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Wellen und Wogen: Anmerkungen zur Ukraine in der langen Krise

Montag 10. April 2023

Es hindert uns also nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Partheinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identificieren. Wir treten dann nicht der Welt doctrinär mit einem neuen Princip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Principien der Welt neue Principien. Wir sagen ihr nicht: lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will. […] Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysirung des mystischen sich selbst unklaren Bewusstseins, trete es nun religiös oder politisch auf. [1]

Die Dürftigkeit der Geopolitik

Unmittelbar vor der Ankündigung der russischen Regierung, dass sie „militärische Spezialoperationen“ in der Ukraine mit dem festgelegten Ziel der Demilitarisierung und der „Entnazifizierung“ durchführen werde, war die sogenannte „Linke“ entlang vertrauten parteiinternen Linien gespalten. In einer Darbietung dessen, was Leila Al-Shami den „‚Antiimperialismus‘ der Idioten“ [2] genannt hat, plapperten viele westliche angeblich „sozialistische“ Organisationen und angebliche „Kommunisten“ [3] in den sozialen Medien eine Analyse nach, in welcher die USA der einzige imperiale Akteur in einer polaren Welt ist [4]. Gemäss dieser Geschichte ist das russische Handeln in der Region seither, da die USA die Maidan-Revolution 2014 mit ihren rechtsextremen ukrainischen Nationalisten und Neonazi-Regimenten unterstützten, in seinem Wesen allen voran „antifaschistisch“ und „antiimperialistisch“ gewesen. Auf diese Weise dargestellt, sind die USA und die NATO inhaltsgleich mit „Imperialismus“ als solchem, während ihre geopolitischen Konkurrenten einen ungleichmässigen aber strategischen „Pol“ gegen diesen „westlichen Imperialismus“ bilden, eine Formulierung, die, in dieser Darstellung, überflüssig wird.

Viel anarchistische Analyse im Angebot ist, in der englischsprachigen Welt zumindest, kaum besser als die ihrer Kontrastfiguren in der „antiimperialistischen“ Partei der Ordnung. Wenn es auch der Intuition widersprechen mag, die Szene ist hier bemerkenswert ähnlich: Staatliche Autorität und geopolitische Interessen sind die fundamentalen Organisationsprinzipien der globalen Machtverteilung. Ihrer historischen Spezifizität und ihres gesellschaftlichen Inhalts beraubt, fällt die Form mit dem Inhalt zusammen und der Staat nimmt einen Fetischcharakter an und wird reduktiv zu einem Objekt der Empörung. In der Ukraine wurde eine verallgemeinerte Konfrontation mit dem Staat durch die Präsenz von Faschisten und „Antifaschisten“ auf „beiden Seiten“ erschwert. Für den reduktiven Anarchisten ist es, als ob die Ukrainer „zwischen zwei Fronten“ [5] gefangen wären, die bezüglich ihrer Ursprünge als unabhängig erscheinen, jedoch in ihrer Wirkung gleich gefährlich sind. Jeder Weg aus diesem Morast ist vernebelt.

Die Orientierungslosigkeit hat zur irritierenden Suche nach einer „anarchistischen Position“ innerhalb des Krieges selbst beigetragen. Dieser Strang anarchistischer Geopolitik macht Staaten und staatliche Macht nicht nur undurchlässig für historische Analyse und Kritik, er verwechselt auch seine eigene utopische Staatsfeindlichkeit mit einer materiellen gesellschaftlichen Position. „Anarchistischer Kampf“ oder „anarchistische Intervention“ gegen den Staat ersetzen schlicht und einfach Klassen-, Rassen-, Geschlechter- und koloniale Verhältnisse in der systematischen Dialektik des Kapitals. Was Kriegssituationen allen voran aufzeigen, ist die Tatsache, dass „radikale“ Positionen kaum, wenn überhaupt von Bedeutung sind. Wenn die Moral für grundlegende Analyse einspringt, kann sich die politische Theorie nur noch an Strohhalme klammern [6].

Was hat kommunistische Theorie zur gegenwärtigen Krise und zum Krieg anzubieten? Weiter unten skizzieren wir einige Betrachtungen, in welchen das geopolitische Narrativ mit den zentralen Akteuren NATO und Putin zugunsten einer Betrachtung des Kapitalismus in seiner globalen Totalität in den Schatten tritt: Eine gnadenlose Hydra, deren zahlreiche Köpfe dazu verdammt sind, sich in einem endlosen Zyklus der Selbstzerfleischung gegenseitig zu bekämpfen. Innere Fragmentierung und Konflikt sind langanhaltende Tendenzen des Kapitals in seinem Kampf um die Verwaltung gesellschaftlicher und ökologischer Krise und der Überwindung proletarischer Revolten. Die sich entfaltende Situation in der Ukraine löst Welleneffekte in der ganzen kapitalistischen Welt aus. Das bietet ein Fenster in diesen inneren Nischen des Chaos und gibt uns die Gelegenheit, diese Krise als Kommunisten zu analysieren.

Was gemeinhin „die Wirtschaft“ genannt wird, ist eine abstrakte Logik, eine Reihe von unpersönlichen, leidenschaftslosen Beziehungen, die durch die konkrete Realität der Fragmentierung, des Elends und der Feindseligkeit operieren. Wenn man von „Ländern“, „Staaten“, „nationalen Interessen“, „Regimes“ oder den Machenschaften der Realpolitik spricht, muss man verstehen, dass sie kaum mehr als manichäische Formen, innere Spaltungen und Spannungen in der Struktur der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sind. Das Wertgesetz ist weltumspannend und totalisierend, doch sein Fluss wird durch Trennung und Differenzierung vollendet. Die Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse nimmt personalisierte und antagonistische Formen wie Unternehmen, aber auch Klasse, Rasse, Gender und Nation an [7]. Sie nimmt die Formen von Kartellen, Monopolen, vertikal integrierten Wertschöpfungsketten, Lieferketten, nationalen Grenzen und Währungen an. Sie nimmt die Form von Staaten an.

Die häufig heftige Konfrontation, die Repression und der Zwang, die solche Verhältnisse regulieren, liegen nicht ausserhalb des Kapitals, sondern sie sind seinen Reproduktionsgesetzen immanent [8]. Im Kampf zwischen Staaten und Territorialität nimmt der prozessierende Widerspruch [9] des Kapitals eine politische Form an [10]. Geopolitik ist dann im besten Falle eine Spur der strengen Verwertungslogik [11]. Besonders in Krisenzeiten ist ihr analytischer Gehalt knapp und ihre annähernden Berechnungen können zu verheerenden politischen Schlüssen führen [12]. Da sie unfähig ist, die Verallgemeinerung der Krise, den Niedergang und das Auftauchen politischer Irrationalität im Chaos des Krieges zu erklären, rückt die geopolitische Analyse immer näher an Verschwörungstheorien, gesättigt mit Klagen über „Massenpsychose“ und neurokognitiver Manipulation, die nicht viel mehr tun, als die wirklichen historischen gesellschaftlichen Verhältnisse, welche die materielle Wirklichkeit konstituieren, zu psychopathologisieren [13]. Kommunisten würden diesen Fetisch besser Kolumnisten, Experten, Exzentrikern unter dem Niveau von Reddit und Diskursen in der Kleinbrauerei überlassen.

Das Periodisierungsproblem

„Der Sieg der Bourgeoisie ist der Sieg der zutiefst geschichtlichen Zeit, weil sie die Zeit der wirtschaftlichen Produktion ist, die die Gesellschaft fortwährend und von Grund auf verändert […] Die Geschichte […] wird jetzt als die allgemeine Bewegung begriffen, und in dieser strengen Bewegung werden die Individuen aufgeopfert.“ [14]

Ob sich der gegenwärtige Moment als Tragödie oder als Farce entfaltet, kann womöglich nur als blosse ideologische Unterscheidung geklärt werden. Auf jeden Fall scheint es viel klarer, dass wir uns, wenn wir jegliche Hoffnung haben, die Verwüstung, Zerstörung und Fehltritte zu begreifen, mit den toten Generationen, deren akkumulierte soziale Praxis jenen Boden durchdrungen hat, aus welchem die Lebenden ihre Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit beziehen, konfrontieren müssen. Das Problem historischer Bedingungen, die so, wie sie sind, von der Vergangenheit übermittelt werden [15], und die Zwänge, die sie den sie begleitenden Kampfzyklen auferlegen, stellen das Problem der Periodisierung dar [16]. Wer auch immer nahelegt, dass der russisch-ukrainische Krieg seine Wurzeln im Jahr 2014 oder im postsowjetischen Expansionismus der Nato habe, ist entweder ein Narr oder ein Schwindler. Jene, welche die Situation andererseits nur als jüngstes Aufflackern einer fast schon transhistorischen brüderlichen Rivalität zwischen der Ukraine und Russland präsentieren, handeln in einer ähnlich albernen und heuchlerischen Sphäre. Die Anpassungen des Kapitals in seiner longue durée sind viel dynamischer und dissonanter als es diese monotonen Töne erlauben würden.

Seit der Auflösung der Sowjetunion ist es Russland weit besser als der Ukraine ergangen, doch es konnte der Entstellung durch die lange Krise des Kapitalismus nicht entfliehen [17]. Um seine gegenwärtige Stellung in der Weltwirtschaft zu verstehen, ist es wichtig, die längere Geschichte der UdSSR und ihr industrielles Entwicklungsprogramm zu betrachten. Die gescheiterte „Modernisierung“ (z.B. die Industrialisierung) im Entwicklungsverlauf und das Tempo der europäischen Nationen, mit welchen Russland zunehmend im Wettbewerb um Rohstoffe, Energie und Märkte stand, setzten das späte Zarenreich beträchtlich unter Druck und trugen zu seiner Unfähigkeit, die städtische Bevölkerung zu ernähren, und zu weit verbreiteten Unruhen und dem Aufruhr von 1905 und den anschliessenden Revolutionen im Februar und Oktober 1917 bei [18]. Das Ausmass, in welchem die bolschewistische Revolution, der Russische Bürgerkrieg, die Neue Ökonomische Politik und die Gründung der UdSSR die Form eines bürokratischen „Staatskapitalismus“ oder eines „degenerierten Arbeiterstaates“ annahm, verursachte viele Kontroversen unter Anarchisten, Kommunisten, Theoretikern und Geschichtsschreibern [19]. Da sie dadurch moralisch beurteilt wurden, erschienen die proletarischen Aufstände und bäuerlichen Revolten von 1905 und 1917 als Misserfolge der kommunistischen Bewegung, blosse bürgerliche Konterrevolutionen, eingehüllt im Dogma und der Rhetorik des Marxismus und im revolutionären Kult rund um Lenin, Trotzki und Stalin.

Obwohl die Reaktion und die Repression von Revolte tatsächlich während dem bolschewistischen Aufstieg vorherrschend waren [20], würden wir durch die Übernahme eines unbeirrbaren Narrativs des Scheiterns Gefahr laufen, historische Analyse gegen moralischen Aphorismus und Tautologie einzutauschen. Wenn wir hingegen die Begriffe der Revolution 1917 und die innere Entwicklung der UdSSR historisieren, kommen wir zu einer anderen Beurteilung. Die historischen Eigenschaften des proletarischen Kampfes gegen das Reich und die Republik – die Gründung der Sowjets, der Räte und der Arbeiterselbstverwaltung – entsprechen dem, was Théorie communiste (TC) als die Periode des Programmatismus bezeichnet hat [21]. In dieser Ära wird die kommunistische Bewegung als Programm ausgedrückt – die Befreiung der Arbeit vom Kapital –, das durch die Affirmation des Proletariats als Klasse erreicht werden soll. Die proletarische Aktivität während dieser Periode nahm die Form von Arbeiterselbstverwaltung, parlamentarischer Politik, der Avantgardepartei und der klassischen Arbeiterbewegung an [22].

Die von TC angebotene Periodisierung ist durch ihre Analyse der formellen und der reellen Subsumtion strukturiert [23]. Sowohl für TC als auch für den (ehemaligen [24]) kommunistischen Theoretiker Jacques Camatte kann formelle und reelle Subsumtion über den unmittelbaren Produktionsprozess hinaus projiziert werden, um das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit im weiten Sinne (TC) oder die Gesellschaft in ihrer Totalität (Camatte) zu erklären [25]. Im historischen Schema von TC wird die Periode der formellen Subsumtion durch einen programmatistischen Kampfzyklus definiert. In der Periode der reellen Subsumtion ist der Kampfzyklus einer der Kommunisierung – der Selbstnegation des Proletariats als unmittelbare Hervorbringung von Kommunismus. Formelle und reelle Subsumtion sind jedoch nicht zwei abgesonderte Perioden. Sie sind eher sich kontinuierlich entfaltende Prozesse absoluter und relativer Mehrwertproduktion, die nebeneinander auftreten [26]. Trotzdem offeriert dieses Schema der Periodisierung einen wichtigen Kern analytischer Wahrheit: Der Inhalt und die Form des proletarischen Kampfes haben historische Grundlagen und Grenzen, die den inneren Dynamiken und der Bewegungsbahn des Kapitals entsprechen.

Eher denn als formelle und reelle Subsumtion können diese Dynamiken passender durch eine Periodisierung Übergang, Entwicklung der Produktivkräfte, Krise und Stagnation charakterisiert werden. Formelle Subsumtion im Allgemeinen beschreibt den ungleichmässigen Übergang zum Kapitalismus. Die Eigenschaften der programmatistischen Periode gelten, da das – enteignete und vom Markt abhängige – Proletariat kämpft, um sich selbst als Klasse gegen die alten Regime, Klassen- und Eigentumsstrukturen durch die Aktivität der Arbeiterbewegung zu verwirklichen. Darin findet es im Kapital einen Verbündeten und zusammen bilden sie die beiden Pole der systematischen Dialektik des Kapitals [27].

Wie wir sehen werden, entfaltete sich das spezifische Wesen des sozialistischen Wirtschaftsprogramms als beschädigter Übergang und industrielle Entwicklungsbürokratie, das in wiederkehrenden Krisen, anhaltender Stagnation und dem schliesslichen Niedergang und der Auflösung der UdSSR mündete. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist die UdSSR nicht so sehr ein moralisches Scheitern, sondern das primäre Produkt der Kampfperiode, in welcher sie entstanden ist.

Brot, Energie und der russische Weg

Während des gesamten 19. Jahrhunderts blieb das Russische Reich weit hinter seinen internationalen Konkurrenten in Europa zurück. Die kapitalistische Entwicklung in diesen Regionen setzte die Produzenten im russischen Orbit unter Druck, doch dort existierte weder eine materielle Grundlage für einen „inneren“ kapitalistischen „Übergang“, noch seine historische Unvermeidbarkeit [28]. Trotzdem mussten sich, da die globalen Märkte mit Waren von kapitalistischen Produzenten überflutet wurden, die sogenannten „nichtkapitalistischen“ Regionen einer veränderten politisch-ökonomischen Realität anpassen – und zwar schnell. Diese „späten Übergänge“ brauchten die durch protektionistische Staaten zur Verfügung gestellte Brutzeit, um eine schnelle Industrialisierung auszulösen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu einer dramatischen Kaskade rassialisierter Klassenkämpfe, innerer Streitigkeiten und nationalstaatlicher Konsolidierung, die in einer Rekonfiguration der globalen Kapitalakkumulation resultierte. Die Vereinigung Deutschlands und Italiens, der Amerikanische Bürgerkrieg, der Schwarze Wiederaufbau und seine Konterrevolution, indigene Enteignung und landwirtschaftliche Expansion westwärts in die Grossen Ebenen, die Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland, die Meiji-Restauration in Japan und die Opiumkriege und die Gründung von Hafenstädten mit Manufakturen in China – das sind alles Beispiele für diese allgemeine Tendenz eines staatsgeleiteten Übergangs.

In der imperialen Sphäre Russlands können 1905, 1917 und 1922 allesamt als Fortsetzung dieses Prozesses verstanden werden. Während dieser Periode und während einem grossen Teil des 20. Jahrhunderts funktionierte die UdSSR primär als „sozialistisches Entwicklungsregime“ [29]. Wie ihr imperialer deutscher Vorgänger offerierte sie einen starken Schutz gegen Märkte, die von Grossbritannien und zunehmend den USA beherrscht wurden, um den zerbrechlichen Prozess des grossangelegten industriellen Übergangs, der landwirtschaftlichen Transformation und der Proletarisierung zu nähren. Das erreichte der Entwicklungsstaat durch besondere bürokratische Kontrollen über die Produktion und die Distribution der Güter. Er schränkte Marktbeziehungen und Warenaustausch aktiv ein und betrieb stattdessen die Distribution von Konsumgütern und Rohmaterialien für die Schwerindustrie durch die Planung der Produktivität und die Beschränkung des Geldes auf seine Funktion als Zirkulationsmittel. Der Produktionsprozess wurde allerdings immer noch durch entfremdete abstrakte Arbeit determiniert. Als solche waren seine Resultate Werte und auch Gebrauchswerte. Trotzdem, und wegen der bürokratischen Planungsmechanismen, konnten diese zirkulierenden Warenwerte nicht angemessen in der Geldform als Preise ausgedrückt werden. Das Resultat waren angeborene Ineffizienz und Verschwendung und es kalzifizierte im wirtschaftlichen Apparat der staatlich verwalteten Produktion und Distribution [30].

