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Raffaele Sciortino – Die Temperatur des Systems. Krieg und Abtauung der globalen Krise

Dienstag 24. Mai 2022

AdÜ: Transkription eines Vortrags gehalten am 2. April in Modena. Raffaele Sciortino ist u.a. der Autor von I dieci anni che sconvolsero il mondo. Crisi globale e geopolitica dei neopopulismi.

Da ich versuche, nicht zu ausschweifend zu sein, werde ich heute drei Punkte, drei Betrachtungen benennen, und davon substanziell einen vertiefen: Was ist die Temperatur des Weltsystems von einem allen voran wirtschaftlichen, und somit auch geopolitischen und sozialen Standpunkt aus betrachtet? Die anderen beiden Betrachtungen sind hingegen die folgenden: Von der ersten gehe ich davon aus, dass sie grundlegend von den anwesenden Personen geteilt wird, es handelt sich um die Überdetermination dieses Konflikts – in welchem wir offensichtlich Russland und die Ukraine zuvorderst auf der Bühne sehen – durch die USA. Erlaubt mir also eine kurze Präambel.

Der Zufall wollte es, dass ich vor kurzem Günther Anders gelesen habe, seinen Text Die Antiquiertheit des Menschen. Während er über die Verblendung der Menschheit nach dem Zweiten Weltkrieg hinsichtlich der möglichen Apokalypse, genauer der Bombe und der nuklearen Selbstzerstörung nachdenkt, äussert der Autor an einem gewissen Punkt einen Gedanken, der ein bisschen aus dem Nichts kommt. Er sagt, die Stärke einer Idee liege nicht so sehr in den Antworten, die sie gebe, als in den Fragen, die sie ersticke, die sie nicht herauskommen lasse. Wenn wir nun an die Stelle der „Idee“ die „amerikanische Soft Power“ setzen – und somit einer der grundlegenden Effekte der imperialen amerikanischen Hegemonie in den letzten Jahrzehnten –, so scheint es mir eher, dass etliche Fragen auf widersprüchliche, sozusagen erstickte Art und Weise aufgeworfen werden. Nicht nur ausserhalb des Westens, wo die Sache ziemlich offensichtlich ist, sondern auch im Westen und unter gewöhnlichen Leuten (man braucht hier nicht von politischer Subjektivität zu sprechen). Und die Frage, die man sich stellt, ist folgende: Was ist die Rolle der USA in dem, was geschieht? Und ist diese Rolle vielleicht nicht grundlegend oder gar prioritär? Das ist die erste Betrachtung, die ich für die folgende Diskussion im Raum stehen lasse.

Der zweite Punkt ist jener, von welchem ich sprechen werde, nämlich von der gesamten Temperatur des Weltsystems und somit vom Ernst der aktuellen Lage. Noch einmal, wir können nicht wissen, inwiefern, doch wir stehen gewiss vor einem Wendepunkt, wie es vorher gesagt wurde. Und eine dritte Frage, die ich euch stelle, ist jene nach der Möglichkeit, eine Bewegung gegen den Krieg aufzubauen, und unter welchen Bedingungen und auf welchen Grundlagen sie aufgebaut werden kann. In anderen Worten, was sind die (auch, aber nicht in erster Linie, subjektiven) Schwierigkeiten, die sich aus der Situation ergeben, die wir gemeinsam in ihrer Gesamtheit zu begreifen versuchen.

Ich will hier mit euch einen Gedankengang über die Tatsache vertiefen – vertiefen ist ein grosses Wort; sagen wir, artikulieren –, dass der ukrainische Krieg die Folge einer umfassenderen Situation ist, die, wie es vorher festgehalten wurde, zumindest auf den Ausbruch der sogenannten Finanzkrise von 2008 zurückgeht. Nun, um so synthetisch wie möglich und hoffentlich nicht allzu didaktisch zu sein, würde ich sagen, dass die 2008 ausgebrochene Krise mit den USA als Epizentrum nur oberflächlich betrachtet eine Finanzkrise ist, sie ist in Wirklichkeit eine Systemkrise.

