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Istanbul: Die Bewegung ist schwach, die Repression stark (18. Juni)

Mittwoch 19. Juni 2013

Der Genosse in Istanbul hat uns einen weiteren Text zugesendet.

Man weiss seit langem, dass nichts einem Kampf fremder ist als sein eigenes Ende. Doch wenn man einen Haufen Trottel sieht, die versuchen, weiter zu protestieren, indem sie sich in schweigende Statuen verwandeln (die manchmal ein Smartphone in der Hand halten), stellt man fest, inwiefern die ganze Sache buchstäblich versteinernd ist.

Es scheint, als ob die Konfrontationen und die nächtlichen Demonstrationen am Wochenende den Ehrenkampf der Bewegung darstellten. Die Expansion, welche der einzige Weg gewesen wäre, um weiterzugehen, hat nicht stattgefunden.

In den letzten Tagen hat die Macht die Zähne gezeigt. Nachdem sie während der Räumung Samstag vorsätzlich ein sehr hohes Niveau an Gewalt an den Tag gelegt hat (Gas im Wasserwerfer, Menschenjagd, Angriff des Hotels, welches als Spital benutzt wurde...), hat sie das Aufgebot der Polizei- und Gendarmerieeinheiten aus Kurdistan in Istanbul angekündigt. Am Sonntag waren alle Strassen aller Quartiere rund um den Taksimplatz voll von Bullen, welche alle Gruppen zerstreuten, welche sich formierten und die Konfrontation suchten. Viele Zivilbullen, viele Verhaftungen (600 gemäss mehreren Quellen), erneut viele Verletzte. Pro-AKP-Gruppen formierten sich, schüchterten die Demonstranten ein, ein Molotov wurde auf Demonstranten geworfen (von einem Schiff zum anderen). Der Gouverneur von Istanbul drohte, die Armee aufzubieten, Erdogan sagte den Demonstranten: Ihr habt dieses und jenes Quartier hinter euch, doch wir das, dieses und jenes Quartier hinter uns. Die Atmosphäre ist geprägt von der drohenden Rückkehr der dunklen Jahre, der Aussetzung der demokratischen Bräuche. Die Macht spielt mit der Angst vor dem Bürgerkrieg, obwohl die Situation weit davon entfernt ist, aufständisch zu sein. Man kann annehmen, dass das vielen Angst macht in Anbetracht der gesellschaftlichen Zusammensetzung der Bewegung – Leute, welche faktisch vom Rechtsstaat beschützt werden.

Am Montag Streik und Demo, zu welcher mehrere linke Gewerkschaften aufgerufen haben, vor allem im öffentlichen Dienst. Der Streik wird kaum befolgt, die Gewerkschaften entscheiden sich, die wenig massiven Demozüge aufzulösen, sobald sie von den Bullen blockiert werden. Die Gewerkschaften haben klar kaum mobilisiert, diese Bewegung passt nicht wirklich in ihre politische Agenda. Sie neigen nicht zu einem Kräftemessen mit der Regierung und werden von der Basis nicht dazu gezwungen. Die politischen Kräfte der Opposition bocken, sie stellen ihre Schwäche zur Schau, sie haben nie gewusst, wie sie aus der Bewegung Profit schlagen können. Sie suchen keinen unmittelbaren Sieg – das ist wohl umso besser, doch sie schafften es trotzdem, die Konfrontationsdynamik zu schwächen, weil die Bewegung nie versuchte, sie auszuschliessen.

Dienstagmorgen, Razzia bei linksradikalen Organisationen, welche von der Macht als terroristisch bezeichnet werden und sie kündigt an, Leute zu lebenslangen Haftstrafen zu verurteilen. Der Chef der Ultras Çarsi wird ebenfalls verhaftet. Das ist wohl noch nicht das Ende.

Die Repression weiss sich ihre Ziele auszusuchen. Wir sprachen im vorherigen Text („Bericht und bruchstückhafte Analyse der Situation in Istanbul“) von der doppelten Zusammensetzung der Bewegung: Einerseits die mehr oder weniger autonomisierten Aktivisten der linksradikalen Bewegung (Maoisten, Trotzkisten, Kurden), welchen sich die im Strassenkampf erfahrenen „anarchistischen“ Ultras angeschlossen haben; andererseits die europäische Mittelklasse der Stadt. Diese beiden Komponenten haben sich mit ziemlich klar verschiedenen Modalitäten eingebracht; und nun vertieft die Repression den Graben zwischen ihnen. Die erste Komponente wurde hart getroffen und wird weiterhin angegriffen werden. Sicher, alle haben Gas geatmet und die Verhaftungen waren massiv und gingen über den harten Kern der Aktivisten und der „Gewalttätigen“ hinaus, doch für die meisten war der Polizeigewahrsam kurz und folgenlos. Die Behandlung ist klar anders, vor allem seit einer Woche und die Bewegung verteidigt sich kaum.