Das war vielleicht nirgends konsequenter als in der sowjetischen Beschaffung und Distribution von Getreide [31]. Vor dem Ersten Weltkrieg, der revolutionären Periode und dem Bürgerkrieg hatte das imperiale Russland den Status als „Brotkorb der Welt“ erreicht. Getreideexporte, mehrheitlich aus der Ukraine, dem Nordkaukasus und dem Wolgabecken, nährten städtische Arbeiter im sich industrialisierenden Westeuropa, besonders in Grossbritannien, Deutschland und den Niederlanden. Russische Einwanderer und Siedler brachten Weizenstämme in die Ebenen der USA und Kanada und trugen zur Einführung der landwirtschaftlichen Produktion in diesen Regionen bei. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts repräsentierte russischer Weizen ungefähr zwischen einem Viertel und einem Drittel des Welthandels. Das Reich tauschte diese Weizenüberschüsse gegen landwirtschaftliche Maschinerie und andere industrielle Produkte. Mit dem Ausbruch des Krieges wurden die internationalen Beziehungen abgebrochen und die Weizenexporte brachen ein. Das blieb während mehr als einem Jahrzehnt so [32].

Die „Brotfrage“ und das „Weizenproblem“ waren eine anhaltende Quelle des Ärgers für sowjetische Planer. Der landwirtschaftliche Übergang und eine Revolution in den ländlichen Klassenstrukturen wurden zu zentralen Anliegen der Bolschewisten. Das Problem hatte zwei bedeutende Aspekte. Erstens mussten sie die Rote Armee während dem Bürgerkrieg ernähren. Zweitens mussten sie jenes städtische Proletariat, welches die ideologische Grundlage der Revolution darstellte, mit günstigen Lebensmitteln versorgen. Obwohl die bolschewistische Partei aus Angehörigen der städtischen Intelligenz, der Sowjets und industriellen Arbeitern zusammengesetzt war, war die grosse Mehrheit der Bevölkerung des russischen Reiches landwirtschaftlich. Es ist überflüssig, diese Geschichte hier noch einmal aufzurollen. Es genügt, zu unterstreichen, dass die Abhängigkeit von der arbeitsintensiven Landwirtschaft und eine widerspenstige Landbevölkerung für Lenin, Bucharin, Tschajanow und die sowjetischen Agronomen politisch-ökonomische Anliegen waren. Als Bauern revoltierten und Land in Besitz nahmen, hatte Lenin kaum eine andere Wahl als diese „Schwarze Umverteilung“ zu erlauben, das Privateigentum abzuschaffen und das Land unter der Bauernschaft durch das Dekret über Grund und Boden 1917 umzuverteilen. Das war nicht nur entscheidend für den Erfolg der Revolution, sondern es war es auch danach, um ein wachsendes Proletariat während dem industriellen Übergang stets zu ernähren [33].

Die kommunalen Strukturen der russischen Bauernschaft wurden in den ersten Jahren nach der Revolution weitgehend intakt gehalten. Dennoch war die Produktivität viel niedriger als in der vorrevolutionären Periode. Russland war nicht mehr der Brotkorb einer sich schnell industrialisierenden Welt. Die Planer strebten nach dieser Stellung. Ihre Absicht war es, Weizenexporte wie in der späten imperialen Ära zum Treiber der Industrialisierung durch Technologie- und Kapitalimporte zu machen. Die Neue Ökonomische Politik führte neue Anbaumethoden und Technologien ein und ersetzte Kulturen zum Eigenbedarf durch für den Verkauf und die Industrie bestimmte wie Getreide, Rüben und Ölsamen. Die sowjetische Planung priorisierte den Beschaffungspreis vor allem anderen. Das bedeutete in Anbetracht der Zentralität schneller Industrialisierung günstiges Getreide, nahm den bäuerlichen Produzenten hingegen jegliche Anreize und verschaffte ihnen nicht die Kapazität, arbeitssparende Technologien einzuführen [34].

Sowjetische Offizielle sahen das als „Rückständigkeit“ und „konterrevolutionäre“ Aufsässigkeit unter der Bauernschaft. Stalin systematisierte lediglich diese zunehmende Animosität im ersten Fünfjahresplan in Form der Kollektivierung. Darauf folgte Elend und Hungersnot – bekannt als der „Holodomor“ in der Ukraine – und die verhängnisvollen Auswirkungen davon auf dem Land sind allseits bekannt. Trotzdem gelang es mit dem Kollektivierungsprozess bis 1937, 93% des bebaubaren Landes zu konsolidieren. Die gesteigerte Produktivität erlaubte niedrigere Beschaffungspreise, was das rücksichtslose und kurzsichtige Ziel des Industrialisierungsplans war [35].

„Sozialismus in einem Land“ führte zu einer schnellen Industrialisierung zum Preis einer globalen Isolation. Als Teil der Entstalinisierung lockerte Chruschtschow die Kontrollen über landwirtschaftliche Arbeit, führte Preis- und Lohnanreize ein und beaufsichtigte den übergeordneten wirtschaftlichen Handel. Die Chruschtschow-Periode sah auch eine massive Ausweitung bebauten Landes mit der Neulandkampagne. Verbunden mit der Einführung des Maisanbaus weitete die Neulandkampagne neu bebautes Land um über 20% aus, allen voran in den zentralasiatischen Territorien. Doch ökologische und klimatische Grenzen liessen das Projekt letztendlich scheitern, denn die Ernte fiel aus und die Böden erodierten langfristig. Getreide setzte dem sozialistischen Entwicklungsregime weiterhin Grenzen [36].

Die UdSSR war nicht nur chronisch stagnierend, sie war auch strukturell unbelehrbar. Ab den 1970er Jahren läutete die Totenglocke für diese Unbiegsamkeit im Kampf gegen die frühen Stadien der langen Krise des Kapitalismus. Wirtschaftliche Stagnation und Korruption erreichten ihren Höhepunkt unter Leonid Breschnew in den 1970er Jahren [37]. Es gab jedoch zentrale Ausnahmen zum allgemeinen Rückstand der Periode – Getreide- und Ölmärkte –, die zu Vorboten der gegenwärtigen Krise geworden sind [38].

Die Nixon-Administration, die mit zunehmendem Wettbewerb in der Produktion gegen ihre europäischen und asiatischen Verbündeten, einem zunehmenden, in einem Handelsdefizit resultierenden Defizit aufgrund der Ausgaben für den Vietnamkrieg, einer Preissteigerung des Dollars und einem Ansturm auf die US-Goldreserven konfrontiert war, gab 1971 unilateral das Bretton-Woods-System und den festen Dollar-Gold-Wechselkurs auf. Die anschliessende Abwertung des Dollars vollbrachte das, was Nixon sich erhoffte: gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit der US-Hersteller. Doch die Auswirkungen beschränkten sich nicht darauf. Die Aufgabe der festen Wechselkurse führte zu vermehrter Währungsspekulation und einem Ende der Preiskontrollen. Die sowjetischen Planer und die Nixon-Administration traten 1972 in ein noch nie dagewesenes Handelsabkommen ein. Zehn Millionen Tonnen Getreide (hauptsächlich Weizen und Mais) sollte die UdSSR von den USA und Kanada zu subventionierten Preisen erwerben. Die Nixon-Administration sah das als humanitäre Hilfe für das von Hungersnöten gebeutelte sowjetische Landwirtschaftssystem. Verstärkte Animosität gegenüber Westeuropa, das damit anfing, amerikanische Güter zu meiden, brachten Nixon und Kissinger dazu, nach neuen aufstrebenden Märkten zu suchen. Unbeachtet von den USA hatten die sowjetischen Planer 1972 tatsächlich die Landwirtschaft industrialisiert und den Ertrag vergrössert. Obwohl Chruschtschow aufgrund seiner Neulandkampagne unbeliebt wurde, verzeichnete die Sowjetunion 1966, 1967 und 1968 Rekordernten. Das wurde durch Breschnews Einführung von importiertem landwirtschaftlichem Material und importierten Technologien und Subventionen zu deren Inkraftsetzung unterstützt [39]. Der Import von Getreide war nicht durch die Furcht vor Hungersnöten getrieben, sondern durch gesteigerte industrielle Viehproduktion, die gleichbedeutend mit einer historischen Restrukturierung des Sowjetsystems war. Nach dem Aufstand 1970 in Polen, der durch die Inflation der Lebensmittelpreise ausgelöst worden war, führte die allgemeine Furcht vor Aufruhr zu einer Politik gesteigerter Fleischproduktion [40]. Der an Wert verlierende Dollar und das an Wert gewinnende Gold erlaubten es den Sowjets, ihren Kredit unter extrem günstigen Umständen zurückzuzahlen. In den USA war der Getreidedeal ein logistischer Albtraum für Getreideproduzenten, Eisenbahnen und Häfen. Er dezimierte die Getreidereserven. Die Nixon-Administration hatte nicht realisiert, dass die globalen Getreidemärkte – und nicht nur der sowjetische – mit Engpässen zu kämpfen hatten. Als Resultat davon stiegen Lebensmittelpreise um 30 Prozent an, da die UdSSR den globalen Getreidemarkt in die Ecke trieb, was dazu führte, dass der Deal fortan „Der grosse Getreideraub“ genannt wurde [41]. Drei Jahre später antworteten die USA mit einem zweiten Getreidedeal. Um in den amerikanischen und globalen Getreidemärkten Vorhersehbarkeit zu garantieren, verhandelten die USA 1975 einen Deal, in welchem sich die Sowjetunion verpflichtet, eine festgelegte Menge (6 bis 8 Millionen Tonnen) an Getreide oder Mais während fünf Jahren zu erwerben. Im Gegenzug verpflichteten sich die USA, 200‘000 Fässer an sowjetischem Rohöl zu kaufen [42].

Der Kollaps von Bretton Woods und dem sowjetischen Getreidedeal waren zeitgleich mit einem dritten grossen Schock für die Weltwirtschaft: dem Ölembargo der OPEC 1973. Da die OPEC-Produzenten das Angebot als Antwort auf den Jom-Kippur-Krieg verknappten, stiegen die Ölpreise in Westeuropa und den USA sprunghaft an. Das verschaffte sowjetischen Planern und Ostblockländern, die das meiste ihres Rohöls aus der UdSSR importierten, einen substanziellen Wettbewerbsvorteil, nicht nur in Ölmärkten, sondern auch in von Treibstoff abhängigen Industrien. Der steigende Ölpreis war gleichbedeutend mit einem Fluss an Petrodollars in die Truhen der OPEC-Produzenten. OPEC-Länder hatten keinen gut entwickelten Finanzsektor und darum flossen diese Petrodollars zurück in europäische und amerikanische Finanzinstitute. Stagnierende Profite in der Herstellung begrenzten dort die Möglichkeiten für finanzielle Investitionen. Kapital floss in aufstrebende Volkswirtschaften in Lateinamerika, dem globalen Süden entlang und nach Osteuropa. Die in dieser Periode resultierende Stagflation [43] minderte den Geldpreis, da die Zinssätze tatsächlich null waren. Diese Auswirkungen kombinierten sich und multiplizierten die Kreditaufnahmen zur Entwicklung, auch in der Sowjetunion und im Ostblock [44]. Mit hohen Warenpreisen verwandelten sich sowjetische Ölexporte in gesteigertes Fremdwährungseinkommen. Diese Brennstofferträge finanzierten weitere Landwirtschaftssubventionen und wurden gegen grössere Mengen an Tierfutter getauscht [45].

Die Konjunkturkrise der 1970er Jahre restrukturierte die globale kapitalistische Wirtschaftsordnung. Als Resultat davon wurde die Sowjetunion in globale Getreide-, Energie- und Kapitalmärkte hineingezogen. Der Ostblock industrialisierte sich dank des Versprechens billigen Geldes. Obwohl diese Transformationen im globalen wirtschaftlichen Tagesgeschehen nebensächlich waren, erscheinen sie im Nachhinein als frühe Zeichen der Zerstörung. Als die Fed einige Jahre später die Zinssätze erhöhte (der sogenannte „Volcker-Schock“, der weiter unten erklärt wird), wurden die Märkte illiquide und Investoren kündigten substanzielle Teile ihrer Darlehen. Viele osteuropäische Länder wurden zahlungsunfähig. Die Regierungen versuchten, die Steuerkrise durch Sparpolitik und gesteigerte Lebensmittelpreise zu verwalten, das führte zu aufständischen Wellen während den ganzen 1980er Jahren und schliesslich zu den Revolutionen 1989. Obwohl er gegen die Breschnew-Periode polemisierte, weitete Gorbatschow, als er 1985 die Macht übernahm, die Dezentralisierung, die Deregulierung und die Marktliberalisierung aus. Diese Paradigmen nahmen in den 1970er Jahren Form an, während dieser Zeit wurde die sowjetische Wirtschaft durch Marktimperative unter Kontrolle gebracht, allen voran bezüglich Getreide und Öl. Gorbatschows Restrukturierung wurde unternommen, um die wirtschaftliche Effizienz in den nicht produktiven Sektoren zu steigern, doch sie trug zur Verursachung des Kollapses der Sowjetunion 1991 bei und kulminierte schliesslich in einer verhängnisvollen Wirtschaftskrise [46].

Staatliche Kapitalanlagen wurden privatisiert und von ehemaligen sowjetischen Regierungsbeamten und Bürokraten erworben, was zur Bildung jener sogenannten „russischen Oligarchen“ beitrug, für welche die amerikanischen Medien eine Obsession haben. Sie sind nichts anderes als die Nutzniesser der Konsolidierung und der Konzentration des Kapitals, die von Bedingungen der Krise und des Elends, einem langen, turbulenten Übergang zum Kapitalismus und von zwei wesentlichen Faktoren der kapitalistischen Produktion – billiger Nahrung und billiger Energie – begünstigt worden sind.

Krisen der postsowjetischen Ära

Die Restrukturierung in den 1970er und 1980er Jahren führte zu grösserer Marktabhängigkeit. Die Integration in globale Lebensmittelmärkte verstärkte sich im Vorfeld des Kollapses von 1991 und die Unruhe nach dem Marktübergang führte zu weit verbreiteter Lebensmittelknappheit und Inflation. Im Glauben, es würde die Produktivität steigern, fuhr die Jelzin-Administration mit der Privatisierung landwirtschaftlich nutzbarer Flächen fort. Die Bauern waren allerdings mit einem Problem der „Preisschere“ konfrontiert, einem zunehmenden Missverhältnis zwischen landwirtschaftlichem Aufwand und Produktpreisen. Das Ergebnis der landwirtschaftlichen Privatisierung war die starke Vermehrung kleiner Bauern mit wenig Kapital. Sie hatten schlichtweg nicht die Kapazität, zur Steigerung der Produktivität in neue Technologien zu investieren. Umfassend betrachtet, löste die allgemeine Konsolidierung und Zentralisierung der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen während den 1990er Jahren für kleine Bauern eine Krise aus. Während den gesamten 1990er Jahren waren ländliche Russen mit Zahlungsunfähigkeit und Armut konfrontiert. Sogar nach fast 80 Jahren gab es noch keine Antwort auf die „Brotfrage“ [47].

Die finanzielle Restrukturierung der postsowjetischen Republiken hing vom Gambit der „Schocktherapie“-Reformen ab. Angeführt von der Jelzin-Administration, dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der US-Regierung und ausländischen Finanzberatern übernahm das Programm politische Konzepte, die von der Chicagoer Wirtschaftsschule beeinflusst waren [48]. Aufgrund einer Empfehlung des IWF brachte die Restrukturierung mit sich, dass Russland ausländische Kredite zur Finanzierung des Defizits aufnahm. Das integrierte die ehemals isolierte russische Wirtschaft schnell in ausländische Finanzmärkte. Da Russland immer noch in der Ära der Stagnation und des Taumels aufgrund des Kollapses der Produktion nach dem Niedergang der Sowjetunion feststeckte, vermochte die Finanzierung des Defizits kaum Wachstum zu stimulieren. Was sie jedoch vermochte, war, Russland dazu zu bringen, im Falle einer Finanzkrise anfällig für Zahlungsunfähigkeit zu sein.