Ausgehend von den durch das amerikanische Finanzsystem, durch den amerikanischen Staat und dann kaskadenartig durch alle anderen globalen Akteure darauf gegebenen Antworten ist sie im Wesentlichen eingefroren worden. Eingefroren, aber nicht ohne dass zwei grundlegende Prozesse entfesselt worden sind, von welchen wir heute eine erste starke Auswirkung auf geopolitischer Ebene erleben. Der erste Prozess ist jener, welcher der Economist (die Bibel des globalen Kapitalismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts) die slowbalisation, von slow, langsam, genannt hat. Die seit mindestens den letzten dreissig Jahren, aber auch vor dem Fall der Berliner Mauer aufstrebende Globalisierung ist nicht unterbrochen worden, zumindest nicht bezüglich ihrer drei grundlegenden Indikatoren, nämlich des Welthandels bezüglich des in einem Jahr produzierten globalen Nettoprodukts, des Aufbaus globaler Produktionsketten und klar bezüglich der Logistik und der Auslandsinvestitionen. Es gab und hat bis jetzt keinen wirklichen und eigentlichen Unterbruch gegeben, doch wir beobachten freilich eine Verlangsamung der Wachstumsindikatoren. Somit haben wir es eben gerade mit einer slow-balisation zu tun, einer sich verlangsamenden Globalisierung.

Im Kontext der produktiven Ebene und allgemeiner auf jener der Fähigkeit, die kapitalistische Akkumulation und somit die Profitmaschine wieder zum Laufen zu bringen, können wir, mit Hochs und Tiefs und in offensichtlich verschiedenen Situationen, wenn wir den Westen betrachten (der Diskurs ist nicht der gleiche bezüglich Ostasien und besonders China), eine substanzielle Stagnation beobachten. Der Begriff ist alles andere als äusserst präzis, denn die Situationen sind eben gerade verschieden, einerseits zwischen Europa und den USA, andererseits innerhalb Europas; aber wir können grundlegend von einem leblosen Wachstum und noch viel mehr von einer grundlegenden Unfähigkeit zur Lancierung der Kapitalakkumulation sprechen. Was, mit einer zur Ursache gewordenen Wirkung, einherging mit einer zunehmenden Verschuldung, die von den Zentralbanken (eigentlich, um die explosiven wirtschaftlichen, und dann sozialen und politischen Auswirkungen zu blockieren) ausgelöst worden ist, besonders der Federal Reserve und kaskadenartig der japanischen, der britischen und schliesslich der von Draghi geführten EZB.

Eine Verschuldung, die in der Geschichte des Kapitalismus ihresgleichen sucht und die sich während der Pandemiekrise weiter vergrössert hat. Die Bilanzen der Zentralbanken haben unvorstellbare Zahlen erreicht, z.B. eben genau jene der amerikanischen Zentralbank (ich erinnere mich jetzt nicht an die präzise Zahl), welche im Bereich zwischen fünf und sieben Billionen liegt, was mehr oder weniger einem Drittel oder der Hälfte des amerikanischen Bruttoinlandsproduktes entspricht. Was – und das ist ein Punkt, den wir nicht vertiefen können – offensichtlich Auswirkungen hat auf die Inflation, jenes Phänomen, welches in den letzten eineinhalb Jahren (der sogenannten postpandemischen „Erholung“) zurückgekehrt ist.

Nun gut, die einfache Tatsache, diese Makroprozesse zu benennen, zeigt uns, dass das, was die Globalisierung in den letzten dreissig, vierzig Jahren gewesen ist, nicht ohne Risse oder wahrhafte und eigentliche Breschen verlaufen konnte – auch in Anbetracht der Tatsache, dass in diesen zehn Jahren zwischen 2008 und dem Ausbruch der globalen Krise China zwar nicht um die Weltwirtschaft und den Westen zu retten, aber doch, um als Ablassventil der wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu agieren, interveniert hat. Doch lassen wir es langsam angehen und machen wir einen Schritt zurück.

Was ist die Globalisierung gewesen? Oder besser, was haben – auf geopolitischer und sozialer Ebene sowie auf jener des Klassenkampfes, auf strikt ökonomischer Ebene – diese Zusammensetzungen konstituiert, welche die Globalisierung unter amerikanischer Führung ergeben haben?