Es sind noch viele Spuren der Bewegung vorhanden: In den Quartieren der westlichen Mittelklasse werden weiterhin Parolen gerufen, es wird gepfiffen und auf zu fixen Zeiten auf Kochtöpfe gehämmert und von nun an verbreitet sich auch diese bescheuerte Sache der Versteinerung. Doch es ist ein toter Protest, der jegliches reales Kräfteverhältnisses entbehrt und der mehr denn je von der besonderen sozialen und kulturellen Identität der kemalistischen Bourgeoisie geprägt ist. Faktisch hat die Gesamtheit dieses Teils der Bevölkerung die Bewegung unterstützt, weil sie begreiflicherweise gegen die AKP ist. Dieser Teil hat auch teilgenommen, er war präsent, doch eine gewisse Dimension der Bestätigung der Existenz als gesellschaftliche Elite eines Landes, welches sie als „ihr“ Land betrachten und von einer Regierung bedroht ist, die sie ablehnen, spielte ebenfalls mit. Die Unterscheidung zwischen Kampfaktivität und demonstrative Unterstützung war häufig unscharf – untergegangen in einem Masseneffekt, welcher als Träger des Kräfteverhältnisses vorgesehen war.

Diese Kampfaktivität war selbst beschränkt. Versammlungen, Besetzungen, Blockaden gab es nicht. Sicher, der Park war während der ganzen Dauer des Kampfes ein „befreiter Raum“ und der Ausschluss der Polizei aus dem Perimeter machte daraus einen Ort des Austauschs, der Wiederaneignung der Zeit und des Raums, der Ausarbeitung gewisser Ausdruckspraktiken und gemeinsamer Verteidigung – und diese Besetzung führte zu einer faktischen Blockade, wenn es auch nicht ihr eigentliches Ziel war. Eine kollektive Kraft war sicher präsent; sie führte zu Euphorie sogar unter den abgehärtesten Aktivisten – und von aussen gesehen, hatte man den Eindruck, etwas unglaublich grosses zu beobachten. Die Reaktion auf die Räumung Samstagabend (spontane nächtliche Demos in der ganzen Stadt mit Blockaden von gewissen Achsen) hat sogar die Möglichkeit eines Aufbruchs des Konfrontationsraums erkennen lassen. Doch die Unfähigkeit der Bewegung, sich andere Perspektiven zu geben – welche die Entwicklung einer Konfrontation innerhalb der Bewegung selbst vorausgesetzt hätten – führte zu ihrer progressiven Schrumpfung, welches die Macht als heftige Niederschlagung in Szene setzen wollte – aus Gründen, die nur sie kennt.

Die Barrikaden sind nun weggeräumt und der Park wird nun von Kohorten von Bullen bewacht. Zivilbullen geistern in der Zone herum; sie zeigen sich; sie kontrollieren. Während vor einigen Tagen noch die Hälfte der Leute, welche man im Sektor antraf, offen mit Bauhelmen, Schutzbrillen und Gasmasken herumspazierten, ist es nun nicht mehr vorteilhaft, dass derartiges Material während einer unerwarteten Durchsuchung entdeckt wird.

Die Pfeifkonzerte zu fixen Zeitpunkten in den „laizistischen“ Quartieren können den Prozess der Normalisierung nur schlecht verbergen; die in Statuen verwandelten Leute machen das Ende der Bewegung eklatant. Vielleicht schwächt die Bewegung die gegenwärtige Macht politisch; vielleicht wird sie ihr bei den Wahlen einige Stimmen kosten. Dann wird kemalistische Bourgeoisie mit Nostalgie an dieses „Aufwachen“ zurückdenken, welches ihr Wiederauftauchen auf der politischen Bühne geprägt haben wird.

Vielleicht werden auch viele von dieser Bewegung gelernt haben, dass die Kräftelinien in der türkischen Gesellschaft sich verändert haben, dass ein Geist des Protests sich in der Jugend verbreitet hat. Es ist zu früh, um all das zu beurteilen – doch das Ende einer Bewegung enthält nur selten die Stärke der nächsten. Im Moment spüren jene, welche die Repression erdulden, – und sich von nun an ihr gegenüber als andere Fraktion der Bewegung organisieren müssen – nur allzu gut, was der Sieg des Staates bedeutet.

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net

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