Diese Krise kam 1998 [49]. Ihre Wurzeln können bis zur ostasiatischen Finanzkrise von 1997 zurückverfolgt werden [50]. Während zwei Dekaden war diese Region die Hochburg der produktionsbasierten Expansion und der ökonomischen Dynamik. Diese Periode endete 1997 und die verarbeitende Industrie brach ein. Der Einbruch der Anlagemärkte und Kapitalflucht folgten. Er breitete sich in der ganzen asiatischen Versorgungskette und der Weltwirtschaft aus, da Finanzinstitute, Banken und Unternehmen aktiv in der Vermögensverwaltung alle Anlagen in Yen [51] hatten und/oder mit der Preiseinschätzung asiatischer Firmen verkettet waren. Die unmittelbaren Konsequenzen des Zusammenbruches waren ein Sturz der globalen Profite, der Warenpreise und des Öl- und Gaspreises. Russland und „aufstrebende Volkswirtschaften“ wie Brasilien und Argentinien wurden in die Krise hineingestossen. Als Waren- und Energieexporteur hatte Russland deswegen schnell keine Fremdwährungsreserven mehr, seine Währung wurde entwertet, seine Aktien- und Obligationenmärkte brachen zusammen, was dazu führte, dass es seinen Zahlungsverpflichtungen aufgrund der Staatsverschuldung nicht mehr nachkommen konnte [52] [53].

Obwohl das unmittelbare Resultat inländische Inflation war, machte die schnelle Entwertung des Rubels die Region kompetitiver in der Produktion und den Exporten [54]. Das, zusammen mit einer darauffolgenden Steigerung der Waren- und Energiepreise, brachte zum ersten Mal seit dem Kollaps der Sowjetunion eine Periode anhaltenden Wirtschaftswachstums. Diese Periode, grob zwischen 1999 und 2010, war jene, wo Putin die Macht und Unterstützung im Volk konsolidieren konnte. Der Erfolg seiner „Agenda zur Ernährungssouveränität“ [55], von der wir weiter unten sprechen werden, gab seinem politischen Aufstieg einen beträchtlichen Antrieb. Die Flitterwochen waren letztendlich kurz. Ab den 2010er Jahren fühlten die Regierungen den Druck von frustrierten und widerspenstigen Bevölkerungen. Nach der Finanzkrise und der Rezession 2008 begann die sogenannte „Bewegung der Plätze“ [56], Form anzunehmen [57]. In Russland ergriff die breiteste Protestbewegung in der postsowjetischen Ära, die Schneerevolution, das Land von 2011 bis 2013, während die Raten des Reallohnwachstums und jene des BIP per Kopf sich nun in die andere Richtung entwickelten als während der vorhergehenden Dekade. Ab 2014 war die russische Wirtschaft wieder hinabgezogen in das Muster der globalen Stagnation. Das bringt uns zur Ukraine zurück.

Der lange Winter

Es ist wesentlich, die lange wirtschaftliche Depression in der Ukraine zu verstehen [58]. Von allen Nationalstaaten des ehemaligen sowjetischen Blockes hat sie den tiefgehendsten Niedergang seit 1991 erlebt. Während der sowjetischen Ära basierte ihre wirtschaftliche Entwicklung auf Metallabbau und in erster Linie der Herstellung von Eisen und Stahl. In der Zwischenzeit haben die globale Produktionskrise der 1970er Jahre, der Wettbewerb, das Überangebot auf dem Markt und die Desindustrialisierung diese Sektoren zerstört. Am deutlichsten trat dies seit der Auflösung der Sowjetunion hervor, was zu einer massiven Depression in den gesamten 1990er Jahren führte. Das Wachstum der Arbeitsproduktivität war in der Ukraine besonders stockend [59]. Verglichen mit ähnlichen europäischen Staaten in der Region hat sie die tiefsten Löhne [60]. Auf globaler Ebene hat das Land die fünftniedrigste Wachstumsrate des BIP pro Kopf [61]. Es hat sich nie erholt und das Niveau vor dem Niedergang nie mehr erreicht [62]. Diese unnachgiebige Stagnation hat Wunden in der ukrainischen Wirtschaft hinterlassen, was sie Finanzkrisen und ausländischer Konkurrenz über Kapitalinvestitionen aussetzt. Niedrige Produktivitätsraten und eine Überkapazität in der Produktion ergeben kombiniert niedrige Profitraten. Mit der niedrigen Profitabilität auf versunkenes Kapital gingen neue Investitionen zurück. Jegliches Wirtschaftswachstum in der postsowjetischen Periode ist gering, sporadisch und zuerst von der grossen Rezession 2008, danach von den Unruhen 2013-2014 (der sogenannten Maidan-Revolution), der russischen Annexion der Krim und jüngst der Covid-19-Pandemie eingedämmt worden. Dass die stagnierende Schwerindustrie allen voran im östlichen Donbass konzentriert ist, hat zur weit verbreiteten Unzufriedenheit in der Region beigetragen.

Diese Bedingungen spitzten sich nach der Finanzkrise von 2008 zu [63]. Sogar vor der Krise hatte die Ukraine eine der niedrigsten Wirtschaftswachstumsraten weltweit. Weil das Land so stark von Warenexporten und Exporten aus der Schwerindustrie abhängt, erlebte es 2008, nachdem die Preise gesunken waren, eine tiefe Krise. Die Regierung bat den IWF, die EU und Russland um Darlehen. Darlehen von den westlichen Machtblöcken kamen mit der Bedingung der „strukturellen Anpassungen“, d.h. strenger Sparpolitik. Anfänglich sicherte sich die Ukraine nach allen Seiten ab und wandte sich an Russland, da seine angebotenen Darlehen weniger streng und restriktiv waren.

Diese Neuausrichtung hin zur russischen Sphäre war ein Auslöser für die Maidan-Bewegung (Maidan bedeutet „Platz“) während dem Winter 2013 und 2014 und für das Wiedererwachen des ukrainischen Nationalismus, der Rechtsaussenparteien und Neonazis. Wie die breitere Plätzebewegung in diesem Kampfzyklus [64] bestanden die Maidan-Proteste aus einer bunt gemischten Masse von prowestlichen liberalen Reformern und Universitätsstudenten, die von der ukrainischen Politik und der Administration Viktor Janukowitschs, der die wirtschaftlichen Verbindungen zu Russland verstärkt hatte, irritiert waren. Doch diese Welle ermunterte auch linke Unzufriedenheit mit „neoliberalen“ politischen Programmen und Reformen im Staat nach der Krise. Die sich verallgemeinernde Unruhe und hohe Arbeitslosenraten waren die Ursachen für die Aktivität von verarmten Arbeitern und überschüssigen Bevölkerungen [65].

Die involvierte Spontaneität und die Erscheinung von Einheit haben einige [66] zur positiven moralischen Beurteilung gebracht, dass die „Revolution der Würde“ (der offizielle Name für die Bewegung im Winter 2013-2014) in ihrer Essenz ein „authentischer Volksaufstand“ gewesen sei. Andere [67] haben Zweifel an den Grenzen einer solchen Entwicklung aufkommen lassen. Wenn das Kapital zu einer materiellen Gemeinschaft geworden ist [68], was ist dann der Inhalt eines Kampfes des „Volkes“? Tatsächlich lieferte das Problem der Zusammensetzung des im Volk verbreiteten Antagonismus gegen die Regierung die Hülle für Euronationalismus und Neonazi-Militanz. Organisatorisch und stillschweigend lieferte er den Spiegel für die Bewegung des „Anti-Maidan“ auf der Krim und im Donbass als die sich entwickelnde Erscheinung einer Revolte im Volk. Da der Zerfall der Bewegung den Weg freimachte für Annexion, Bürgerkrieg und rassialisierte und nationalistische Gewalt, stützten sich sowohl die prowestlichen als auch die prorussischen Kräfte auf die Rhetorik des „antifaschistischen“ Kampfes und den Aufruf zu einer vereinigten demokratischen Front [69].

Diese Episode, der sogenannte „Russische Frühling“, zeigte die Grenzen eines formellen Antagonismus gegen den Staat auf, wenn er seines wirklichen sozialen Inhalts entleert ist. Ein Aufstand, bemerkt Théorie communiste, ist nicht bloss durch die taktische Entwicklung, die militärische Konfrontation oder die politische Organisation begrenzt. TC legt dar, dass letztendlich die Welle der Erhebungen in den letzten Jahrzehnten durch die Trennung der Sphären der Produktion und der Reproduktion begrenzt worden ist. Sie sind unfähig gewesen, den „Glasboden“ zur versteckten Produktionsstätte zum Bersten zu bringen und sich dem zu stellen, was es zum Leben und Überleben braucht. Diese Fähigkeit wird teilweise durch die Zusammensetzung und Neuzusammensetzung des Kampfes determiniert. Im Kontext der langen Krise hat die zunehmende Präsenz von permanenten (rassialisierten) überschüssigen Bevölkerungen, die vom Produktionsprozess verdrängt worden sind, zu Kämpfen über die Zirkulation und die Reproduktion geführt. Diese Einheit in der Enteignung drückt den Zerfall und die Fragmentierung des Proletariats aus und erscheint als äusserer Zwang [70]. Das Problem der Zusammensetzung kann nicht durch eine Koalition gegen diesen oder jenen staatlichen Akteur verdrängt werden. Es ist in Wirklichkeit elementar für die Revolution als einen sozialen, eher als einen politischen Prozess.

Die sich im Winter 2014 entfaltenden Ereignisse bestätigen diese Lesart. Die USA, die NATO und die EU unterstützten die Nationalisten. Russland antwortete durch die Annexion der Krim und die Einschränkung seiner Verluste. Die daraus resultierende Regierung, die eher nach der EU, der NATO und den USA ausgerichtet war, erhielt Darlehen vom IWF und nahm sich die Aufgabe einer sparpolitischen Restrukturierung vor, wodurch staatliche Dienste und die öffentliche Unterstützung verschwanden. Sie hielt auch die Bedingungen ihrer Darlehen von Russland nicht ein. Das hielt die ukrainische Wirtschaft gerade noch liquide.

Schwarze Erde und tiefe Wasser

Ab 2010 schien Putins Ernährungssicherheitsplan die „Brotfrage“, welche die sowjetischen Planer und Parteibürokraten lange gequält hatte, beantwortet zu haben. Zum ersten Mal seit fast einem Jahrhundert war Getreide zu einem wichtigen russischen Exportartikel geworden. Das war Teil einer breiteren Verlagerung hin zum Wirtschaftsnationalismus und zu staatlich gelenkten Akkumulationsregimen. Die Steigerung der Warenpreise Anfang der 2000er Jahre verschaffte dem Staat die nötigen Öleinkommen und Renten, um die landwirtschaftliche Konsolidierung und Zentralisierung und die technologische Modernisierung zu finanzieren – der Aufstieg der „Agroholdings“. Der Staat offerierte Darlehen und Subventionen, um Investitionen ins Kapital und in die Technologie zu unterstützen. Nach der Preissteigerung führten sinkende Preise zu Handelsstreiten über landwirtschaftliche Güter. Putins Regierung führte Zollgebühren und Importverbote ein, sogar nach dem Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation. Im Kontext globaler Stagnation konnte „Ernährungssouveränität“ nur durch Importsubstitution erreicht werden [71].

Dennoch forderte Russland seinen Status als Brotkorb der Welt erst im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte wieder ein. Russland ist nun der grösste Getreideexporteur der Weltwirtschaft. Dadurch wurde die mit der Putin-Ära verbundene Wahrnehmung des Wohlstands tendenziell garantiert. Doch solche Beurteilungen klingen hohl. Die Resultate der Krisen der 1990er Jahre und des Aufstiegs der „Agroholdings“ in den 2000er Jahren waren ländliche Enteignung, sinkende Mobilisierung landwirtschaftlicher Arbeitskraft und transformierte Erntezyklen. Das hat zu einer Abwanderung der Bevölkerung und zum Zustrom, allen voran aus Zentralasien, der Türkei, Korea und China, aber auch Weissrussland und der Ukraine [72], saisonaler migrantischer Arbeitskräfte geführt. Diese gesteigerte rassialisierte Arbeitsprekarität war durchaus profitabel für die landwirtschaftlichen Holdings. Die Steigerung der Warenpreise während den 2000er Jahren führte zu einem globalen Ansturm auf verfügbares Land. Diese Vorliebe für landwirtschaftliche Anlagen wurde durch die Finanzkrise 2008 gestärkt, daraus resultierte eine Kapitalflucht von hypothekarisch gesicherten Wertpapieren. Das Einströmen von Kapital in landwirtschaftliches Land und landwirtschaftliche Holdings ist also Teil einer globalen Tendenz von Kapital auf der Suche nach Rente unter Krisen- und Stagnationsbedingungen, nicht ein Zeichen für Wohlstand oder Wachstum. In Russland sind diese „Agroholdings“ im Wesentlichen in der Region der „Schwarzerde“ (Chernozem) konzentriert. Russlands zentrale Schwarzerde-Region ist Teil eines ausgedehnteren Schwarzerde-Gürtels, der sich über die zentrale eurasische Steppe erstreckt. Schwarzerde ist für ihre Fruchtbarkeit bekannt, ein Segen für ein Kapital, das verzweifelt nach Renten sucht [73].

Die Vorherrschaft Russlands in den globalen Getreidemärkten hat Konflikte mit anderen grossen Nahrungsexporteuren zur Folge. Nach der Invasion und Annexion der Krim 2014 antwortete Russland auf die internationalen Sanktionen mit einem Embargo auf landwirtschaftliche Produkte gegen die USA, die EU, Kanada, Norwegen und Australien. Es war in Tat und Wahrheit eine Weiterführung und Ausweitung der Politik der Importsubstitution zur Förderung heimischer landwirtschaftlicher Produktion. Ab den 2010er Jahren hatte der wachsende Marktanteil des russischen Getreides Putin dazu gebracht, Getreidepreise als Instrument der Aussenpolitik zu instrumentalisieren. Die Administration strebte danach, ein globales Getreidekartell – nach dem Vorbild der OPEC – zu organisieren, passend zu Russlands Abgleiten in den Status eines Rentierstaates [74]. Der Grund für die Aufgabe dieser Pläne durch die Beamten ist nah verwandt mit der gegenwärtigen Krise: ein Territorialkonflikt mit der Ukraine [75].

Territorial betrachtet, ist die Ukraine mit dem Joch des Wohlstands natürlicher Rohstoffe konfrontiert [76]. Sie besitzt einen Fünftel des weltweiten Eisenerzes handelsüblicher Qualität und massive unangezapfte Gasreserven. Doch tiefe Produktivitäts-, Profit- und Investitionsraten haben viel Land und Kapital ungenutzt gelassen, was ein weiteres grosses Hindernis für Wirtschaftswachstum im Land war.

Das ist vielleicht nirgends offensichtlicher als auf dem ukrainischen Land. Die Ukraine ist einer der grössten Getreideproduzenten und der grösste Exporteur von Pflanzenöl weltweit. Sie hat ihren Status als „Goldlöckchen“ erhalten, jener einer landwirtschaftlichen Region, der Wirtschaftswachstum für Jahrhunderte garantiert [77]. Über ein Viertel der weltweit vorkommenden Schwarzerde ist in ihrem Besitz, der grösste Teil davon ist im Osten konzentriert, auch in der umkämpften Donbass-Region. In der Ukraine ist die Region, im Gegensatz zu Russland, dank warmem Wetter und flachem Terrain besonders günstig für Getreideproduktion. Trotzdem ist die landwirtschaftliche Arbeitsproduktivität tief, da weite Teile der Bevölkerung durch traditionelle bäuerliche Vereinbarungen über Grundbesitz ans Land gekettet sind. Als Resultat davon ist die Wertschöpfung pro Hektar viel tiefer als jene anderer europäischer Konkurrenten [78].

Während der Kampf um die Kontrolle über die landwirtschaftliche Produktion in dieser Region über Jahrhunderte gleich geblieben ist, hat er im Verlauf des letzten Jahrzehnts eine besondere historische Form angenommen. Die USA und die EU, zusammen mit anderen Machtblöcken des globalen Kapitals, stellen sich für die Zukunft eine historische investitionsinduzierte Agrarrevolution auf einem der fruchtbarsten Böden der Erde vor [79]. Als Teil ihrer nach Westen hin orientierten Restrukturierung seit dem Maidan hat sich die Ukraine darauf vorbereitet, staatlich kontrolliertes Land auf einem Gebiet so gross wie Kalifornien für ausländische Investitionen zu verschachern, was den Grundbesitz konsolidieren, die Landwirtschaft mechanisieren und die Arbeitsproduktivität stark steigern würde (d.h. es würde ländliche Bevölkerungen enteignen). Die Möglichkeiten für profitable Renditen sind ziemlich lukrativ.

Das ausländische Investitionsinteresse in der Region beschränkt sich allerdings nicht auf den „Westen“. Weltweit treibt eine gewisse Anzahl konvergierender Krisen die Nahrungsmittelpreise in die Höhe, hauptsächlich jene von Getreide. Die Tendenz ist besonders auffallend in Russland; vor der gegenwärtigen Grenzkrise und Invasion trugen der Klimawandel, die Wildfeuer in den russischen Grasländern (eine Folge des landwirtschaftlichen Entwicklungsschubs während der Sowjet-Ära), regionale Unruhen und Mangel an Arbeitskräften zu einem relativen Anstieg der Nahrungsmittelpreise im Verhältnis zum Preis von Öl und Gas bei. Dadurch hat die potenzielle wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine zugenommen, besonders für Russland, dessen Wirtschaft von einer Kombination von Energie-, Waren- und Nahrungsmittelexporten abhängt. Die Möglichkeit der Privatisierung dieses Landes durch Kapital aus der USA und der EU würde verhindern, dass das russische Kapital Renten, Zinsen und Profite von den konsolidierten und mechanisierten „Agroholdings“ extrahieren und die damit verbunden Distributionsnetzwerke, Lieferketten und Eisenbahnkorridore kontrollieren könnte, was die politischen und wirtschaftlichen Spannungen nur vergrössert hat [80].