Grundlegend handelt es sich um mindestens drei grosse Prozesse. Der erste ist ein geopolitischer Prozess, der die Versöhnung zwischen den USA und China beschreibt, sie begann Anfang der 1970er Jahre nach dem Übergang von Mao zu Deng, und zwar zu jenem Zeitpunkt, als die USA mit einer sehr grossen Krise konfrontiert waren, sowohl aufgrund der Niederlage in Vietnam als auch aufgrund der gesellschaftlichen Kämpfe des „langen 68“.

Auf strikt ökonomischer und monetärer Ebene ist die Abkopplung des Dollars vom Goldstandard 1971 entscheidend, sie hat die Fluktuation der Währungen sozusagen ohne physische Grundlage ausgelöst. Kurz zusammengefasst hatte die strikte und fixe Bindung des Dollars ans Gold im Bretton-Woods-System nach dem Zweiten Weltkrieg, die von allen anderen Währungen befolgt wurde, aus dem Dollar die globale Reservewährung und das internationale Zahlungsmittel gemacht. Ab 1971 verfolgt der Dollar hingegen einen „Akkordeon-Verlauf“, eine „Akkordeon-Dynamik“: In jenem Sinne, dass die Abkopplung vom Goldstandard es der amerikanischen Zentralbank erlaubt, nach Belieben Geld zu drucken, je nach den geostrategischen Anforderungen der USA, manchmal wird gedruckt, manchmal werden die Zügel angezogen und es wird abgeklemmt. Im ersten Fall, indem der Dollar gegen die globale Produktion ausgetauscht wurde, erlaubte das eine Kontrolle, eine Steuerung eines grossen Teils des weltweit produzierten Werts; im zweiten Fall hingegen, in veränderten Situationen, schloss sich das Akkordeon, um ihn wieder in die USA zurückzulenken, statt einem zu inflationären Dollar, der Gefahr lief, an Wert zu verlieren (und an Wert verlor). Eine gewöhnliche Taktik bestand z.B. darin, die Zinssätze anzuheben und somit jene Kapitale wieder in die USA zurückzulenken, welche Gefahr liefen, sich in anderen Gefilden anzusiedeln. Selbstverständlich ist das Problem viel komplexer, als ich es hier darstelle, doch es geht nur darum, einen Überblick darüber zu geben, wie seit den 1970er Jahren das aufgebaut worden ist, was wir den Finanzimperialismus des Dollars nennen können (und der in der Geschichte des globalen Kapitalismus eine noch nie dagewesenes Phänomen darstellt).

Regieren durch den Dollar bedeutet auch, über die globalen Wertflüsse durch die Verschuldung zu regieren. Denn ein Dollar in freier Fluktuation, mal inflationär, mal deflationär, je nach inneren oder internationalen Ereignissen, hat es den USA erlaubt, ein enormes Haushaltsdefizit und ein nicht minder enormes Aussenhandelsdefizit zu akkumulieren. Kurz zusammengefasst haben wir zum ersten Mal ein herrschendes Subjekt, das die Welt durch die Schulden beherrscht, seine Schulden. Ich möchte nur daran erinnern, dass die USA nach dem Ersten, und noch mehr nach dem Zweiten Weltkrieg, hingegen die wichtigsten Gläubiger der damals starken Mächte waren, der europäischen und allen voran der damaligen Hegemonialmacht Grossbritannien.

Das dritte Makrophänomen, das zur Geburt der Globalisierung beigetragen hat, ohne dass es davon, wie soll ich sagen, eine gemeinsame Organisation gegeben hätte – was im Kapitalismus unmöglich ist, ausser man will Verschwörungstheorien vertreten – war der Kampf des „langen 68“ und dessen Absorption. Ein Präzisierung ist diesbezüglich wichtig. Es war nicht schlichtweg eine Niederlage des Klassenkampfes im Westen, so wie er sich zwischen der 1960er und 1970er Jahre entwickelt hatte. Er wurde allenfalls geschwächt, und es gab auch bedeutende Niederlagen, aber allen voran eine Absorption der Forderungen von 68 – jener libertären und nach Autonomie strebenden Forderungen, die sich teilweise auch gegen die Abhängigkeit von der Lohnarbeit wandten – welche die aufstrebende Globalisierung gewissermassen erfolgreich absorbiert, sie auf ihre Spielwiese geführt und dort dekliniert hat, nämlich zugunsten eines erneuten Aufschwungs der kapitalistischen Akkumulation.

