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Himmel der Ideen aussiedelt.

Vergessen wir die Geschichten, sowohl die Farce als auch die Tragödie. Die Geschichte wiederholt sich nicht: Die sich ausbreitenden Gegensätze sind überwiegend gegenwärtige Gegensätze.

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net

Quelle