Ein Schlüsselaspekt der wirtschaftlichen Vorherrschaft in der Region ist die Kontrolle über die Transportinfrastruktur und der Zugang zum Weltmarkt. Historisch war letzterer stets das Baltische oder das Schwarze Meer [81]. Die moderne Russische Föderation, die dermassen von Exporten abhängig ist, muss einen geregelten Zugang zu Tiefwasserhäfen für Containerschiffe aufrechterhalten, um Fracht in die EU zu transportieren, Russlands wichtigster Handelspartner. Dies erfordert Warmwasserhäfen. Russland hat versucht, die Grenzen des Handels über das Baltische Meer durch die Entwicklung des Nördlichen Seeweges [82] zu überwinden, wofür Eisbrecher benutzt würden, um ihn für ganzjährige Navigation tauglich zu machen. Obwohl das Schmelzen der polaren Eiskappen den Prozess beschleunigt, bleibt der Plan ausgesprochen ambitiös.

Damit bleibt das Schwarze Meer übrig. Vor 2014 enthielt das russische Territorium im Schwarzen Meer keine natürlichen Tiefwasserhäfen. Das änderte sich mit der Annexion der Krim und des Hafens von Sewastopol [83]. Die ukrainischen Küstenlinien am Schwarzen und am Asowschen Meer besitzen das grösste Potenzial für Tiefwasserhäfen in der Region. Es sollte unterstrichen werden, dass die südliche Front der russischen Militärinvasion zu einer ausgedehnten Besetzung der ukrainischen Südküste geführt hat, wichtige Hafenstädte eingeschlossen [84].

Schwarzerde und Tiefwasser zeigen sich als entscheidende Komponenten der regionalen politischen Ökonomie, ihrer Integration ins globale Kapital und ihres Wachstums gegenüber internationalen Konkurrenten. Die langanhaltende Krise des Kapitalismus hat die Klimakrise und eine globale Pandemie sowohl hervorgebracht als auch beide aufeinander abgestimmt [85], was aus diesem Szenario eine gewaltsame Konfrontation macht.

Konvergierende Krisen [86]

Die Covid-Pandemie hat zu einer weitgehenden wirtschaftlichen Stilllegung, Unterbrechungen der Lieferketten und als Resultat davon zu globaler Inflation geführt [87]. Der Kapitalismus tendiert langfristig zur Deflation, da die Warenpreise durch kontinuierliche, die Arbeitsproduktivität steigernde Revolutionen im Produktionsprozess zunehmend reduziert werden. Dennoch begannen die Profitraten in der Produktion ab den 1960er Jahren und Anfang der 1970er Jahre zu fallen, Produktivitätssteigerungen stagnierten und es kam nach dem Ölembargo der OPEC 1973 zur Rezession. Der „Ölschock“ [88] trug dazu bei, eine merkwürdige Kombination von Inflation und Stagnation zu verursachen, die seither „Stagflation“ genannt wird. Ab Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre wurde die Inflation durch die Federal Reserve mit Paul Volcker an der Spitze eingedämmt. Die Fed erhöhte die Zinssätze drastisch, was das Geldangebot verringerte und die Inflation eindämmte. Obwohl das unmittelbar zu einer Rezession führte, wird dem sogenannten „Volcker-Schock“ angerechnet, dass er eine Ära mit wenig oder keiner Inflation für den globalen Kapitalismus einläutete. Ab den 1990er Jahren und zu Beginn der 2000er Jahre wandten sich die Fed und andere grosse Zentralbanken hin zu einer Politik des „einfachen Geldes“, indem die Zinssätze kontinuierlich gesenkt wurden. Die Inflation konnte immer noch aufgeschoben werden, indem der Planet nach billigen Rohstoffen und Nachschub an rassialisierter, prekärer Arbeit durchkämmt wurde.

Die Verwaltung der Krise 2008 war im Wesentlichen eine weitere Runde dieses Rezepts. Jene der Vermögenswerte (aufgrund niedriger Zinssätze), nicht jene der Waren, war die einzige bedeutende Inflation der letzten paar Jahrzehnte und dies half, um den Aktienmarkt gegen einen sonst langen wirtschaftlichen Niedergang (realwirtschaftliche Wachstumsraten waren abyssal) zu wappnen. Dennoch ist der Nachschub an Rohstoffen und Arbeitskraft (z.B. die „grosse Resignation“ oder „grosse Verweigerung“ [89]) gegenwärtig mit der Pandemie, welche die Wirtschaft immer noch umklammert, schwieriger geworden. Die Inflation ist wieder aufgetaucht. Über Monate hinweg hat die globale wirtschaftliche Unsicherheit die Finanzmärkte geplagt, während die Zentralbanken vor sich abzeichnenden Erhöhungen der Zinssätze zur Bekämpfung inflationärer Tendenzen warnen. Das Überleben liegt in den Händen des janusköpfigen Gottes des Kapitals, der zwischen seinen kurzfristigen Interessen und langfristiger Stabilität hin- und hergerissen ist. Krisen eröffnen die Möglichkeit für staatliche Konflikte, da dies die politische Form des dem Kapital eigenen internen Wettbewerbs ist. Im Kontext einer globalen Inflationspanik sitzt die Ukraine auf einem strategischen Brotkorb und einem nicht minder strategischen Transportkorridor, die es in einer Ära steigender Nahrungsmittel- und Energiepreise zu kontrollieren gilt.

Derweil hat Russland versucht, sein politisch-ökonomisches Portfolio zu restrukturieren, damit es weniger anfällig für Sanktionen als 2014 ist [90]. Besonders die EU ist ausgesprochen angewiesen auf russische Öl- und Naturgasexporte. Deutschland, das industrielle Machtzentrum Europas, ist womöglich am stärksten abhängig von russischer Energie. Es hat die Pipeline Nord Stream 2 aufgrund der Ukraine-Krise halbherzig suspendiert, doch es bleibt abzuwarten, ob es all das ins Projekt investierte Kapital (mehr als 11 Milliarden Dollar) permanent in den Sand setzen wird [91]. Vielleicht wird es sich temporär inmitten steigender US/EU-Sanktionen nach allen Seiten absichern. Bedenken über Unterbrechungen von Energiemärkten und Zahlungen drängten Deutschland, Italien, Ungarn und Zypern anfänglich dazu, den Ausschluss Russlands aus den SWIFT-Transaktionen zu blockieren [92]. Dies wurde unmittelbar verurteilt [93]. Obwohl sich die EU letztendlich dem Druck beugte, wurden die für den Ausschluss bestimmten Banken so ausgewählt, dass die Auswirkung auf die Energiemärkte minimiert wurde [94], gleichzeitig enthalten die gegen die beiden grössten russischen Banken – Sberbank und VTB – ausgesprochenen Sanktionen viele Ausnahmen für Transaktionen, welche den Energiesektor betreffen. Obwohl das Sanktionsregime ziemlich streng ist, untergraben Ausnahmen für den Energiesektor immer noch dessen Effizienz gegen die russische Wirtschaft [95]. Ihrerseits haben die USA und das Vereinigte Königreich ein Verbot für russische Energieimporte angekündigt [96], doch die EU hat sich nur dazu verpflichtet, seine Importe innerhalb des nächsten Jahres zu verringern. Mit jedem vergehenden Tag erscheinen mehr strategische Verschachtelungen bezüglich wirtschaftlicher Sicherheitsbedenken.

Da es sich seiner Abhängigkeit von der westlichen Finanzarchitektur bewusst ist, hat Russland seinen Blick vermehrt in Richtung seines zweitwichtigsten Handelspartners – China – gerichtet. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts ist der hegemonische Pakt des US- und EU-Kapitals zunehmend in einen intensivierten Konflikt niedriger Intensität mit China gezogen worden [97], da sich die protektionistischen Schutzmassnahmen und die billigen Arbeitsmärkte der Übergangsperiode auflösen. Chinas wirtschaftlicher Pakt mit den USA, der EU und Japan, der mittlerweile mehr eine Bedrohung als eine Ressource ist, hat sich aufgelöst [98]. Seit 2013 und 2014 haben China und Russland versucht, alternative Zahlungsmechanismen zum internationalen SWIFT-Nachrichtensystem, das die USA beherrschen und zur Durchsetzung internationaler Sanktionen instrumentalisieren, zu entwickeln. Obwohl die USA und die EU gewiss nicht wollen, dass Russland und China näher zueinanderrücken, ist die Fähigkeit des chinesischen Cross-Border Inter-Bank Payments System (CIPS), einen Ausgleich für das Clearing von auf Dollar lautenden Transaktionen zu schaffen, stark übertrieben worden. CIPS ist immer noch schlecht mit internationalen Banken verbunden. Obwohl China und Russland wichtige Handelspartner sind, ist der auf Yuan laufende Handel zwischen den beiden schlichtweg zu beschränkt [99]. Aufgrund ihrer geteilten Anfälligkeiten für amerikanische Strafmassnahmen auf finanzieller Ebene, „Handelskrieg“ oder eine Kombination von beidem haben Russland und China einträchtige Interessen bezüglich der Entdollarisierung ihrer internationalen Schlussrechnungen. Seit 2014 hat es Russland geschafft, den Prozentsatz seiner auf Dollar laufenden Exporte beträchtlich zu reduzieren. Dennoch wurde diese Entdollarisierung nicht durch einen Umstieg auf Rubel oder Yuan erreicht, sondern auf Euros, was den Handel anfällig macht für EU-Sanktionen [100].

Es ist zu früh, um zu eruieren, welche Herausforderung das für den EU/US-Block des globalen Kapitals bedeutet. Wir müssen uns davor hüten, die Bedrohung eines russisch-chinesischen Pakts überzubewerten oder seine Bedeutung für die globale Wirtschaftsordnung zu übertreiben [101]. Die kapitalistische Produktionsweise ist viel turbulenter, als es dieses Bild suggeriert. Trotz des viel gepriesenen Aufstiegs der BRICS-Länder (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), hat die globale Profitabilitätskrise und die andauernde Stagnation des globalen Kapitals diese „aufstrebenden Volkswirtschaften“ nicht verschont. Seit 2008 haben abnehmendes Wirtschaftswachstum, hohe Niveaus an Unternehmensverschuldung [102] und stagnierende Produktivitätssteigerungen [103] die russischen Kapitalgeber und Produzenten zusammen mit Putins Administration gequält. Als das Coronavirus 2020 die Bühne betrat, verwaltete Russland, wie viele seiner westlichen Gegenüber, die Krise mithilfe strenger Sparpolitik, während die Reallöhne weiterhin sanken [104]. Das sogenannte „chinesische Wunder“ [105] hat ein ähnliches Ende gefunden, da Profitabilitätsraten seit mindestens 2010 sinken, während die Investitionsraten in fixes Kapital seit 2015 sinken [106].

Doch die sich entwickelnde Situation weist darauf hin, dass die USA und die EU zur Aufrechterhaltung der Kapazität für direkte globale Kapitalakkumulation und Wertflüsse mit gewissen Schwierigkeiten konfrontiert sind. Das ist weniger das Resultat des direkten Wettbewerbs durch aufstrebende Herausforderer wie Russland und China und eher die Folge der langfristigen Stagnation und der globalen Krise. Da das Produktionswachstum und die Produktivität ausgehöhlt worden sind [107], ist der Umsatz des kapitalistischen Systems durch Spekulation auf Vermögenswerte, Handelskriege, Währungspolitik und wirtschaftlichen Nationalismus über Wasser gehalten worden. In diesem Kartenhaus hat jeder „Schock“, wie scheinbar lokalisiert er auch sein mag, weitgehende systemische Auswirkungen.

Unmittelbar nach der russischen Militärinvasion brachen die Börsenindizes inmitten von Angst vor Sanktionen, Wirtschaftskrisen und gesellschaftlicher Unruhe schnell zusammen [108]. Sie erholten sich schnell [109] nach frühen Ankündigungen, welche die Grenzen der vorgeschlagenen Sanktionspakete unterstrichen, obwohl das nicht für alle gleichermassen gegolten hat, da die wirtschaftliche Situation weiterhin unsicher ist. Getreidepreise stiegen in die Höhe [110], genau wie Öl- und Naturgas-Futures (dazu mehr weiter unten). Saudi-Arabien ist auf amerikanische Appelle für die Steigerung seiner Ölproduktion wiederholt nicht eingegangen, was die Biden-Administration veranlasst hat, beispiellose Ströme an Rohöl aus der strategischen Ölreserve der USA [111] freizugeben, um die Inflation des Benzinpreises abzuschwächen und Putins Kapazität zu unterminieren, davon zu profitieren [112]. Das Ziel davon ist, die Wirkung milder Sanktionen gegen den russischen Energiesektor zu stärken. China ist der grösste Ölimporteur und wichtiger Importeur landwirtschaftlicher Güter und seine Volkswirtschaft ist dem durch den Krieg und die Sanktionen ausgelösten Markttumult stark ausgesetzt. Dennoch hat die protektionistische Haltung der USA gegenüber China in wirtschaftlichen Fragen im letzten Jahrzehnt die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt in eine strategische Partnerschaft mit Russland gedrängt [113]. Da globale Getreidemärkte von Panik ergriffen worden sind, hat sich China, einer der weltweit grössten Getreideimporteure, einverstanden erklärt, zum ersten Mal russischen Weizen zu importieren [114]. In Anbetracht seines schlechtesten winterlichen Weizenertrags in der Geschichte hatte China kaum Alternativen. Saudi-Arabien hat Gespräche mit China wieder aufgenommen, um gewisse seiner Ölverkäufe in Yuan abzurechnen, doch die Perspektiven bleiben unsicher. Die Währung ist nach wie vor schlecht in internationale Märkte integriert [115]. Auch wenn diese Integration erreicht würde, sind die Ölpreise im grössten Importland von Rohöl stark gesunken, nachdem China neue Covid-Lockdownmassnahmen durchsetzte [116]. Indien, getrieben von seinen eigenen Bedenken über die Auswirkung der westlichen Sanktionen im Inland, war gemäss Berichten dabei, einen Mechanismus für in Rupien abgerechnete Transaktionen mit Russland aufzubauen [117]. Doch auch wenn die gegenwärtige Krise in der Ukraine die globale Vorherrschaft des US-Dollars, der sich in einem langsamen, relativen Niedergang befindet [118], leicht dämpfen würde [119], gibt es bedeutende strukturelle Grenzen gegenüber einer freien Konvertibilität miteinander konkurrierender Währungen, so wie der übermässig angepriesene chinesische Renminbi (Yuan) [120]. Bezüglich Transaktionen auf globalen Märkten herrscht der US-Dollar immer noch weitgehend unangefochten. Doch diese Vormachtstellung wirft ihrerseits Probleme auf.

Die unmittelbare Antwort auf die gegenwärtige russische Militärinvasion schien den 2014 ergriffenen Massnahmen zu ähneln. Als die Grenzen dieser Massnahmen offensichtlich wurden, optierten die US-amerikanische und die europäischen Regierungen dafür, Russland aus dem internationalen SWIFT-Transaktionssystem auszuschliessen, den russischen Banken entsprechende Bankverbindungen zu verweigern [121] und die Vermögenswerte der russischen Zentralbank einzufrieren. Das waren beispiellose Massnahmen gegen eine G20-Volkswirtschaft und ein bedeutendes Exportland fossiler Energiestoffe. Sie führten tatsächlich zum Kollaps des Rubels in ausländischen Devisenmärkten [122]. Die russische Zentralbank antwortete darauf mit einer scharfen Erhöhung der Zinssätze, was für die russische Bevölkerung verheerende Auswirkungen haben [123] und die Wirtschaft näher an eine erwartete Rezession bringen wird [124]. Ohne Zugang zu seinen Reserven im Ausland, die sonst dazu beitragen würden, die Entwertung seiner Währung auszugleichen, scheint die russische Regierung den Ausstieg ausländischer Investoren zu blockieren und sie dazu zu zwingen, Rubel zu kaufen. Mittlerweile scheint ein russischer Staatsbankrott zum ersten Mal seit 1998 unmittelbar bevorstehend [125]. Putin stieg aus der Asche der letzten Schuldenkrise. Wie er diese überstehen wird, bleibt eine offene Frage.