Das erklärt nun auch ein anderes Phänomen, oder kann es meines Erachtens plausibel erklären. Nämlich die Tatsache, dass die neue Herrschaft, welche die USA zufällig nach den 1970er Jahren, nach dem langen 68 über die Welt aufgebaut haben – eine Herrschaft, die, Obacht, notwendigerweise auch China als andere Säule gehabt hat (offensichtlich auf asymmetrische Art und Weise, sowohl bezüglich der Macht als auch des Profits), d.h. die Öffnung der westlichen Märkte (der amerikanischen allen voran) für den chinesischen Export, was die Internationalisierung der Produktion, die Konstitution globaler Produktionsketten erlaubt hat, das ermöglichte China diesen unglaublichen Aufstieg, in dreissig Jahren alles in allem, für welchen die anderen Länder mit einem reifen Kapitalismus hundert oder hundertfünfzig Jahre gebraucht haben, aber offensichtlich immer in einer asymmetrischen Position, ohne jegliche chinesische Vorherrschaft – also, so sagte ich, es ist offensichtlich, dass in dieser Architektur, in dieser globalen Zusammensetzung – dank der Widersprüche der sogenannten Finanzialisierung, d.h. der Tatsache, dass die USA ihr produktives Grundgerüst nicht komplett desindustrialisiert, es eher auf die „hohen“ Sektoren der Technologie umgestellt haben, während das Gewicht der Finanz- und spekulativen Wirtschaft unermesslich anstieg und durch die von uns beschriebene Kontrolle über die Währung und die Finanz – es den USA erlaubt hat, einen grossen Teil der globalen Wertflüsse ab- und einzufangen, indem sie sie auf neue und nie dagewesene Art und Weise unter ihre Kontrolle brachten. Nie dagewesen, weil man in den 1970er Jahren von einem unvermeidlichen Niedergang der USA ausging und es nicht so gekommen ist.

Es ist also klar, dass diese komplexe Architektur, die ich gerade – in hoffentlich nicht allzu konfuser Art und Weise – skizziert habe, ab 2008 Risse bekommen hat, sei es wegen inneren Widersprüchen, aber auch, weil China ab einem gewissen Punkt dazu gedient hat, diese neue amerikanische Herrschaft aufzubauen, was mit einem wirtschaftlichen Aufstieg und der Tatsache einherging, dass China gewissermassen damit begonnen hat – sei es mit der Erhöhung der Erträge und Löhne, sei es mit inneren Klassenkämpfen –, nach einem höheren Anteil an den globalen Profiten zu streben, wenn auch nicht unbedingt als Anspruch.

Was beinhaltete das alles? Auf chinesischer Seite das Bewusstsein innerhalb der Eliten, der Führungsriege der Staatspartei, für dieses asymmetrische Verhältnis, das aus dem Gleichgewicht, zu stark aus dem Gleichgewicht gebracht worden ist, das grundsätzlich bedeutet und bedeutete, dass sein Aufstieg gänzlich auf den Exporten in die westlichen Märkte basiert. Mit der Krise 2008 erwies sich diese Strategie allerdings als prekäre Wette, was die chinesische Führungsschicht überraschte und womit sie gewissermassen sofort konfrontiert war. Um die Krise zu mildern, intervenierte China also mit einer verrückten Aktivierung der Notenpresse 2009, womit es auch dem Westen half. Aber sein wirtschaftliches Entwicklungsmodell kann die Schwelle zu einer kontinuierlichen Verschuldung nicht überschreiten, es würde zu einer ähnlichen Blase wie im Westen führen, die früher oder später unweigerlich platzen und zu Toten und Verletzten in einem Prozess wie jenem der letzten dreissig Jahre führen würde, dieser war zwar aussergewöhnlich, aber auch voller wirtschaftlicher, sozialer und politischer Widersprüche.