Unabhängig davon, welche Entschärfung die Regierung und die Zentralbank aufbringen können, sollten die katastrophalen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft nicht übersehen werden. In Anbetracht der Tatsache, dass die Mehrheit der russischen Exporteinkommen von Öl und Gas kommen, sind die meisten seiner ausländischen Reserven Petrodollars, die in hohem Masse in Finanzmärkte und -dienstleistungen integriert sind [126]. Die Sanktionen gegen die russische Zentralbank drohen möglicherweise, eine globale Kettenreaktion auszulösen, besonders für europäische Banken, die nun von den Sanktionen abhängige Petrodollars besitzen. All das bedeutet, dass der Dollar, eben genau, weil er als Weltwährung unangefochten bleibt, mittlerweile unter hohem Nachfragedruck steht. Es ist ein wiederkehrendes Thema während fast allen Wirtschaftskrisen im letzten Jahrhundert: Der Dollar gewinnt an Stärke als sicherer Hafen der Leitwährungen [127].

All das geschieht zu einer Zeit, wo die Federal Reserve – die einzige souveräne Herausgeberin von US-Dollars – plant, das Währungsangebot durch Zinserhöhungen zu verknappen. Die aufgrund der Pandemie durch die Lieferkette und den Arbeitskräftemangel ausgelöste Inflation hat der Fed kaum andere Optionen als die Verknappung der Dollar-Zirkulation offengelassen. Mit der gegenwärtigen Krise in der Ukraine scheint die Nachfrage nach Dollars Hand in Hand mit der sich verschlechternden Inflation zu gehen [128]. Auf der Angebotsseite richtet der Krieg auch verheerenden Schaden bezüglich der prekären Erholung der Schifffahrtsindustrie an, was die Lieferketten zusätzlich unterbricht und den Personalaufwand weiter erhöht, da ukrainische und russische Seefahrer einen beträchtlichen Anteil der Arbeitskraft und der Schiffsbesatzungen ausmachen [129]. Es ist unklar, wie die Fed aus dieser Zwickmühle kommen will [130]. Eine Auswirkung der gegenwärtigen Grenzen könnte womöglich die grössere Spekulation mit Kryptowährungen als Reservewährungen und für den Gebrauch für internationale Transaktionen sein [131]. Kryptowährungen, genau wie andere spekulative Instrumente, sind höchst volatil [132]. Egal welche „Erleichterung“ das dem auf Dollar laufenden internationalen Währungssystem verschaffen mag, sie wird wahrscheinlich unbedeutend sein.

Inflationskämpfe

Für die vielen importabhängigen afrikanischen, nahöstlichen und zentralasiatischen Länder [133] ist der Inflationsdruck besonders gravierend. Kombiniert sind die russischen und ukrainischen Getreideexporte unerlässlich für die Getreidebestände und die Stabilität der Lebensmittelpreise in diesen Regionen [134], während der Getreidepreis ein Rekordhoch erreicht. Sogar vor der Pandemie ist ein grosser Teil des subsaharischen Afrikas, des Mittleren Ostens, Zentral- und Südasiens, Südamerikas und der Äquatorregion inflationären Lebensmittelpreisen ausgesetzt gewesen [135]. Ein zunehmender Anteil der Enteigneten, die schon seit Jahrzehnten unter dem kombinierten Druck der Entbauerung und der Deindustrialisierung verelendet sind, sind von jener Membran eingeklemmt geworden, welche die formelle Wirtschaft vom Land trennt [136]. Der industrielle Arbeitsmarkt, der durch stagnierende Investitionen und eine hohe organische Zusammensetzung des Kapitals erstickt worden ist, ist unfähig gewesen, diese Massenproletarisierung zu absorbieren [137]. Um zu überleben, wird die expandierende Überschussbevölkerung in die „informelle Wirtschaft“ gedrängt, sie repräsentiert über 60 % der globalen Arbeitskraft [138]. Die Struktur der Informalität – unregelmässig, ungeregelt und häufig illegal, unbezahlt und direkt unter Zwang – verspricht ein Leben blosser Subsistenz – ein Leben ohne Lohn [139] – für diese ungefähr zwei Milliarden Arbeiter. Diese abnehmende Kaufkraft, verbunden mit andauernden sozialen, ökologischen und klimatischen Krisen innerhalb des letzten Jahrzehnts – die alle kapitalistischen Produktionsverhältnissen endogen sind – haben effektiv zu einer Rassialisierung von Inflation, Hunger und Hungersterben überall auf der Welt geführt [140].

Die globale Inflation für notwendige Güter hat schon zu einer Welle von Rebellionen geführt. Diese Zirkulationskämpfe drehen sich um Preise [141]. Der Aufstand 2020 in Weissrussland, der durch die umstrittene Wiederwahl Alexander Lukaschenkos ausgelöst worden war, ereignete sich im Kontext eines Jahrzehnts staatlicher Sparpolitik, stagnierender Löhne und der Inflation für lebensnotwendige Güter [142]. Diese strenge Verwaltung der Wirtschaftskrise wurde 2020 erschwert, da die steigenden Kosten der medizinischen Dienstleistungen mitten in der Covid-Pandemie den Antagonismus gegenüber dem Staat vergrösserten [143]. Lukaschenkos zusammenfallende Regierung wurde durch die Unterstützung der russischen Intervention und allgegenwärtiger Repression zusammengehalten [144]. Erst vor einigen Monaten wurden in Kasachstan eine Revolte und ein Massenstreik aufgrund der Verdoppelung der Treibstoffpreise durch die Regierung ausgelöst [145] – für die Proletarier war das gleichbedeutend mit einem allgemeinen Anstieg der Lebenskosten. Die Proteste begannen in Schangaösen, im Zentrum der kasachischen Ölfelder und Rohstoffindustrie, bevor sie sich auf Aktau und die Hauptstadt Almaty ausweiteten. Russland und Kasachstan sind wichtige Handelspartner und betreiben gemeinsam Infrastruktur zur Gewinnung von Öl und Naturgas in der Region des Kaspischen Meeres. Ein grosser Teil des kasachischen Öls und Naturgases wird nach Russland exportiert, dort raffiniert und/oder über Russland vertrieben [146]. Es war somit für Russland äusserst wichtig, die Ordnung in der Region aufrechtzuerhalten [147].

Es wird nun gemeinhin gesagt, dass steigende Lebensmittelpreise ein zentraler Auslöser für den Arabischen Frühling waren [148]. Schwere Dürren verringerten 2010 die Getreideernten in Russland und der Ukraine, was die Güterpreise weltweit hochtrieb. Regional gehören Nordafrika und der Mittlere Osten zu den wichtigsten Lebensmittelimporteuren und sind sehr anfällig für Preisschwankungen. Zwölf Jahre später, als der Lebensmittelpreisindex der UNO-Organisation Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) Rekordniveaus erreicht, sind sich Regierungen und internationale Organisationen des explosiven Potenzials für Unruhe vollständig bewusst, sie berufen sich auf den Geist von „Hungerkrawallen“ [149] oder einer kommenden „Brotintifada“ [150]. Das ist nicht unbegründet. Inflationskämpfe haben sich in den letzten Wochen weltweit ausgebreitet. Im Jemen, wo Millionen fast ohne nachhaltige internationale Besorgnis gegen Hungersnöte kämpfen, zeigt sich der Rassencharakter des kapitalistischen Widerspruchs. Es gab Massenproteste gegen die Treibstoff-, Lebensmittel- und medizinische Krise, Produkte der von Saudi-Arabien angeführten Blockade und des Krieges, die nun durch den Krieg in der Ukraine verschlimmert worden sind [151]. Lastwagenfahrer, Bauern und Fischer in ganz Europa protestierten gegen steigende Treibstoffpreise, z.B. in Argentinien [sic!], Portugal, der Türkei, Spanien, Italien, Griechenland, Frankreich, Deutschland, der Tschechischen Republik und dem Vereinigten Königreich. In einigen Fällen errichteten sie Barrikaden, um Strassen zu blockieren und die Güterverteilung zu unterbrechen. Spanien bot 23‘000 Polizisten auf, um die Streiks im Zaum zu halten. Gewerkschaften in Panama, ein Nettoimporteur von Treibstoff, gingen auf die Strasse, um Lohnerhöhungen zur Kompensation der Inflation zu verlangen. Studentenproteste brachen in Indonesien inmitten von Gerüchten um eine verschobene Präsidentschaftswahl und steigenden Preisen von Speiseöl aus. In Albanien kam es zu Massenprotesten gegen die Regierung, obwohl sie versprach, die Preise zu kontrollieren und die Steuern zu senken. In Pakistan stürzten eine Inflation auf hohem und drückendem Niveau und wirtschaftliche Schwierigkeiten den Premierminister Imran Khan. Ein grosser Teil des Mittleren Ostens und Nordafrikas hängen von Importen von russischem und ukrainischem Getreide und Speiseöl ab. Im Irak, im Sudan und in Tunesien sind wirtschaftspolitische Krisen ausgebrochen, da die Länder mit Lebensmittelknappheit und weit verbreitetem Hunger konfrontiert sind. Überall auf der Welt brechen wegen des steigenden Brotpreises Proteste aus. Für das managerhafte Regime des Kapitals scheint jeder Tag grösseres Grauen und düstere Vorahnungen eines „neuen Arabischen Frühlings“ [152] zu bringen.

Die entscheidensten Schulbeispiele haben sich in Sri Lanka und Peru materialisiert [153]. In Sri Lanka kündigte die Regierung 2019 bedeutende Steuerreformen an, welche die Steuerbemessungsgrundlage und die Mehrwertsteuer reduzierten, was den Staat bezüglich der Abzahlung der Staatsschulden in eine prekäre Position brachte. Als stark von Importen abhängiges Land generiert Sri Lanka einen grossen Teil seiner Erträge vom Tourismus, einem Markt, der durch die Covid-Lockdowns und die Reisebeschränkungen bedeutungslos geworden war. Die Regierung hatte versucht, die geplanten Anleiherückzahlungen in Dollar zu leisten, obwohl seine Kapazität, Einkommen zu generieren, sehr beschränkt war. Das dezimierte seine Devisenreserven schnell. Sri Lanka war monatelang am Rande einer Zahlungsunfähigkeit und stellte die Zahlungen schliesslich am 12. April ein. Mit steigenden Lebensmittel- und Treibstoffpreisen ist die Regierung nun unfähig, für grundlegende Importe zu bezahlen. Akuter Treibstoffmangel hat zu explodierenden Preisen und regelmässigen Stromausfällen geführt, was das Land in seine schlimmste Wirtschaftskrise in 73 Jahren gestürzt hat. Die Bevölkerung wurde sich selbst ohne Zugang zu Grundversorgung, Medizin und Brennmaterial zum Kochen überlassen. Unzufriedenheit und Unruhe wuchsen. Aufständische versuchten, die Residenz von Präsident Gotabaya Rajapaksa zu stürmen, sie zündeten nahe gelegene Polizei- und Militärfahrzeuge an, was heftige Polizeirepression und eine Ausgangssperre auslöste. China und Indien, Sri Lankas wichtigste Importpartner und Kreditgeber, haben ihren Kreditrahmen in einem gescheiterten Versuch ausgeweitet, das zu stützen, was für sie ein bedeutender „aufstrebender Markt“ [154] ist.

Politische Anführer der „neuen rosa Welle“, repräsentiert durch die jüngsten „linken“ Wahlsiege in Mexiko, Zentral- und Südamerika, haben schnell ihre Unfähigkeit zur Krisenverwaltung offenbart. Der sozialdemokratische Präsident Chiles Gabriel Boric, selbst ein ehemaliger Studentenführer, liess die Aufstandsbekämpfungspolizei in Santiago los, um Studentenproteste niederzuschlagen, die höhere Verpflegungspauschalen forderten [155]. Für die Regierung Perus ist die Lage noch düsterer. Die Regierung Pedro Castillos, ein ehemaliger Lehrer, Gewerkschaftsführer und Kandidat der „marxistischen“ Partei Freies Peru, hatte Mühe, Massenproteste wegen steigenden Treibstoff-, Dünger- und Nahrungsmittelkosten im Zaum zu halten. Trotz Ausgangssperren und prosaischen Darstellungen von Polizeigewalt hat die Verallgemeinerung der Revolte, der Zerstörung von Eigentum, der Blockaden und des Plünderns die Situation temporär unregierbar gemacht [156]. Dies hat wiederum die Feindschaft der äusseren Rechten und gegen Indigene gerichtete Verschwörungstheorien entfacht [157]. Während dem andauernden Streik der Lastwagenfahrer im Land blockierten Dorfbewohner von Villacuri die Panamericana, ein wesentlicher Handelskorridor in Südamerika, und sie versuchten, einen Polizeiposten einzunehmen, was die Regierung dazu bewegte, das Militär einzusetzen [158].

Die peruanische Wirtschaft basiert auf Bergbau und Mineralienexporten. Da das extraktive und Renten suchende Kapital von aktuell hohen Marktpreisen profitiert, haben der inflationäre Druck und die Umweltzerstörung die umliegenden andinen Gemeinschaften dazu bewegt, die Kupferproduktion des Landes lahmzulegen, sein wichtigstes Exportgut. Blockaden hatten Auswirkungen auf den Tourismus und landwirtschaftliche Streiks bedrohen die Agrarproduktion, Perus zweitwichtigstes Exportgut. Die aufgrund des wirtschaftlichen Stillstands taumelnde linke Regierung hat einen weiteren Ausnahmezustand ausgerufen [159].

Die mittlerweile banale und allgegenwärtige Unfähigkeit, eine Antwort auf Krisen, während welchen repressive und Strafmassnahmen im Mittelpunkt stehen, während die produktive wirtschaftliche Aktivität zurückgeht, zu verwalten und zu koordinieren, lässt die grundlegende Schwäche des Staates und seine feindselige Abhängigkeit von rassialisierter kapitalistischer Reproduktion erkennen [160].

Gegenwärtig sind viele der eingesetzten Taktiken gängige Formen von Zirkulationskämpfen. Das zeigt bloss den stummen Zwang einer politischen Ökonomie in chronischem Niedergang, das Kapital wendet sich der Zirkulationssphäre zu, um die Profitabilität und den Umsatz aufrechtzuerhalten. Es sagt selten viel über die gesellschaftliche oder politische Konstitution eines Kampfes aus [161], trotz der Neigung einiger, solch voreingenommene Schlussfolgerungen aufgrund einer schieren Obsession für Stil und Form zu ziehen, als ob soziale Revolte schlichtweg eine Sache der Nachahmung oder Ansteckung wäre [162]. Blockaden, Krawalle, Besetzungen: Das sind flüchtige Eindrücke der tektonischen und sintflutartigen Bewegungen des Kapitals – der Ausstieg aus Industrien, logistische Weite, Umweltzerstörung, Neuzusammensetzung und Fragmentierung der Klasse, Informalität und Kriminalität, Verwaltung überschüssiger Bevölkerungen und rassialisierte und geschlechtsspezifische Gewalt. Losgelöst von diesen rudimentären Bedingungen kann Theorie – sei sie aufständisch, anarchistisch oder kommunistisch – nicht viel mehr tun, als den kommenden Aufstand zu vergegenständlichen. Sie kann keine materielle Entlastung bieten.

Zerfall und kommunistische Massnahmen

Am Rande solch globaler wirtschaftlicher Not ist es entscheidend, nicht vor lauter Bäumen den Wald nicht zu sehen. In letzter Instanz sind Sanktionen eine Form der Staatskunst, deren Regie das globale Kapital führt. Die Verelendung und Erbärmlichkeit ganzer Bevölkerungen, allen voran rassialisierter Proletarier, sind die Kosten für den Wettbewerb um die Kontrolle von Wertflüssen auf dem „geopolitischen“ Terrain [163]. Sei es in Russland oder der Ukraine, der wirtschaftliche Kollaps fragmentiert Klassenverhältnisse noch mehr und schürt rassistischen und nationalistischen Hass, der paradoxerweise eine Form des „antifaschistischen Kampfes“ und der „Entnazifizierung“ mobilisiert [164].

Wie schon weiter oben angesprochen, waren die wirtschaftlichen Perspektiven der ukrainischen Industrie schon seit Jahrzehnten düster. Russland, dessen wirtschaftliche Fundamente viel stärker sind, kämpfte sich auf ähnliche Art und Weise durch ein Jahrzehnt der Stagnation vor dem Krieg. In diesem Kontext kann die Konstruktion und Affirmation angestrebter Klassenidentität, sei sie Mittel- oder „Arbeiterklasse“, nur durch die Negation der „gefährlichen“ Elemente [165] des Proletariats und der überschüssigen Bevölkerung, die notwendigerweise Teil davon sind – des sogenannten „Lumpenproletariats“, das die Arbeiterklasse verfolgt und als konterrevolutionäre Kraft wahrgenommen wird – erreicht werden. Einerseits drängt die langanhaltende Krisentendenz des Kapitalismus immer weitere Teile der Bevölkerung in die „Lumpenproletarisierung“. Andererseits ist die Klasse als Ganzes dem Zerfall ausgesetzt. Das Resultat davon ist, dass, während die Verelendung sich ausweitet und vertieft, der Niedergang der Klasse auf abstrakter Ebene als grössere Fragmentierung derselben auf konkreter Ebene ausgedrückt wird. Die Konstruktion einer nationalen Klassenidentität gegen diesen Niedergang ist gleichbedeutend mit der Verwerfung der Lumpenproletarier in ihren rassialisierten und geschlechtsspezifischen Formen.

Die Auswirkungen davon sehen wir in der rassialisierten und geschlechtsspezifischen Gewalt, die den ukrainischen und russischen Populismus durchdringt [166], und in der wachsenden Grenz- und Flüchtlingskrise. Verglichen mit dem Rest Europas ist die ukrainische Wirtschaft unbedeutend und schwerfällig. Deshalb ist universitäre Bildung relativ erschwinglich und zugänglich für nichteuropäische Studenten, die in europäische Arbeitsmärkte eintreten möchten, besonders afrikanische und indische Migranten [167]. Während wir diesen Text schreiben, sind fast fünf Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen [168] oder sind dabei, es zu tun. Afrikanische und asiatische Flüchtlinge, die aus dem weissen Rahmen der „Verdienstlichkeit“ fallen, sind an der Grenze rassialisierter Gewalt ausgesetzt [169].

Wenn überhaupt, dann hilft das, aufzuzeigen, dass unter den Bedingungen der langfristigen Abwärtsbewegung der Akkumulation, während die systemische Reproduktion des Kapitals von der Reproduktion der Arbeitskraft entkoppelt worden ist [170], der Kampf gegen das Kapital nur die Form eines Kampfes gegen die Reproduktion der proletarischen Bedingung annehmen kann – in anderen Worten, der Selbstaufhebung des Proletariats [171]. Das scheint eine Grenze darzustellen, welche den wiederholten nationalistischen Populismus daran hindert, sich in einen ausgedehnten Aufstand zu verwandeln [172].

Auf internationaler Ebene scheinen Proteste gegen die Invasion, auch innerhalb Russlands, gegenwärtig durch die Massentaktik gewaltfreier Demonstration begrenzt zu sein, was die liberale Positionierung gegen Putins Regierung gestärkt hat [173]. Es gab einige wenige verstreute Berichte über russische Brandstiftung und Sabotage [174] und einige Fälle von Hafenarbeitern, wie z.B. im Vereinigten Königreich, den USA, Kanada, Neuseeland, Australien, Schweden und Italien, die sich weigerten, russische Frachten zu entladen oder militärische Lieferungen für die Ukraine zu verladen. Ein relevanteres Modell scheint in Weissrussland aufgetaucht zu sein, wo Bahnarbeiter gemäss Berichten Ausrüstung und die Ukraine mit Russland verbindende Eisenbahnlinien blockiert und sabotiert haben [175].

Der ukrainische Widerstand, obwohl er weit verbreitet ist, scheint mit den gleichen Grenzen in seiner Zusammensetzung und Tätigkeit wie 2014 konfrontiert zu sein [176]. Unzufriedenheit, Aufruhr und Desertion [177] werden marginalisiert hinter einem Banner der von nationalistischem Hass und militärisch geprägten Volksfront. Diese gesellschaftliche Auflösung ist eben genau das, was politische „Einheit“ garantiert. Es ist unklar, wie dieses Zusammenlaufen von Polizeirepression, Wirtschaftskrise und zunehmender Mutlosigkeit diese Bewegungen über die gegenwärtigen Grenzen hinweg ins Gefilde des offenen Antagonismus gegen Staat und Kapital treiben könnte, da die Leute dazu gezwungen sein werden, drastischere Massnahmen zu ergreifen, um das kontinuierliche Überleben zu gewährleisten.

Auf diesem Terrain, jenem der Ausbreitung und Verallgemeinerung kommunistischer Massnahmen, haben die Formen und Mittel des Kampfes die unmittelbare Hervorbringung des Kommunismus als ihren potenziellen historischen Inhalt [178]. Der Übergang bedeutet hier die Konfrontation mit dem Problem der Zusammensetzung, das konkret ein Problem des Zerfalls, der Fragmentierung und des rassialisierten Klassenantagonismus ist [179].

Vieles bleibt ungewiss. In der unmittelbaren Zukunft wird allerdings die Ukraine-Krise weiterhin steigende Energie- und Nahrungsmittelpreise zur Folge haben. Die Ausbreitung der Krise hat schon die Weltwirtschaft durchdrungen. Wenn diese Wellen zu Wogen werden, können wir damit rechnen, dass Aufruhr, Revolte und Kämpfe um die Mittel des Überlebens wie die Kosten wesentlicher Waren sich weiterhin ausbreiten und intensivieren. Gleichzeitig zerrt der Massenrückzug vom Arbeitsmarkt immer noch an Wertschöpfungsketten weit und breit. Während die schwerfälligen Bewegungen des Kapitals uns tiefer ins Reich der Umweltkatastrophe treiben, sind die jüngsten Krisen und ihre dazugehörigen Kampfzyklen womöglich bloss Generalproben für die kommenden Schocks und Katastrophen. Wir wären weise, wenn wir im Kopf behalten, dass die kommunistischen Perspektiven sowohl am Inhalt als auch an der Form dieser Kämpfe gemessen werden sollten. Revolution kann nicht auf Krieg reduziert werden. In Tat und Wahrheit drückt der Ausbruch eines Krieges oft den Endpunkt oder das Scheitern der sozialen Revolution aus und er verschlingt mit ihr die Bedingungen ihrer Möglichkeit.

„Die Macht kommt genausowenig aus den Gewehrläufen wie aus der Urne. Keine Revolution ist friedlich, aber die militärische Ebene ist nicht zentral. Das Problem ist nicht, daß die Prolos endlich beschließen, die Waffenlager zu plündern, sondern daß sie das umsetzen, was sie sind: als Ware behandelte Wesen, die nicht mehr als Ware existieren können noch wollen, und deren Revolte die kapitalistische Logik zum Platzen bringt. Von dieser ‚Waffe‘ leiten sich Barrikaden und Maschinengewehre ab. Die gesellschaftliche Vitalität wird größer, der tatsächliche Gebrauch von Gewehren und die Anzahl der Toten geringer sein. Die kommunistische Revolution wird niemals einem Gemetzel gleichen: nicht wegen eines Prinzips der Gewaltfreiheit, sondern weil sie nur dann eine Revolution ist, wenn sie die professionellen Militärs eher zersetzt, als daß sie sie vernichtet.“ [180]

Irgendeine kommunistische Studiengruppe

Übersetzt aus dem Englischen von Kommunisierung.net

Quelle


[1Marx an Ruge, „Ein Briefwechsel von 1843“ in Deutsch-französische Jahrbücher, 1844, S. 39.

[2Leila Al-Shami, „Der ‚Antiimperialismus‘ der Idioten“, 2018. Leila Al-Shamis Analyse hat gewiss Grenzen. Trotzdem ist sie eine nützliche und bissige Benennung und kann leider ohne weiteres auf andere Kontexte angewandt werden. Al-Shami polemisiert gegen „linke“ und „antiimperialistische“ Proteste und Antikriegsbewegungen, die über de ganzen syrischen Bürgerkrieg hinweg die Assad-Regierung und das syrisch-russisch-iranische Bündnis verteidigt haben. In Anbetracht der Tatsache, dass Syrien zu einer Art Kennzeichen für viele Beteiligte am linken Diskurs über die Ukraine geworden ist, lohnt es sich, auf die von ihr aufgeworfenen Fragen zurückzukommen. Sie erklärt:
„Für diese autoritäre Linke erstreckt sich Unterstützung im Namen des ‚Antiimperialismus‘ auf das Assad-Regime. Assad wird als Teil der ‚Achse des Widerstandes‘ gegen sowohl das US-Regime als auch den Zionismus gesehen. Dabei zählt es wenig, daß das Assad-Regime selbst den ersten Golfkriege unterstützt hat oder am illegalen US-Überstellungsprogramm teilnahm, im Rahmen dessen Terrorverdächtige in Syrien im Auftrag der CIA gefoltert wurden. Die Tatsache, dass dieses Regime wahrscheinlich den zweifelhaften Vorzug hat, mehr Palästinenser abzuschlachten als der israelische Staat, wird ständig übersehen, ebenso wie die Tatsache, dass es eher darauf bedacht ist, seine Streitkräfte zu benutzen, um den internen Dissens zu unterdrücken, als den von Israel besetzten Golan zu befreien. Dieser ‚Antiimperialismus‘ der Idioten ist einer, der Imperialismus allein mit den Aktionen der USA gleichsetzt.“
Zum Problem der abstrakten Analogie zwischen der Ukraine und Syrien, die ihrer konkreten rassialisierten Differenzierungen in der globalen gesellschaftlichen Arbeitsteilung entledigt worden ist, siehe „Anarchist who Fought in Rojava Response to ‚No War But Class War‘ Debate“, 2022.

[3Z.B. die Position der Partei für Sozialismus und Befreiung (PSL) oder der Demokratischen Sozialisten Amerikas – Internationales Komitee (DSA-IC). Siehe Kenya Elliott, „Ukraine Crisis Escalates after U.S. Swats away Russian Olive Branch“ in Liberation: Newspaper for the Party of Socialism and Liberation, 2022, und DSA-IC, „DSA IC Opposes US Militarization and Interventionism in Ukraine and Eastern Europe and Calls for an End to NATO Expansionism“, 2022. In den letzten Monaten ist der inkohärente Internationalismus der DSA zutage getreten, nachdem sie die Arbeitsgruppe für Palästina-Solidarität aufgelöst haben.

[6Siehe z.B.: „[E]ine anarchistische Positionalität bedeutet, sich seinen Platz zu schaffen, mit staatlichen Kräften zu kämpfen, die uns ein Bündnis anbieten gegen andere staatliche Kräfte, die uns sofort vernichten würden.“ Peter Gelderloos, „The Invasion of Ukraine: Anarchist Interventions and Geopolitical Changes“, 2022. Es gab einige Kritik sowohl gegen die eine als auch gegen die andere Seite bezüglich der Frage der anarchistischen Beteiligung am „Widerstandskomitee“, eine angeblich „anti-autoritäre“ Einheit, die innerhalb der zu den ukrainischen Streitkräften gehörenden Territorialverteidigung organisiert ist. Für die verbreitesten Beispiele dieser Art, siehe Sasa Kalazu, „Anarchistische Organisierung in Zeiten von Krieg und Krise [Ukraine]“, 2022, „No War But Class War: Against State Nationalism and Inter-Imperialist War in Ukraine“, 2022, und die Antwort darauf, „A Response On Ukraine And ‚No War But Class War‘“, 2022.
Von dieser letzteren „Antwort“ schreibt Mike Gouldhawke, dass der anonyme Autor „vom kritischen Denken rund um den Staatsnationalismus, besonders dem europäischen und den ergänzenden kolonialen Siedlernationalismen enttäuscht“ zu sein scheint. Obwohl er sich mit dem Projekt der internationalen Solidarität beschäftigt, kritisiert Gouldhawke das Konzept einer abstrakten anarchistischen Positionalität, so wie sie getrieben ist von einem Sinn für atomisierte moralische Verpflichtung: „[S]ympathie ist nicht das Problem […] Das Problem ist der Staat selbst, sein Militarismus und Nationalismus, das Verhältnis zwischen faschistischen oder nationalistischen Bewegungen und dem Staat und letztendlich wie Anarchisten in Nordamerika ihre eigene Situation analysieren, um überhaupt erst fähig zu Solidarität zu sein.“ Siehe Mike Gouldhawke, „A Response to a Response about Militarism, Nationalism and War“, 2022.
Abolition Media hat vor kurzem eine scharfe Kritik des die westliche Verteidigung des ukrainischen Widerstandes durchdringenden rassialisierten Exzeptionalismus veröffentlicht. Der Autor, ein Anarchist, der in Rojava kämpfte, argumentiert, dass die westlichen Anarchisten, die den ukrainischen Widerstand verehren, den Bürgerkrieg in Syrien und Rojava unredlich als ideologische Grundlage, ausgehend von welcher sie sich positionieren können, benutzt haben, während sie keine substanzielle Anstrengung unternehmen, um Unterschiede bezüglich dem regionalen historischen Kontext und der konkreten ortsgebundenen gesellschaftlichen Bedingungen zu analysieren. Er kommt zum Schluss, dass die scheinbar aus dem Nichts kommende und über alle Kritik erhabene, nahezu unmittelbare und weitgehende materielle und politische Unterstützung westlicher Anarchisten, die sie dem ukrainischen Widerstand anbieten, die „latente weisse Vorherrschaft innerhalb der anarchistischen Szene“ entlarvt, während „das radikale Milieu Rojava weitgehend vergessen hat“. Ausser natürlich, wenn es situationsbedingt als Mittel der Sophisterei zweckdienlich wird. Siehe „Anarchist who Fought in Rojava Response to ‘No War But Class War’ Debate“, op. cit.

[7Zu Klasse als eine Abstraktion, die durch konkrete rassialisierte und geschlechtsspezifische Segmentierung und Fragmentierung verwirklicht wird, siehe Ediciones Inéditas, „Ediciones Inéditas Anthology“; Théorie communiste, „Class / Segmentation / Racialisation. Reading Notes“, 2016, Agitations, „Revolution: Program or Communization“; Chris Chen, „The Limit Point Of Capitalist Equality: Notes Toward An Abolitionist Antiracism“, 2013; R.L., „Inextinguishable Fire: Ferguson and Beyond“, 17. November 2014; K. Aarons, „No Selves to Abolish: Afropessimism, Anti-Politics, and the End of the World“, 2016; Heath Schultz, „Debord in Watts: Race and Class Antagonisms Under Spectacle“ in Marxism and Cultural Studies, Nr. 7.1, 2018; Stuart Hall, „Race, Articulation, and Societies Structured in Dominance“, 1980 in Stuart Hall, Selected Writings: Essential Essays, Bd. 1: Foundations of Cultural Studies, Duke University Press; Endnotes, „The Logic of Gender: On the Separation of Spheres and the Process of Abjection“, 2013; Leopoldina Fortunati, The Arcane of Reproduction: Housework, Prostitution, Labor and Capital, Autonomedia, 1995 (1981); Jackie Wang, „Against Innocence: Race, Gender, and the Politics of Safety“ in Lies: A Journal of Materialist Feminism, 2012.

[8Marx betonte, dass die äussere Kraft der Konkurrenz den Gesetzen der kapitalistischen Produktion immanent ist. Siehe Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, 1865 in MEW, Bd. 23, 1968: „Die freie Konkurrenz macht die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion dem einzelnen Kapitalisten gegenüber als äußerliches Zwangsgesetz geltend.“ (S. 286); „Außerdem macht die Entwicklung der kapitalistischen Produktion eine fortwährende Steigerung des in einem industriellen Unternehmen angelegten Kapitals zur Notwendigkeit, und die Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf. Sie zwingt ihn, sein Kapital fortwährend auszudehnen, um es zu erhalten, und ausdehnen kann er es nur vermittelst progressiver Akkumulation.“ (S. 618); siehe auch Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 1857-1858 in MEW, Bd. 42, 1983, S. 327: „In der Konkurrenz erscheint diese innre Tendenz des Kapitals als ein Zwang, der ihm von fremdem Kapital angetan wird und der es vorantreibt über die richtige Proportion mit beständigem Marche, marche! […] Begrifflich ist die Konkurrenz nichts als die innre Natur des Kapitals, seine wesentliche Bestimmung, erscheinend und realisiert als Wechselwirkung der vielen Kapitalien aufeinander, die innre Tendenz als äußerliche Notwendigkeit.[…] Kapital existiert und kann nur existieren als viele Kapitalien, und seine Selbstbestimmung erscheint daher als Wechselwirkung derselben aufeinander.“

[9„Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt. Es vermindert die Arbeitszeit daher in der Form der notwendigen, um sie zu vermehren in der Form der überflüssigen; setzt daher die überflüssige in wachsendem Maß als Bedingung — question de vie et de mort — für die notwendige.“ Marx, Grundrisse, S. 601-602.

[10In Bezug auf den laufenden Ukraine-Krieg hat Roland Simon beobachtet, wie sich die geopolitische Konfrontation zwischen Nationalstaaten aus den Widersprüchen in der globalen Reproduktion des kapitalistischen Klassenverhältnisses herauskristallisiert hat – eine Panne der kapitalistischen Restrukturierung seit den Krisen der 1970er Jahre – die besonders seit der Krise und der Rezession 2008 deutlich hervorgetreten ist. Siehe Roland Simon, „Ukraine 2022“, 2022; chilenische Genossen von Vamos Hacia La Vida haben ähnliche Schlüsse gezogen: „Was sie ‚geopolitische Neugestaltung‘ nennen, ist nichts anderes als der alte innerbürgerliche Streit, verschlimmert durch die tiefe Verwertungskrise, die uns seit 2008 heimsucht […] Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist eine direkte Folge dieser Krise, welche die Kapitale und ihre Staaten dazu zwingt, die schon klassischen Konflikte um Rohstoffe, Märkte und Territorien auszutragen, aber mit einem nie dagewesenem Ausmass zerstörerischer Kraft.“ Siehe Vamos Hacia La Vida, „Reflections on the ongoing capitalist butchery (Russia/Ukraine)“, 2022.