China hat also grosso modo nach der globalen Krise einen Plan aufgegleist, eine Industrie- und Wirtschaftspolitik, die zum Ziel haben, in den Wertschöpfungsketten wieder hinaufzusteigen. Es geht, um es kurz zu fassen, um einen Wiederausgleich der Binnenwirtschaft und das Verhältnis seiner Wirtschaft zum Ausland. In konkreten Begriffen bedeutet das eine geringere Abhängigkeit von Exporten, die Stimulierung des eigenen Binnenmarktes, eine Verringerung der Abhängigkeit von westlichen Finanzeinschüssen und eine Projektion nach aussen mit den sogenannten Seidenstrassen. Für all das ist es für China offensichtlich grundlegend, den Sprung hin zu technologisch fortgeschritteneren Produktionen zu machen, allen voran in einem Feld, wo es entscheidend im Rückstand ist wie in jenem der Mikrochips. Es sollte präzisiert werden, dass der Fokus nicht so sehr und nicht nur auf der digitalen Produktion für den Massenkonsum liegt, sondern eher auf dem Design, der Produktion und der Planung von integrierten Schaltkreisen, die ihre Grundlage sind (offensichtlich auch die Grundlage von militärischen Technologien).

Dieser chinesische Wiederausgleichsplan, sollte er erfolgreich sein, wäre für die amerikanischen und allgemein die westlichen Multinationalen – und allen voran für die amerikanische Kontrolle durch den Dollar –, ich würde nicht sagen, das Ende, denn das ist nicht die Absicht und auch nicht realistisch in Anbetracht der Kräfteverhältnisse in China, aber doch ein ernsthafter Schlag. Es ist genau diese Hypothese, welche die amerikanische Reaktion ausgelöst hat, die zuerst im Kurs der Obama-Administration skizziert und dann mit dem sogenannten Handelskrieg Trumps lanciert worden ist. Vergessen wir nicht, dass der Handelskrieg nicht so sehr zum Ziel hat, die Handelsbilanz zwischen China und den USA wieder auszugleichen, denn das, wie wir zuvor gesagt haben, ist nicht das Problem. Die USA herrschen in aller Ruhe über die Welt, indem sie Schulden machen. Das Problem ist die Aufrechterhaltung der Priorität und der Vorherrschaft des Dollars und China daran zu hindern, technologisch höhere Stadien der kapitalistischen Akkumulation zu erreichen.

Und tatsächlich sehen wir eine perfekte Kontinuität zwischen der Trump- und der Biden-Administration. Biden tat nichts anderes, als die Strategie, welche die Form des sogenannten selektiven technologischen decoupling angenommen hat, zu verfeinern. Unter decoupling versteht man die Abkopplung Chinas vom Zugang zu gehobenen westlichen Kapitalen und Technologien, in einem internationalen Kontext, in welchem die USA die gleichen Mechanismen auch den Ländern des Westens und den Verbündeten in Asien (Japan und Taiwan) aufzwingen. „Selektiv“, denn ein totaler Bruch mit China wäre für die USA offensichtlich gleichbedeutend mit der Tötung des Huhns, das goldene Eier legt, was, zumindest gegenwärtig, weder geplant noch machbar ist. Gegenwärtig haben sich die USA auf geopolitischer Ebene in Richtung Ostasien neu orientiert und eine Strategie der Umzingelung, der neuen Eindämmung Chinas initiiert, ihre Schwerpunkte sind das (nördliche und südliche) Chinesische Meer und Taiwan. Dafür wollten sie den Mittleren Osten zwar nicht „aufgeben“, aber ihre Präsenz dort zumindest reduzieren, und gleichzeitig Afghanistan sich selbst überlassen und sich auf diese neue Flanke fokussieren.

Was haben nun Russland, Osteuropa und Zentralasien mit all dem zu tun?

Sie haben es allen voran, weil gewisse strategische Vorgaben der Seidenstrassen dort durch führen, das ist grundlegend für China, denn da es bezüglich der Meere eng aussieht (China hängt zum Beispiel für Gas- und Öllieferungen und alle Warenexporte davon ab), versucht China, den Transit via Landweg über Zentral- und Südasien sicherzustellen. Russland ist allein schon deswegen entscheidend und gleichzeitig ist die Ukraine der Voraussicht nach ein grundlegender Knotenpunkt der Seidenstrasse. Aber auch, weil es von einem politischen und geopolitischen Standpunkt aus offensichtlich ist, dass China für Russland einen grundlegenden Puffer gegen den Druck der NATO und der USA darstellt; und seinerseits ist Russland für China ein geographischer sowie, von einem wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, komplementärer Puffer. Russland exportiert hauptsächlich landwirtschaftliche und mineralische Rohstoffe und China ist die Werkstatt der Welt. Und rund um dieses Verhältnis – das kein Bündnis ist, aber trotzdem eine strategische Partnerschaft – können all diese territorialen Zonen und Gebiete kreisen, welche sich nicht komplett dem Diktat Washingtons unterwerfen wollen.

Hier und jetzt – und ich nähere mich der Schlussfolgerung – entsteht der Widerspruch dieser Phase, der uns offensichtlich für einige Jahrzehnte begleiten wird, wenn er nicht zuvor explodiert. Der Widerspruch dieser Phase entsteht aus der sowohl spiegelbildlichen als auch entgegengesetzten Notwendigkeit für China und die USA, die Globalisierung zu erhalten; und gleichzeitig aus der Notwendigkeit, Strategien umzusetzen, welche die gegenwärtige Globalisierung unterminieren, somit ihre Krise und dann vielleicht sogar ihren Rückgang, eine Entglobalisierung, begünstigen.

Was will ich sagen? China braucht die Globalisierung, denn es befindet sich am Scheideweg. Es muss weiterhin Waren exportieren, Rohstoffe aus der Hälfte der Welt importieren, aber allen voran Zugang haben zu Technologien und Kapitalen, die es noch nicht besitzt. Das Problem ist, dass China eine weniger asymmetrische, wir könnten sagen, eine multipolarere, multilateralere Globalisierung möchte. „Eine andere Globalisierung“, wie man vor zwanzig Jahren während der Bewegung gegen die Globalisierung sagte; was hingegen eindeutig eine sehr harte Reaktion seitens der USA hervorbringt, wovon wir jedoch gegenwärtig nur den Anfang sehen. Die USA sind nämlich gezwungen, mit dem decoupling zu antworten, somit versuchen sie, China (mithilfe von Sanktionen, Zöllen und allem, was wir noch sehen werden) vom globalen Kontext abzukoppeln und zu trennen, aber gleichzeitig ist es klar, dass die USA Gefahr laufen, den Ast abzusägen, auf welchem sie sitzen. Das heisst, jene Flüsse, jene Wertschöpfungsketten zu unterbinden und zu unterbrechen, welche substanziell die Quelle der globalen Herrschaft des Dollars und somit ihrer globalen imperialen Hegemonie sind.

Demzufolge liegt der Widerspruch in der Hervorbringung von Effekten, welche im Widerspruch zu jenen Bedingungen stehen, welche, ich wiederhole es, spiegelbildlich und entgegengesetzt für China sind – eine alternativere und weniger asymmetrische, weniger auf den Westen und den Dollar fokussierte Globalisierung – und für die USA – eine Unterbrechung der Handelsflüsse mit China, das allerdings in der Zwischenzeit zur Werkstatt der Welt geworden ist und ohne welche, wie wir es während der Pandemie gesehen haben, das Risiko besteht, die globalen Wertschöpfungsketten zu blockieren. In diesem Kontext, und jetzt nähere ich mich wirklich dem Ende, ist das grundlegende Problem auch, dass in der Zwischenzeit parallel zur Krise durch die Verschuldung und andere Mechanismen eine enorme Blase an fiktivem und spekulativem Kapital geschaffen worden ist, aus der, falls die Akkumulation wieder einsetzen soll, irgendwie die Luft herausgelassen werden muss und das auch auf heftige Art und Weise. Und schaut, mit Phänomenen wie der Inflation, den Kriegen (mit den damit einhergehenden Zerstörungen von Kapitalen und offensichtlich menschlichen Wesen) und einer Stagflation (d.h. produktive Stagnation zusammen mit einer Inflation), in welcher wir uns wahrscheinlich befinden, steuern wir erneut auf eine grosse oder zumindest auf eine beträchtliche Rezession zu.