[11Wie Chuang es formuliert: „Vertraue nie jemandem, der von der Welt in rein geopolitischen Begriffen spricht, als ob es schlichtweg ‚Nationen‘ mit ‚Interessen‘ gäbe, die manchmal im Konflikt miteinander sind. Geopolitik ist ein Hologramm, das über die raue Realität der Wirtschaft projiziert ist und ihr weltumspannendes Gleichgewicht des Schreckens mit dem Melodrama politischer Anführer und öffentlicher Empfindung verschleiert.“ Siehe Chuang, „The Divided God: A Letter to Hong Kong“, 2020.

[12Vor kurzem haben Antithesi und Cognord die als staatliche Politik verzeichneten Widersprüche der kapitalistischen Reproduktion und die ungleichmässige und konfliktreiche Verwaltung der Pandemie eloquent behandelt. Ihre Kritik an der beunruhigenden Opposition gegen staatliche Massnahmen weist eine gewisse Ähnlichkeit mit der folgenden Analyse auf. In beiden Fällen haben linke und anarchistische Milieus Feindschaft gegenüber dem Staatsapparat in der einen oder anderen Form fetischisiert, aber scheitern daran, ihren historischen Inhalt zu erklären. Siehe Antithesi/Cognord, „Das Leugnen der Realität und die Realität des Leugnens“.

[14Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, 1967, These 141.

[15„Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce […] Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ Karl Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, 1852 in MEW, Bd. 8, 1972, S. 115.

[17Die „lange Krise“, der „lange Abschwung“ oder die „lange Depression“ beziehen sich auf die Periode der globalen wirtschaftlichen Restrukturierung nach der Ölkrise 1973, die jedoch mit einem Rückgang der Profitraten in der Produktion in den 1960er Jahren begann. Diese Ära war von einem allgemeinen Rückgang des Wirtschaftswachstums, Stagnation und Schweinezyklen, primär bezüglich der Preise von Finanzanlagen wie Immobilien, geprägt. Siehe Paul Mattick Jr., Business as Usual: The Economic Crisis and the Failure of Capitalism, Reaktion, 2011; Paul Mattick Jr., Theory as Critique: Essays on Capital, Haymarket, 2018; Robert Brenner, Boom & Bubble. Die USA in der Weltwirtschaft, VSA, 2002; Robert Brenner, The Economics of Global Turbulence: The Advanced Capitalist Economies from Long Boom to Long Downturn, 1945-2005, Verso, 2006; Endnotes, „Elend und Schulden. Zur Logik und Geschichte von Überschussbevölkerungen und überschüssigem Kapital“, 2010: Michael Roberts, The Long Depression: How It Happened, Why It Happened, and What Happens Next, Haymarket, 2016; Jonathan Levy, Ages of American Capitalism: A History of the United States, Random House, 2021.

[18Die Beschaffung und Verteilung von Lebensmitteln war eine wiederkehrende Besorgnis der Regierungsführung über das ganze lange 20. Jahrhundert hinweg. Siehe Susanne A. Wengle, Black Earth, White Bread: A Technopolitical History of Russian Agriculture and Food, University of Wisconsin Press, 2022.

[19Für eine Übersicht über diese Debatten, primär innerhalb der trotzkistischen Tradition und ihren Abtrünnigen, besonders der Johnson-Forest-Tendenz, siehe die Serie von Aufheben „What Was the USSR“. Siehe auch State Capitalism and World Revolution von C.L.R. James, Raya Dunayevskaya und Grace Lee.

[20Z.B. Ida Mett, The Kronstadt Uprising of 1921, 1948.

[21Théorie communiste, „Much Ado about Nothing“, 2008.

[22Endnotes, „A History of Separation“, 2015. Die anarchistische argentinische Zeitschrift Cuadernos de Negación hat eine Kritik der Arbeiterselbstverwaltung nach der jüngeren Geschichte der argentinischen Aufstände 2001 vorgelegt. Siehe Cuadernos de Negación, Nr. 12, „Critique of Self-Management“, siehe auch Gilles Dauvé und François Martin, Eclipse and Re-Emergence of the Communist Movement, PM Press, 2014 (1974).

[23Formelle Subsumtion, manchmal als formelle Herrschaft übersetzt, ist die Aneignung des Arbeitsprozesses durch das Kapital. Sie ist eine sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingung für die Produktion von Mehrwert durch die Ausweitung des Arbeitstages über die für die Reproduktion des Lebenserhalts des Arbeiters notwendige Arbeitszeit hinaus. Reelle Subsumtion, oder reelle Herrschaft, drückt die kontinuierlichen, die Arbeitsproduktivität steigernden technischen, technologischen und organisatorischen Revolutionen im Arbeitsprozess aus. Dies verweist auf die Produktion von relativem Mehrwert durch die Reduzierung der notwendigen Arbeitszeit, d.h. die Verringerung der Kosten für Lebensmittel. Formelle Subsumtion bleibt eine notwendige Bedingung für die Produktion von relativem Mehrwert, aber blosse Aneignung von Arbeit durch das Kapital ist nicht ausreichend. Wettbewerb zwischen individuellen Kapitalen garantiert eine inhärente Dynamik und Zielgerichtetheit der kapitalistischen Entwicklung. Er gibt ihr historische Form. Das ist es, was Marx als spezifisch kapitalistische Produktionsweise bezeichnete. Reelle Subsumtion beschreibt diesen Prozess des beständigen Werdens. Siehe Marx, Das Kapital, Bd.1 und besonders den Anhang „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“.

[24Ein früher und einflussreicher Theoretiker der französischen und italienischen Ultralinken, seit den späten 1970er Jahren ist Camatte zu einem ziemlich undurchsichtigen und esoterischen Denker geworden, dessen heutige Analyse anfällig ist für naturalistische Trugschlüsse, humanistischen Fetisch in umgekehrter Form und eine Berufung auf den Vitalismus. Dies ist in seinen jüngsten Mitteilungen zur Covid-Pandemie, Gattungsfeindschaft und Auslöschung, die Spuren von ahistorischem Negationismus enthalten, auf verstörende Art und Weise offensichtlich geworden.

[25Für eine Analyse und Kritik dieser Periodisierung sowie der unveröffentlichten „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“ von Marx, siehe Endnotes, „The History of Subsumtion“. Die Lesart Camattes enthält Spuren von Debords Theorie des Kapitals als Spektakel. Mit der reellen Subsumtion wird das Kapital autonom, es wird zu einer materiellen Gemeinschaft, die alle unmittelbaren menschlichen Beziehungen ersetzt und ihre eigene Form der Vermittlung aufzwingt. Siehe Jacques Camatte, Capital and Community: The Results of the Immediate Process of Production and the Economic Work of Marx, 1976; Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, 1967.

[26Daher Marx‘ Kapitel zur Produktion des absoluten und relativen Mehrwerts und zum Verhältnis der beiden und das Fehlen der „Resultate“ in der finalen Überarbeitung des Kapital.

[27Chris Arthur, The New Dialectic and Marx’s Capital, Brill, 2003. Siehe auch Endnotes, „The Moving Contradiction: The Systematic Dialectic of Capital as Dialectic of Class Struggle“, 2010.

[28Siehe Endnotes, „A History of Separation: The Construction of the Workers‘ Movement“, 2015; Teodor Shanin, „Late Marx and the Russian Road: Marx and the ‚Peripheries of Capitalism‘“, Monthly Review Press, 1983.

[29Chuang benutzte zuerst die Bezeichnungsweise „sozialistisches Entwicklungsregime“, um den industriellen Übergang in China nach der kommunistischen Revolution zu beschreiben. Siehe „Sorghum & Steel: The Socialist Developmental Regime and the Forging of China“. Chuang bemerkt allerdings sowohl bedeutende Parallelen als auch Unterschiede zwischen dem russischen und dem chinesischen Entwicklungsregime und gibt acht, letzteres nicht auf die polemischen Darstellungen des ersteren zu reduzieren.

[30Für eine gründlichere Ausarbeitung dieser theoretischen und historischen Debatte, siehe Aufheben, „Russia as a Non-Mode of Production“ und „Towards a Theory of the Deformation of Value“ in „What Was the USSR“, op. cit.

[31Wengle, op. cit.

[32Ebd., S. 62.

[33Ebd., S. 38-48.

[34Ebd.

[35Ebd., S. 48-50.

[36Ebd., S. 38-62.

[37Michael Roberts, 2017, „The Russion Revolution: Some Economic Notes“, 2017.

[38Fleischman liefert eine gründliche Darstellung der landwirtschaftlichen und industriellen Revolution in der Sowjetunion und im Ostblock als Antwort auf die Energie-, Ernährungs- und Finanzkrise der 1970er Jahre. Siehe Thomas Fleischman, Communist Pigs: An Animal History of East Germany’s Rise and Fall, University of Washington Press, 2020.

[39Wengle, op. cit., S. 52-54.

[40Ebd., S. 63.

[41Für eine detaillierte Geschichte, siehe James Trager, Amber Waves of Grain: The Secret Russian Wheat Sales That Sent American Food Prices Soaring, Arthur Field Books, 1973. Siehe auch Harry Cleaver, „Food, Famine and the International Crisis“ in Zerowork, Nr. 2(1), S. 70; Wengle, op. cit., S. 63-64.

[42Wengle, op. cit., S. 63-64.

[43Das wird weiter unten detaillierter untersucht.

[44Fleischman, op. cit.

[45Wengle, op. cit., S. 54.

[46Fleischman, op. cit.

[47Wengle, op. cit., S. 64-69.

[50Die Ostasienkrise hat selbst vorausgehende Ursprünge und Vorbedingungen. Um die inflationäre Periode der 1970er Jahre zu unterbrechen, erhöhte die Fed unter Paul Volcker die Zinssätze und wertete den US-Dollar auf. Obwohl sie erfolgreich war, war das Nebenprodukt der Aufwertung, dass die US-amerikanische Produktion international weniger kompetitiv war, besonders im Verhältnis zu den aufsteigenden wirtschaftlichen Bedrohungen Japan und Deutschland. Die USA, Japan, Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich unterzeichneten 1985 das Plaza-Abkommen, das zum Ziel hatte, den US-Dollar im Verhältnis zu den Währungen dieser Länder abzuwerten, was den US-amerikanischen Firmen neuen Schwung verschaffte. In Japan führte die relative Aufwertung des Yen zu vermehrter Spekulation und einer Immobilienblase. Als die Blase platzte, trat die japanische Wirtschaft in die Stagnation ein und begann ihre „verlorene Dekade“. Nachdem sich die USA, Deutschland und Japan 1995 auf ein „umgekehrtes Plaza-Abkommen“ einigten, um diesen Druck zu verringern, senkte Japan seinen Zinssatz für kurzfristige Anleihen, um Kreditgewährung, Ausgabeverhalten und Investitionen anzuregen. Diese tiefen Zinssätze führten zu einem globalen Anstieg von Anleihen in Yen. Dies erlaubte es Japan, die finanzielle Vorherrschaft über aufstrebende Regionen in Ost- und Südostasien zu erlangen, wodurch die Investitionen in den exportorientierten Niedriglohnsektor zunahmen. Yen floss in Geld- und Kapitalmärkte und ins Transportgewerbe. Während der ersten Hälfte der 1990er Jahre war der Ostasien-Boom ein dynamischer Glücksfall für das globale Kapital. Ab 1997 verwandelte er sich in eine Finanzkrise mit globalen Auswirkungen. Die Krise begann in Thailand. Der thailändische Baht war an den Dollar gekoppelt gewesen, um Vertrauen für ausländische Investitionen zu schaffen, doch das umgekehrte Plaza-Abkommen, das den US-Dollar stärkte, untergrub die Wettbewerbsfähigkeit der Produktion. Dies schürte Befürchtungen, dass Thailand womöglich seine Währung abwerten könnte, deshalb kauften Spekulanten thailändischen Baht, was Thailand dazu zwang, den Baht vom US-Dollar zu entkoppeln und den Baht in offenen Märkten in Umlauf zu setzen. Thailändische Aktien fielen zusammen mit der Produktion und der Beschäftigung. Das dehnte sich auf die ganze Lieferkette aus.

[51Da Japan die vorherrschende Volkswirtschaft in der Region war, hatten andere asiatische Länder in der Regel ein Handelsdefizit mit Japan. Asiatische Produzenten machten auch Anleihen in Yen, um die Produktion und die Ausweitung des Handels zu finanzieren. Als erste Fremdwährung für Anleihen verlor der Yen, als die Lieferkette in der Produktion von der Krise unterbrochen wurde, an Wert, konnte sich jedoch schnell erholen.

[52Es ist berühmt und berüchtigt, dass das wiederum zum Kollaps des Hedgefonds Long-Term Capital Management (LTCM) führte. Die von LTCM verwalteten Wertpapiere basierten auf dem „Black-Scholes-Modell“, das Liquidität basierend auf historischen Daten voraussetzte. Da LTCM grosse Mengen von russischen Schuldpapieren enthielt, war die Kettenreaktion gleichbedeutend mit Insolvenz. Für eine detaillierte Darstellung von LTCM, Finanzmodellen und der russischen Schuldenkrise, siehe Donald MacKenzie, An Engine, Not a Camera: How Financial Models Shape Markets, MIT Press, 2008.

[53Für eine ausführlichere Darstellung dieser Geschichte, siehe Giovanni Arrighi, The Long Twentieth Century: Money, Power, and the Origins of Our Times, Verso, 1994; Brenner, Boom & Bubble, Die USA in der Weltwirtschaft, op. cit.; Brenner, The Economics of Global Turbulence, op. cit.; Robert Brenner, „What Is Good for Goldman Sachs Is Good for America: The Origins of the Present Crisis“, 2009; Mattick, Business as Usual, op. cit.; Levy, op. cit.

[54Siehe Aris, op. cit.

[55Wengle, op. cit., S. 69.

[57In den meisten Berichten beginnt diese Sequenz der Platzbesetzungen in Tunesien, bevor sie sich in den weiteren Arabischen Frühling im Mittleren Osten und Nordafrika ausbreitet. Die Krawalle 2008, ausgelöst durch die Erschiessung von Alexandros Grigoropoulos durch die Polizei, erschütterten jedoch Griechenland in der Zeit nach der grossen Rezession, einem wirtschaftlichem und sozialem Malaise und einer steigenden Jugendarbeitslosigkeit. Etwas mehr als ein Jahr später breiteten sich Krawalle auf der anderen Seite der Welt in Oakland, Kalifornien, als Antwort auf die Tötung von Oscar Grant, ein junger schwarzer Mann, durch die Polizei aus, es war der Auftakt einer kommenden Welle schwarzer Revolten. Der Tanz der Krawalle, Konfrontationen mit der Polizei, Blockaden und Platzbesetzungen wird den Kampfzyklen dieser Periode eine Form geben. Andere Knotenpunkte dieser Sequenz sind u.a.: die Bewegung der Empörten und gegen die Sparpolitik in Europa und in Mexiko, indigene Aufstände gegen den wirtschaftlichen Entwicklungsplan der „rosa Welle“ in Bolivien und Ecuador, die Occupy-Bewegung in den USA, Idle No More und indigene Blockaden von Energieinfrastruktur in Kanada und später die „Frühlinge“ in Brasilien und Bosnien und Herzegowina und die Gezi-Park-Bewegung in der Türkei.

[58Michael Roberts, „Ukraine: Trapped in a War Zone“, 2022.

[61Roberts, „Ukraine: Trapped in a War Zone“, op. cit.

[63Ebd.

[64Siehe Endnotes, „The Holding Pattern“, op. cit.

[65„Die Maidan-Proteste in der Ukraine, angezettelt von pro-europäischen Liberalen und Nationalisten, verwandelten sich in Lager von besitzlosen Arbeitern.“ Zu dieser Dynamik, siehe Endnotes, „Brown v Ferguson“, 2015.

[66Siehe Crimethinc, „Between Two Fires“, op. cit.

[67Für eine kritischere Einschätzung des Winteraufstands und der Grenzen des „Antifaschismus“, siehe Liaisons, „A Very Long Winter“, 2014; für eine breite soziologische Untersuchung und eine historische Analyse der ukrainischen Linken und ihrer Grenzen vor und nach dem Maidan, siehe Volodymyr Ishchenko, „The Ukrainian Left during and after the Maidan Protests“, 2016. Ishchenko argumentiert, dass nach dem Euromaidan „die wichtigste Lehre, die aus der Krise der Ukraine gezogen werden kann, ist, wie einfach die Linke von den Dynamiken konkurrierender imperialistischer und nationalistischer Lager genau in dem Moment überholt werden kann, wo eine linke Alternative zu beiden davon notwendig ist“ (S. 94).

[68Camatte, Capital and Community, op. cit.

[69Für eine breitere historische Kritik des Antifaschismus und der Demokratie, siehe Gilles Dauvé, „1917-1937: Wenn die Aufstände sterben“; siehe auch Vamos Hacia la Vida, „Reflections on the Ongoing Capitalist Butchery (Russia/Ukraine)“, op. cit.

[70TC wendet dieses Argument ausdrücklich auf die griechischen Ausschreitungen im Dezember 2009 an. Siehe Théorie communiste, „The Glass Floor“, 2009.

[71Siehe Wengle, op. cit., S. 69-80.

[72Ebd., S. 113-129.

[73Ebd., S. 110-115.

[74Roland Simon hat jüngst argumentiert, dass Russlands Renten extrahierende Aktivitäten in seinen Territorien, Grenzregionen und den ehemaligen Sowjetrepubliken und Ostblockländern auf den Zerfall der Zwickmühle des Kapitals hinweist: Die Kapitalverwertung ist von der Reproduktion der Arbeitskraft entkoppelt worden. Siehe Simon, „Ukraine 2022“, op. cit. Jüngste Wellen der Revolten an diesen Rohstoffgrenzen (z.B. Kasachstan) haben die Unfähigkeit des Staates gezeigt, die Krise zu verwalten oder eine Lösung zu finden.

[75„Regierungsbeamte stellten sogar die Idee eines globalen Getreidekartells nach dem Vorbild der OPEC in den Raum. Diese Vision war nie verwirklicht worden, da sie auf einer engen Kooperation mit der Ukraine gründete.“ Wengle, op. cit., S. 72.

[76Michael Roberts, „Russia: From Sanctions to Slump?“, 2022.

[78Roberts, „Ukraine: Trapped in a War Zone“, op. cit.

[80Nelson, „Wheat and Deep Ports“, op. cit.

[81Ebd.

[85Wie Chuang betont hat, sind solche Krisen nicht selbst exogen, obwohl sie als äusserer Schock für den kapitalistischen Zyklus der Reproduktion erscheinen. Siehe Chuang, „Soziale Ansteckung. Mikrobiologischer Klassenkampf in China“, 2020.

[86Für einen Überblick über die politisch-ökonomischen Vorbedingungen des Krieges und seine negative Auswirkung, siehe Michael Roberts, „Ukraine: The Economic Consequences of the War“, 2022.

[87Für eine historische Analyse von Inflation und Krisen, siehe Paul Mattick jr., „Sticker Shock“, 2022 und Michael Roberts, „The War on Inflation“, 2022; Michael Roberts und Guglielmo Carchedi haben versucht, eine auf der Marxschen Werttheorie basierende Inflationstheorie zu entwickeln. Ein grosser Teil der ökonometrischen Daten von Roberts und Carchedi sind nützlich, doch wenn sie versuchen, sie in Begriffen der marxistischen Werttheorie zu formulieren, verschmelzen sie unsachgemäss empirische Daten mit Marx‘ eigenen Kategorien. Sie beachten nicht, dass Werttheorie eine historiographische und soziale Analytik und eine Form der Kritik ist, nicht ein einfacher Messwert für wirtschaftliche Phänomene. Deshalb sollte ihre Analyse immer mit Vorbehalt genutzt werden. Siehe Michael Roberts, „A Marxist Theory of Inflation“, 2020.

[88Für eine politisch-ökonomische Geschichte der Öl produzierenden Regionen und „Rentierstaaten“ im Schema der kapitalistischen Reproduktion, siehe Timothy Mitchell, Carbon Democracy: Political Power in the Age of Oil, Verso, 2011. Für eine Analyse der Ölkrise 1973 im weiteren Kontext des Kampfes, siehe Aufheben, „Behind the 21st Century Intifada“, 2002.

[89Für eine Analyse der grossen Resignation innerhalb des jüngsten Kampfzyklus mit einem besonderen Fokus auf die USA und den George-Floyd-Aufstand, siehe Your Lazy Comrades, „The Interregnum: The George Floyd Uprising, the Coronavirus Pandemic, and the Emerging Social Revolution“, 2022. Siehe auch Chusma Chusma, „Specter of Time & Work Abolition: Thoughts on the Great Resignation“, 2022; Gabriel Winant, „Strike Wave“, 2021; Jason Smith, „Striketober and Labor‘s Long Downturn“, 2021.

[90Siehe Tooze, „Putin‘s Challenge“, op. cit.

[96James Politi, Myles McCormick, Jim Pickard, Andy Bounds, „US and UK Ban Russian Oil and Gas Imports in Drive to Punish Putin“, 2022.

[97Zur scheinbaren Widerspenstigkeit der „China-Frage“ in der politischen Berechnung, siehe Chuang, „China FAQ: Series Introduction“, 2022.

[98Chuang, „The Divided God“, op. cit.

[100Mrugank Bhusari, Maia Nikoladze, „Russia and China: Partners in Dedollarization“, 2022.

[101Gelderloos macht diesen Fehler wiederholt, er gründet seine Behauptungen auf einem oberflächlichen Verständnis der politischen Ökonomie und hochtrabenden Interpretation einer niedergehenden US-amerikanischen Hegemonie. Siehe Gelderloos, „The Invasion of Ukraine“, op. cit.

[104Ebd.

[106Phillip Neel, Global China, Global Crisis: Falling Profitability, Rising Capital Exports and the Formation of New Territorial Industrial Complexes, Doktorarbeit, University of Washington, 2021; Chuang, „Measuring the Profitability of Chinese Industry: Data Brief“, 2020.

[107Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3 in MEW, Bd. 25, 1983, S. 260: „Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind. Die Schranken, in denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts, die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Produzenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinem Zweck anwenden muß und die auf unbeschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern. Das Mittel – unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte – gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandnen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen.“

[112Tooze, „Russia’s $720m“, op. cit.

[113Tom Mitchell, Demetri Sevastopulo, Sun Yu, James Kynge, „The Rising Costs of China’s Friendship with Russia“, 2022.

[118Der Dollar ist immer noch vorherrschend für internationale Zahlungen und Fiatwährungsreserven, doch das weist eher auf eine Fragmentierung des globalen Kapitalismus als auf eine definitive imperiale Hegemonie hin. Michael Roberts, „The Relative Decline of US Imperialism“, 2021 und Michael Roberts, „The End of Dollar Dominance?“, 2022.

[119Das ist freilich eine trügerische Behauptung. Siehe weiter oben.

[120„Russland schielt auf chinesische Finanzbastelei, um den Geldfluss aufrechtzuerhalten“; Bhusari und Nikoladze, „Russia and China: Partners in Dedollarization“, op. cit.

[124Roberts, „Russia: From Sanctions to Slump?“, op. cit.

[126Tooze, „Russia’s Financial Meltdown“, op. cit.

[127Roberts, „The End of Dollar Dominance?“, op. cit.

[129K Oanh Ha, Ann Koh, Devika Krishna Kumar, Verity Ratcliffe, „War in Ukraine Puts Shipping’s Recovery in Jeopardy“, 2022.

[130Tooze, „Russia’s Financial Meltdown“, op. cit.

[136Marx nannte diese Tendenz hin zur Verelendung und einer wachsenden überschüssigen Bevölkerung „Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“. Siehe Marx, Das Kapital, Bd. 1, op. cit., S. 673-675: „Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. […] Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol [...]“

[137Die wachsenden relativen überschüssigen Bevölkerungen sind ein weiteres Resultat der weiter oben besprochenen „späten Übergänge“. Dies ist seit dem Beginn der langen Krise besonders akut gewesen.

[138Corinne Deléchat, Leandro Medina, „What Is the Informal Economy?“, 2020.

[139Michael Denning, „Wageless Life“ in New Left Review, Nr. 66, 2010, S. 79-97.

[140Für eine detaillierte Erklärung des Widerspruchs zwischen steigender landwirtschaftlicher Produktivität und steigendem Hunger und steigender Ernährungsunsicherheit, siehe Nathan Eisenberg, „Hunger Regime“, 2022; siehe auch Cleaver, „Food, Famine, and International Crisis“, op. cit.

[141Für eine gute Übersicht im Kontext der Klimakrise, siehe Prole Wave, „Prole Wave: Climate Change, Circulation Struggles & the Communist Horizon“, 2019.

[148Asef Bayat, „Plebeians of the Arab Spring“ in Current Anthropology, Nr. 56 (11), S. 33-43. Für eine Analyse des Verhältnisses zwischen der Erbärmlichkeit der Armen und der Konstitution von „Nicht-Bewegungen“ zeitgenössischer Revolte, siehe Asef Bayat, Leben als Politik. Wie ganz normale Leute den Nahen Osten verändern, Assoziation A, 2012 (2010); Asef Bayat, Revolution without Revolutionaries: Making Sense of the Arab Spring, Stanford University Press, 2017.

[149Der UNO-Generalsekretär António Guterres hat besonders unterstrichen, dass „Getreidepreise schon höher sind als vor dem Beginn des Arabischen Frühlings und den Hungerkrawallen 2007-2008“. Siehe Matthew Hatcher, „Russia’s War on Ukraine Risks ‚Meltdown of Global Food System‘, UN Chief Says“, 2022.

[150Die Brotkrawalle oder „Brotintifada“ 1977 brachen in den grossen Städten Ägyptens aus, nachdem auf Anordnung des IWF und der Weltbank die grundlegenden Subventionen für Nahrungsmittel gestrichen worden waren. Als Antwort führte die ägyptische Regierung einen fixen Brotpreis ein, um die Unruhen einzudämmen. Ägypten ist als weltweit grösster Getreideimporteur der globalen Marktvolatilität sehr stark ausgesetzt, besonders nach seiner finanziellen Integration durch die Strukturanpassungsprogramme. In der Folge des aktuellen Ukraine-Krieges hat die Regierung zum ersten Mal seit der „Brotintifada“ wieder fixe Brotpreise eingeführt, da Ägypter weiterhin rekordhohe Inflationsniveaus inmitten einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen in der Geschichte des Landes erdulden müssen. Eine weitere Intifada könnte womöglich unter dem Hunger und dem Elend des alltäglichen Lebens am Reifen sein. Siehe Nihal El Aasar, „‚Bread, Freedom, Social Justice‘: How Egypt’s Economic Crisis Could Trigger Unrest“, 2022.

[152„Truckers in Argentina End Protest that Threatened Grains Transport“, 2022; Santiago Guillen, Alex Lantier, „Spanish Truckers Mount Nationwide Strike against Rising Fuel Prices“, 2022; Alonso Soto, „Spanish Truckers Disrupt Food Supplies to Protest Fuel Prices“, 2022; „Albanian Protesters Blame Government for Price Hikes“, 2022; Bamo Nouri, „Iraq Food Protests against Spiralling Prices Echo Early Stages of the Arab Spring“, 2022; Deutsche Welle, „A New Arab Spring, Thanks to the Ukraine War?“, 2022; „Drivers Protest against Fuel Price Hikes“, 2022; „Rising Fuel Prices Spark Unrest in Parts of Europe“, 2022; „Panamanian Trade Unions Protest Against Fuels & Food Price Rise“, 2022; „Indonesian Police Fire Tear Gas as Students Protest against Rumoured Delay of 2024 Election“, 2022; „Workers Struggles: Europe, Middle East & Africa“, 2022; Costas Kantouris, Derek Gatopoulos, „Greek Farm Protests Are a Sign of Europe’s Inflation Anxiety“, 2022; Simon Marks, „Ukraine War Combines With Coup to Leave Half of Sudan Hungry“, 2022; Antony Sguazzin, Gordon Bell, „Next Africa: The Continent Pays the Price of a European War“, 2022; Geoffrey York, „Higher Food Prices Caused by Ukraine War Spark Protests, Instability in some Countries“, 2022; Julia Horowitz, „From Pakistan to Peru, Soaring Food and Fuel Prices Are Tipping Countries over the Edge“, 2022; David J. Lynch, „Tunisia among Countries Seeing Major Economic Consequences from War in Ukraine“, 2022.

[160Bezüglich der frühen Verwaltung der Pandemie schreibt Chuang: „Das bedeutet zweierlei: einmal zeigt es die Schwäche unterhalb der harten Kanten der Staatsmacht, und zweitens ist es eine Warnung vor unkoordiniertem und irrationalen Verhalten vor Ort, wenn die Staatsmacht überfordert ist.“ Siehe Chuang, „Soziale Ansteckung“, op. cit.

[161Dies machen die jüngsten sogenannten „Freiheitskonvois“ augenscheinlich.

[162Die hier betonte Tendenz ist bei den Strömungen der mit dem „Unsichtbaren Komitee“ assoziierten oder von ihm beeinflussten Strömungen der „Ultralinken“ auf misstönende Art und Weise allgegenwärtig geworden. In der englischsprachigen Welt ist dies vermutlich in den Publikationen von Ill Will Editions am besten repräsentiert. Z.B. Adrian Wohlleben, „Memes ohne Ende“, 2021.

[163Siehe Roufos, „Solidarity with Ukraine“, op. cit.

[164Liaisons, „A Very Long Winter“, op. cit.; siehe auch Lev Golinkin, „Neo-Nazis and the Far Right Are On the March in Ukraine“, 2019.

[165Siehe Endnotes, „The Construction of the Workers’ Movement“, op. cit.

[166Liaisons, „A Very Long Winter“, op. cit.; Praleski, „Addressing Russian Propaganda“; Golinkin, „Neo-Nazis“, op. cit.

[168UNHCR, „Refugees Fleeing Ukraine (since 24 February 2022)“, 2022. Es sollte betont werden, dass hier die über sieben Millionen Binnenflüchtlinge in der Ukraine nicht miteingeschlossen sind.

[170Für eine Erklärung dieses Prozesses, siehe Endnotes, „Crisis in the Class Relation“, 2010.

[172„Die davon unter radikalen Sektoren ausgelöste Verwirrung kann nicht übersehen werden und in Anbetracht dessen ist es notwendig, die revolutionären Prinzipien zu verteidigen, indem man auf das Wesen des Krieges im gegenwärtigen Kontext und den gesellschaftlichen Zerfall in dieser geographischen Zone seit dem Fall der UdSSR hinweist.“ Siehe Vamos Hacia la Vida, „Reflections on the Ongoing Capitalist Butchery (Russia/Ukraine)“, op. cit.; siehe auch Simon, „Ukraine 2022“, op. cit.

[174Es gab einige Berichte über Brandstiftung und Sabotage gegen militärische Rekrutierungszentren in Russland. Siehe „The End of Peaceful Protest“, 2022; siehe auch diesen jüngsten Bericht über Brandstiftung gegen Fahrzeuge des Föderalen Dienstes für Sicherheit der Russischen Föderation: „Russia: Military Cars on Fire“, 2022.

[175Anna Jikhareva, „Sanktionen von unten“, 2022.

[176Siehe Andrew, „Ukraine-Korrespondenzen“, Teil 1 und 2 und Teil 3, 2022; Vamos Hacia la Vida, „Reflections on the Ongoing Capitalist Butchery (Russia/Ukraine)“, op. cit.

[179Es sollte betont werden, dass dieser Antagonismus zutiefst asymmetrisch und durch die materiellen Geschichten von rassischen Regimen der Extraktion von Mehrarbeit und Wertproduktion geprägt ist. Wie es mit Nachdruck von Cedric Robinson ausgedrückt wurde: „Die Entwicklung, Organisation und Expansion der kapitalistischen Gesellschaft verfolgte im Wesentlichen rassische Richtungen und das Gleiche gilt für die gesellschaftliche Ideologie. Somit konnte damit gerechnet werden, dass der Rassialismus als materielle Kraft zwangsläufig die aus dem Kapitalismus entstehenden gesellschaftlichen Strukturen durchdringen würde.“ Cedric Robinson, Black Marxism: The Making of the Black Radical Tradition, University of North Carolina Press, 2000, S. 9. Rassialisierung ist die Konkretisierung der abstrakten Reproduktion des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit. Siehe Stuart Hall (et. al.), Policing the Crisis: Mugging, the State, and Law and Order, MacMillian Press, 1978, S. 394-395: „Rasse ist die Modalität, in der Klasse gelebt wird […] Das Kapital reproduziert die Klasse als Ganzes, strukturiert durch Rasse. Es dominiert die geteilte Klasse teilweise durch jene inneren Trennungen, die ‚Rassismus‘ als eine ihrer Auswirkungen haben. Es grenzt die repräsentativen Klassenorganisationen ein und schaltet sie aus, indem sie sie teilweise auf Strategien und Kämpfe begrenzt, die rassenspezifisch sind, die ihre Grenzen, ihre Schranken nicht überwinden. Durch Rasse vereitelt sie kontinuierlich die Versuche, auf politischer Ebene politische Organisationen aufzubauen, die tatsächlich die Klasse als Ganzes repräsentieren – d.h., die sie gegen Kapitalismus, gegen Rassismus repräsentiert.“
Siehe auch: „Rassismus […] ist die vom Staat sanktionierte und/oder extralegale Hervorbringung und Ausnutzung nach Gruppen differenzierter Anfälligkeit für vorzeitigen Tod.“ Ruth Wilson Gilmore, Golden Gulag: Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California, University of California Press, 2007; „Racial Capitalism and Prison Abolition Zine“.

[180Dauvé, „Wenn die Aufstände sterben“, op. cit.