Wenn man Europa anschaut, ich las diese Tage die Daten über Deutschland: Europa ist klar am heftigsten von dieser Ukraine-Krise getroffen worden (aber auch den USA geht es betreffend der Inflation nicht allzu gut), also gut, technisch betrachtet ist fast schon Rezession, vor allem wenn man die Daten mit jenen vor der Pandemie 2019 vergleicht. Wir hätten also eine grosse Rezession mit Kapitalentwertungen, Unternehmensschliessungen, Entlassungen, Zerstörungen: Und die Zerstörung ist die notwendige Bedingung für die Wiederaufnahme der globalen Akkumulation. Nur, mit all diesem wird es gleichzeitig zu Krisen und Kriegen kommen, und jeder Akteur, angefangen mit den USA, möchte die Kosten dieser Entwertung auf andere abwälzen und wird dies versuchen. Aber wir sehen es schon in der gegenwärtigen Krise: Wir sehen klar die Haltung der USA – Fortsetzung des Krieges, die Ukraine muss gewinnen – und die Schäden – sei es auf der Ebene der Energiepreise, aber auch allgemein mit allem, was Europa riskiert – werden eben genau auf den Verbündeten abgewälzt.

Es kann also sein (die Zukunft, vielleicht sogar die nahe, wird es zeigen), und ich komme zum Ende, dass der Krieg in der Ukraine ein erster Wendepunkt der Situation ist; ein Entriegelungspunkt, ein Abtaupunkt der Krise, die ich, vielleicht mehr schlecht als recht, zu beschreiben versuchte. Eine Umkehr des Zyklus, in welcher wir, und das ist kein Zufall, eine Politik der Federal Reserve beobachten können, die eine Abweichung (bis jetzt nicht um 180 Grad, aber das könnte durchaus geschehen) hinsichtlich des „leichten Geldes“ all dieser Jahre markiert. Sie erhöht nämlich die Zinssätze, um den Dollar zu stärken und wieder Kapitale in die USA zu locken: Es ist erneut dieser Akkordeon-Effekt des Dollars, von dem wir zuvor sprachen. Gleichfalls schadet die Erhöhung der Energiepreise Europa beträchtlich, wie das schon während der Energiekrise 1973 der Fall war; aber solange die Energie in Dollar erworben und gehandelt wird, schadet sie den USA nicht (oder würde ihr weniger schaden ohne die Begleiterscheinung der Inflation). Ich wiederhole es, solange der Dollar internationale Leitwährung bleibt.

Und hier, mit dem, was Russland gerade tut (z.B. eine Bezahlung in Rubel für den Handel der energetischen Rohstoffe verlangen), und mit dem, was China zum ersten Mal anstrebt (d.h. sich minimal vom Dollar abkoppeln, und so weiter, und so fort), ist, auch wenn die extremen Folgen davon offensichtlich nicht sofort eintreten werden, das Tabu zum ersten Mal benannt, es ist gebrochen. Wenn man an eine Weltwirtschaft denkt, die nicht dem Dollar unterworfen ist, denkt man an Prozesse der Entdollarisierung. Gegenwärtig weiss niemand, was dabei herauskommen wird, doch es ist offensichtlich, dass das Material explosiv ist. Zwischen Krisen der Globalisierung und dem möglichen Beginn der Entglobalisierung, sehr harten Reaktionen der USA, Prozessen (oder auch Absichten, Strategien) der Entdollarisierung ist es offensichtlich – und dabei werde ich es belassen –, dass die Ukraine-Krise der Niederschlag eines Klumpens an nunmehr systemischen Widersprüchen ist.

Übersetzt aus dem Italienischen von Kommunisierung.net

Quelle